# taz.de -- Wissenschaftlerin über Pädophiliedebatte: „Jede Zeit hat ihre b… | |
> Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker über die aktuelle | |
> Aufarbeitungswut, vergangene Debatten und neue Tabuzonen. | |
Bild: „Debatte mit Tunnelblick“ – oder vielleicht einfach nur Wahlkampf? … | |
taz: Frau Becker, Sie sagen, die Berichte über „pädophile Verstrickungen“ | |
der Linken und Grünen in den 70ern und 80ern hätten Sie „geärgert“. Waru… | |
Sophinette Becker: Zum einen ärgert mich, wie ein Diskurs mit einer Praxis | |
gleichgesetzt wird. Zum anderen, wie dekontextualisiert argumentiert wird: | |
Dem damaligen Diskurs der sexuellen Befreiung werden die Bedeutungen des | |
heutigen Diskurses unterstellt. So heißt es, man habe damals Pädosexualität | |
gut gefunden und sexuellen Missbrauch verherrlicht. Kein Mensch hat damals | |
diese Worte benutzt. Diese Debatten fanden erst in den 80er Jahren statt. | |
In den 60er und 70er Jahren ging es um sexuelle Befreiung, die als Mittel | |
der Befreiung von Herrschaft überhaupt verstanden wurde. Das war aus | |
heutiger Sicht naiv, denn herrschaftsfreie Sexualität gibt es nicht. | |
Es ging aber um Pädophilie. | |
Schon, aber nur sehr am Rande, und die meisten wussten nicht genau, was sie | |
damit meinen. Natürlich gab es schon Texte wie Sandor Ferenczis Aufsatz aus | |
den 30er Jahren über die Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem | |
Kind, der bereits das Wichtigste über den fundamentalen Unterschied | |
zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität und damit über deren | |
prinzipielle Inkompatibilität gesagt hat – die auch dann gegeben ist, wenn | |
sich Kinder mit ihren kindlichen Verführungswünschen an den Erwachsenen | |
wenden. Aber in der Studentenbewegung las man Wilhelm Reich. Oder man tat | |
so. Den Spruch „Lest Wilhelm Reich und handelt danach“ brüllten auch viele, | |
die ihn nie gelesen haben. Es gab viel Verbalradikalismus. | |
Sollte man Äußerungen von damals also nicht auf die Goldwaage legen? | |
Schon, aber eben im historischen Kontext und nicht in dem von heute. | |
Im Rückblick: Wie umfassend war die Befreiung? | |
In vielem enorm – aber man darf nicht nur das Emanzipatorische dabei sehen, | |
sondern auch die ökonomischen und politischen Interessen. Es gibt eine | |
Dialektik der sexuellen Befreiung: Sexuelle Liberalisierung kann und wird | |
immer auch vermarktet und als Herrschaftsinstrument missbraucht, das wusste | |
schon Aldous Huxley. | |
Wurde die neue Freiheit von Pädophilen missbraucht? | |
Es hat sicher in Teilen der Linken eine zu große Toleranz gegenüber den | |
Argumenten mancher pädophiler Ideologen gegeben. Die Abgrenzung mag zu spät | |
stattgefunden haben: Aber sie hat stattgefunden! Aus verbalen Äußerungen | |
eine Praxis abzuleiten, ist unzulässig. Wenn ich heute vom „Bischof | |
Trittin“ lese, dann stört mich das! Da wird so getan, als sei die grüne | |
Partei eine Organisation, in der massenhaft Missbrauch stattgefunden habe. | |
Den hat es nicht gegeben – wohl aber in kirchlichen Institutionen und in | |
anderen geschlossenen Systemen wie der Odenwaldschule. | |
Lange war die Ansicht verbreitet, dass Kindern gewaltfreier Sex mit | |
Erwachsenen nicht schade. Wie kam das? | |
Das hat bei den Anhörungen für die Strafrechtsreform 1970 noch die Mehrheit | |
der geladenen Sachverständigen vertreten. Es gab damals nicht viele | |
empirische Studien. Unter Gewalt verstand man ausschließlich körperliche | |
Misshandlung. Subtilere Formen der psychischen Manipulation oder die | |
strukturelle Gewalt in Abhängigkeitsbeziehungen hat man nicht | |
berücksichtigt. Das galt auch für andere Bereiche: Denken Sie daran, wie | |
lange Vergewaltigung in der Ehe nicht geahndet wurde – da greift man sich | |
heute an den Kopf. Das würde ich aber heute niemandem mehr vorwerfen. | |
Manche Elemente innerhalb der „Pädodebatte“ waren aber auch richtig. | |
Welche denn? | |
Die Diskussion um das Schutzalter war überfällig. Warum sollten Jungen | |
länger geschützt werden als Mädchen, der Verkehr zwischen einem 17- und | |
einem 19-jährigen Homosexuellen strafbar sein? Da hängten sich manche dran, | |
die auf komplette Abschaffung der Altersgrenzen hofften. Dazu kam es zum | |
Glück nicht. | |
Finden Sie die aktuelle Aufarbeitungsdebatte überflüssig? | |
Nein, aber mich stört daran das heute so beliebte Enthüllungspathos und der | |
Tunnelblick. Dimensionen, die ich für die Zukunft wichtig finde, werden zu | |
wenig betont. Kindliche Sexualität wird nur als missbrauchte diskutiert. | |
Gleichzeitig werden Kinder durch die Werbung in hohem Maße sexualisiert: Es | |
gibt Tangas für Dreijährige! Die „Pinkifizierung“ der Kindheit macht aus | |
kleinen Mädchen sexualisierte Jugendliche. Diese Tendenzen muss man | |
problematisieren, wenn man sexuellen Missbrauch verhindern will. | |
Wir sind heute also mehr pädo als die 68er, wollen es aber nicht wahrhaben? | |
In gewisser Hinsicht schon. Selbstgerechtigkeit ist nicht angebracht: Jede | |
Zeit bringt ihre eigenen blinden Flecken hervor. | |
Wo fehlt es Ihrer Meinung nach an Differenzierung? | |
Nur eine von vielen: Ich unterscheide zwischen denen, die sexuell auf | |
präpubertäre Kinder oder Jugendliche zu Beginn der Pubertät fixiert sind, | |
und denen, die ohne eine solche Fixierung Kinder sexuell ausbeuten. | |
Letztere sind die Mehrheit. Der meiste sexuelle Missbrauch findet immer | |
noch in Familien statt – durch Väter, die ebenso wenig fixierte | |
Pädosexuelle sind wie viele missbrauchende Priester. Auch bei den | |
zahlreicher werdenden Kinderpornografie-Konsumenten ist nur ein kleiner | |
Prozentsatz pädosexuell fixiert. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das | |
Problem mitten in der Gesellschaft liegt. Es gibt heute viele, die sich | |
klein und ohnmächtig fühlen, die sich in „Krisen der Männlichkeit“ virtu… | |
oder real an Kindern vergreifen, um sich potent zu fühlen. | |
Kinderpornografie als Begleiterscheinung des globalisierten Kapitalismus? | |
Pornografie gehört heute zur Massenkultur. Und es gibt keine Utopien mehr, | |
die Menschen haben das Gefühl, nichts mehr gestalten zu können. Man kann | |
sich im Internet bewegen und seinen Körper verändern – mehr bleibt kaum. | |
Meine StudentInnen sagten mir oft: Glauben Sie bloß nicht, dass all das | |
Reden über Sex bedeutet, dass wir heute freier sind. Es ist mit der | |
Sexualität nicht leichter geworden, sondern anders. | |
Inwiefern? | |
Die Unfreiheiten sind andere. Kein Jugendlicher hat mehr Angst vor | |
Rückenmarksschwund beim Onanieren. An die Stelle von Gewissensängsten sind | |
narzisstische Ängste getreten, vor Zurückweisung oder vor dem Versagen. | |
Wir sind also nicht so befreit, wie wir gerne glauben würden? | |
In manchem sind wir es. Auf der anderen Seite erleben wir gerade wieder | |
einen neuen Rollback, eine neue negative Mystifizierung der Sexualität. | |
Sie meinen eine neue Prüderie? | |
Selbst in Fachkreisen wird kindliche Sexualität nur noch in Zusammenhang | |
mit Missbrauch diskutiert. Es gibt eine Hysterie: Männliche Erzieher, die | |
wir dringend brauchen, trauen sich nicht mehr, einen Jungen in den Arm zu | |
nehmen. Nur um nicht in Verdacht zu kommen. Das Familienministerium hat | |
eine jahrelang verwendete Aufklärungsbroschüre zurückgezogen – ich konnte | |
darin keinerlei Aufforderung für Pädosexuelle erkennen. | |
In den Siebzigern wollte man dagegen kindliche Sexualität fördern – war das | |
besser? | |
Ein großer Irrtum der 68er war, dass man Kinder aktiv dazu ermuntern soll, | |
sich sexuell auszuprobieren. Das machen sie von ganz alleine, wenn sie | |
ungestört sind. Ich hatte in der letzten Zeit öfter Anrufe von Frauen, die | |
berichteten, dass ihr Mann beim Baden mit der Tochter eine Erektion hatte. | |
Dass ihm das passiert, ist kein Anzeichen für Pädosexualität. Denn wir sind | |
sexuell empfänglich für Kinder, wir reagieren auf ihre kindliche Sexualität | |
mit unserer erwachsenen Sexualität, das muss man als Fakt akzeptieren. | |
Entscheidend ist, was man damit macht. Wenn sich der Vater mit seiner | |
Erektion aus der Badewanne zurückzieht, ohne das Mädchen zurückweisend zu | |
kränken, dann ist das okay. Ein Problem gibt es nur, wenn er anfängt, mit | |
der Erektion sexuell zu agieren, den Unterschied zwischen erwachsenem | |
Begehren und kindlichen sexuellen Wünschen nicht wahrt. Wir haben die | |
Möglichkeit, als Erwachsene „zielgehemmt“ zu reagieren. Das wird heute auch | |
dadurch erschwert, dass die Grenze zwischen den Generationen immer mehr | |
verschwimmt. Jugendliche brauchen aber sowohl die Ablösung als auch die | |
Identifikation mit den Eltern, um ihre Persönlichkeit und eine erwachsene | |
Sexualität entwickeln zu können. | |
Ziehen wir eine Generation von sexuell Gestörten heran? | |
Nein. Ich will damit nur klarmachen, dass unsere sexuellen Identitäten auch | |
immer gesellschaftlich geprägt sind. In der Geschichte wechselt periodisch | |
die Feier der Lüste ab mit Phasen der Verteufelung. In den Zwanzigern gab | |
es in den Großstädten schon einmal libertäre Verhältnisse, mit einer | |
gewissen Toleranz für Homosexualität. Im Nationalsozialismus wurden die | |
Homosexuellen verfolgt und sexuelle Tabus wurden repressiv verstärkt, | |
zugleich wurden alle sexuellen Tabus gebrochen, wenn es um rassistische | |
oder bevölkerungspolitische Ziele ging. Nach 1945 herrschte sexuelle | |
Repression, dann kam die sexuelle Liberalisierung. Gegenwärtig haben wir | |
einerseits eine Sexualisierung des öffentlichen Raums, und zugleich greift | |
die Lustlosigkeit um sich: Manche sprechen von „Postsexualität“. | |
9 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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