| # taz.de -- Sexuelle Revolution dokumentiert: „Man nimmt das so hin als Kind�… | |
| > Paul-Julien Robert hat einen Film über seine Kindheit in der Kommune von | |
| > Otto Mühl gedreht: „Meine keine Familie“ ist auch ein Dokument aus linken | |
| > Zeiten. | |
| Bild: Im Schatten der „faschistischen Kleinfamilie“: Otto Mühls Kommune wu… | |
| taz: Herr Robert, Ihr Film „Meine keine Familie“ dokumentiert die | |
| Geschichte der AAO-Kommune Otto Mühls. Es ist auch Ihre Geschichte: Sie | |
| sind in dieser Kommune aufgewachsen. Wie kam es zu dem Film? | |
| Paul-Julien Robert: Anfangs wollte ich nur ein besonderes Ereignis | |
| recherchieren: den Tod meines juristischen Vaters, der sich in der Kommune | |
| mit einem Messer das Leben nahm. | |
| Juristischer Vater? | |
| Ja, der Mann, der für mich offiziell als Vater galt. Biologische | |
| Vaterschaft spielte in der Kommune ja keine Rolle. Da die Behörden auf der | |
| Eintragung eines Vaters bestanden, wurde einer ausgewählt, den meine Mutter | |
| heiratete. Wer mein biologischer Vater war, erfuhr ich erst später. | |
| Wie näherten Sie sich seinem Selbstmord? | |
| In der Kommune wurde fast der ganze Alltag dokumentiert. Viele | |
| Bilddokumente und schriftliche Erzeugnisse sind noch in Friedrichshof | |
| archiviert. Ich fand Dokumente vom Tag vor seiner Selbsttötung. Und vom Tag | |
| danach, als Otto Mühl den Kommunarden erklärt, was passiert ist. Meine | |
| Mutter und andere haben mir für den Film genau das erzählt, was Otto Mühl | |
| damals erzählt hat, teilweise im Wortlaut. Überrascht hat mich diese Kälte, | |
| deren Gleichgültigkeit. Unter diesen Menschen hat nie ein Gespräch über | |
| dieses Ereignis stattgefunden. | |
| Sie wundern sich im Film, dass sich nicht mehr Kommunarden umgebracht | |
| haben. Wieso? | |
| Dass wir Kinder das alles überlebt haben, das wundert mich im Nachhinein. | |
| Vielen von uns geht es heute nicht gut, aber wir haben alle genug | |
| Lebensenergie. | |
| In Ihrem Film wirkt die Kommune fast so, wie man sich ein Lager im | |
| Kambodscha Pol Pots vorstellt: Konformität, Führerkult, Zurichtung. Was war | |
| für Sie die Kommune? | |
| Man muss den Friedrichshof auch aus seiner Zeit heraus begreifen. Am Anfang | |
| war das ein mutiges, lebendiges Experiment. Die Bewohner brachten ihre | |
| eigenen Ideen ins Zusammenleben ein. Dann fand allmählich die Verwandlung | |
| statt. Vom menschlichen Stamm zu einem autoritären System am Ende. Es war | |
| ein Mikrokosmos, der sich radikal veränderte. | |
| Wie merkte man diese Veränderungen im Alltag? | |
| Zum Beispiel die Sexualität: In den Siebzigern schlief die ganze Kommune | |
| auf einem großen Hochbett, da haben wir Kinder die Sexualität der | |
| Erwachsenen total mitbekommen. Ab Mitte der Achtziger war alles | |
| durchorganisiert. Nur die Frauen hatten ein Zimmer, die Männer mussten sich | |
| für jede Nacht eine Frau suchen. Es gab nicht genug Platz auf dem Hof, und | |
| Privatsphäre war sowieso nicht vorgesehen. Die Kinder schliefen in | |
| Stockbetten, Mädchen und Jungen getrennt. | |
| Einige Rituale der Kommune verstören: Abends mussten alle zur Performance | |
| vor der Gruppe antreten, um sich zu zeigen, ja, zu entblößen. Wie haben Sie | |
| das als Kind empfunden? | |
| Man nimmt das so hin als Kind. Das war unser Alltag. Der Zusammenhalt nach | |
| innen war stark, vor allem weil das Bild, das wir von der Welt draußen | |
| vermittelt bekamen, ein so negatives war: Aids, Tschernobyl … | |
| Was bekamen Sie von der Welt draußen mit? | |
| Wenig. Wir waren fast immer auf dem Gelände, auf Ausflügen waren Erwachsene | |
| dabei. Es gab nie die Möglichkeit, einen Schritt alleine zu tun. Wir hatten | |
| keine Zeitungen, keinen Fernseher, kein Telefon. Als Lektüre bekamen wir | |
| jede Woche das Material, das Mühl mit einem kleinen Kreis erarbeitet hat, | |
| und Schulbücher. Literatur von außen gab es nicht. | |
| Gab es unter den Kindern so etwas wie Solidarität oder Trost? | |
| Es gab Freundschaften und Menschen, die einem näherstanden. Aber das | |
| Perfide am System war, dass es dazu gehörte, sich gegenseitig zu verpetzen. | |
| Beim täglichen Treffen ging es genau darum: zu melden, was andere schlecht | |
| gemacht haben. Ich versuchte immer, mich möglichst unsichtbar zu machen. | |
| Aber wenn Sie tanzen mussten? Wie der Junge in Ihrem Film, der nicht | |
| Mundharmonika spielen wollte und von Otto Mühl öffentlich gedemütigt wurde. | |
| Von den anwesenden Erwachsenen griff keiner ein. Was lösten solche Szenen | |
| bei Ihnen aus? | |
| Ich bewunderte meinen Freund für seine Sturheit: Er weint, aber er spielt | |
| nicht Mundharmonika. Jemand sagte mir, die Szene sei für ihn die schönste | |
| im ganzen Film. Weil sie zeigt, dass es Menschen gibt, die Nein sagen | |
| können. Egal, was für Konsequenzen daraus folgen. | |
| Sie sind mit dem Schreckbild von der „bürgerlichen Kleinfamilie“ | |
| aufgewachsen. Die aufzulösen, war oberste Bestrebung der Kommune. Sie | |
| führen jetzt selbst eine klassische Zweierbeziehung … | |
| … ja, und ich werde bald Vater. Mama, Papa, Kind. Das ist schon ein Wagnis, | |
| für mich vielleicht noch mehr als für andere. Ich musste erst einige Ängste | |
| und Vorurteile beiseite schieben. Aber jetzt klappt es ganz gut. | |
| Sprechen wir über Ihre Mutter: Sie ließ Sie als Vierjährigen in der Kommune | |
| zurück, um zu arbeiten. Haben Sie das als Verrat empfunden? | |
| Ja, schon da hatte ich das Gefühl von Verlassenwerden und von | |
| Vertrauensbruch. Es war wohl auch am Ende der Grund, warum wir nie so | |
| richtig zueinander gefunden haben. | |
| Ihre Mutter kam nur gelegentlich am Wochenende. Im Film sagen Sie, dass Sie | |
| vor diesen Besuchen Angst hatten, weil Sie den erneuten Abschied | |
| fürchteten. Wer gab Ihnen damals Halt? | |
| Die Kindergruppe, in der ich lebte. Und ein paar Erwachsene. Der | |
| Zusammenhalt war stark. Andererseits gab es keine Zuneigung, keine | |
| Loyalität, auf die Verlass war. Jeden Tag wurde die Rangordnung neu | |
| bestimmt: Wer etwas gilt, wer belohnt wird und wer entwertet. Diese | |
| Entscheidungen waren so willkürlich wie die tägliche Beurteilung: Einen Tag | |
| fanden dich alle toll, am nächsten warst du unbeliebt. | |
| Wie viele Kinder waren Sie auf dem Friedrichshof? | |
| Es ist schwer, eine genaue Zahl zu nennen: Etwa 80 Kinder wurden in der | |
| Kommune geboren, die meisten im letzten Jahr, als es keine | |
| Geburtenkontrolle mehr gab. Vorher wurde ja bestimmt, welche Frauen Kinder | |
| haben durften und welche nicht. | |
| Nur die persönlich stabilen, die frei von Depressionen waren, wie Otto Mühl | |
| es bestimmte? | |
| Viele Frauen durften keine Kinder haben, obwohl es viel Sex gab. Man durfte | |
| also nur mit Kondom miteinander schlafen. Oder es wurde abgetrieben. Wenn | |
| eine Frau schwanger wurde, gab es eine BaG, eine Bewusstseinsarbeitsgruppe. | |
| Dieser Kreis entschied im kleinen Rahmen darüber, ob das Kind ausgetragen | |
| werden durfte. | |
| Was widerfuhr Frauen, die trotzdem schwanger blieben? | |
| Denen wurde kurz nach der Geburt das Kind abgenommen, das wurde dann von | |
| einer anderen Frau aufgezogen. | |
| Anfang der Neunzigerjahre kam es zu Strafverfahren gegen Otto Mühl, wegen | |
| Unzucht mit Minderjährigen. Wie erlebten Sie die folgende Implosion der | |
| Kommune? | |
| Eines Tages gab es die Struktur nicht mehr, wir Kinder kamen aber damit | |
| bestens klar. Es gab natürlich trotzdem noch Leute, die sagen wollten, wo | |
| es langgeht und festlegen wollten, wer was zu sagen hat. Aber uns älteren | |
| Kindern war das dann egal. Im letzten Jahr der Kommune, da war ich zwölf, | |
| fiel auch der Zwang zu den abendlichen Vorführungen weg. Wir durften dann | |
| auch mal Fernsehen oder Fußball spielen, was vorher verboten war. | |
| Sie haben gute Erinnerungen? | |
| Das letzte Jahr und auch die Jahre nach meiner Rückkehr mit 15 waren die | |
| schönsten. Plötzlich war der Friedrichshof ein totaler Freiraum. Wir | |
| steckten uns die Grenzen selber. Viele hatten schon Privateigentum, aber | |
| wir ignorierten die abgeschlossenen Türen und Schlösser. Wir mussten ja | |
| sehen, wo wir etwas zu essen herbekamen. Da nahmen wir uns einfach, was wir | |
| brauchten. | |
| Die totale Kinderfreiheit, endlich war sie da? | |
| Einerseits schon. Obwohl es auch so war, dass Kinder ohne Mütter völlig auf | |
| sich allein gestellt waren. Gerade für die Mädchen, die sexuell missbraucht | |
| worden waren, war es schlimm. Die wurden von der Polizei mitgenommen, fünf | |
| Stunden lang verhört – das war’s. Niemand fing sie auf, und zu ihren Eltern | |
| konnten sie auch nicht gehen. | |
| Ihr Film zeigt, dass Sie Ihren biologischen Vater später kennenlernten. Er | |
| lebt auf den Kanaren, mit Frau und Sohn. Hat es Sie getroffen, dass Ihr | |
| Vater mit anderen zusammen eine Familie hat? | |
| Nein, ich habe seine Familie sogar mit Wohlgefallen erleben können. Ich war | |
| erleichtert, dass mein Vater in der Lage ist, Vater zu sein. Dass es sich | |
| nicht um eine Art Gendefekt handelt. Zu seinem Sohn und seiner Frau habe | |
| ich ein sehr gutes Verhältnis. | |
| Welche Rolle spielt die Kommune noch für Sie? | |
| Wir leben in Wien, der Friedrichshof ist nur eine Stunde entfernt. Er ist | |
| jetzt eine Art Wohnpark, in dem viele junge Familien mit Kindern leben. Ich | |
| bin dort häufig, es gibt sogar zwei Kinder aus meiner Generation, die | |
| wieder hingezogen sind. Mal sehen, ob wir da manchmal hinfahren, wenn wir | |
| ein Kind haben. | |
| 8 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
| Jan Feddersen | |
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