# taz.de -- Aufwachsen auf Otto Mühls Friedrichshof: Die Tage der Kommune | |
> Kollektiv gelebte Sexualität statt traditioneller Familie. Der | |
> Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ von Paul-Julien Robert erzählt von | |
> einer beschädigten Kindheit. | |
Bild: Motiv aus „Meine keine Familie“: Kommunardinnen mit Kindern. Links Fl… | |
Revolutionen fressen ihre Kinder. „Meine keine Familie“, das | |
autobiografisch-therapeutische Filmdebüt von Paul-Julien Robert, liefert | |
viel Anschauungsmaterial für diesen Satz und die ihm eigene, bittere | |
Dialektik. | |
Robert, 1979 geboren, hat am eigenen Leib erlebt, wie ein Versprechen auf | |
Befreiung in Zwang und Gewalt umschlägt. Er wuchs auf dem Friedrichshof im | |
österreichischen Burgenland auf, in der Kommune, als deren Häuptling sich | |
der Aktionskünstler Otto Mühl feiern ließ. Von traditioneller Familie oder | |
Zweierbeziehung hielten die Kommunarden nichts, dafür viel von kollektiv | |
gelebter Sexualität, von Gruppensitzungen mit Tanz- und | |
Psychodramadarbietungen und von der Idee einer Kunst, die sich aller | |
Bereiche des Lebens bemächtigt. | |
Wenn der Regisseur diejenigen interviewt, die als Erwachsene auf dem | |
Friedrichshof lebten, hat mehr als einer positive Erinnerungen. „Ich bin | |
daran gewachsen, ich habe meine Persönlichkeit entwickeln können“, sagt | |
Egon, einer der möglichen Väter von Paul-Julien Robert. | |
Die, die seinerzeit Kinder waren, hatten es schwerer, ihre Persönlichkeit | |
zu entwickeln. Sie erinnern sich vor der Kamera vor allem daran, sich | |
verraten, allein und missbraucht gefühlt zu haben. Der Regisseur etwa | |
musste erleben, wie seine Mutter nach Zürich ging, als er vier Jahre alt | |
war; zu Besuch kam sie fortan nur selten, um ihn kümmerte sich das | |
Kollektiv. Der Grund für die Abwesenheit war, dass Otto Mühl den Schweizer | |
Kommunarden befahl, als Versicherungsvertreter zu arbeiten, damit die | |
Kommune zu Geld kam. Widerrede war zwecklos. | |
Dabei hatte Robert noch Glück im Unglück. Denn als die Kommune 1991 | |
aufgelöst wurde, war er zwölf Jahre alt. Wäre er zwei Jahre älter gewesen, | |
er hätte an der sogenannten Einführung in die Sexualität teilnehmen müssen. | |
Alle, die vierzehn wurden, mussten Sex haben, strikt heterosexuell die | |
Mädchen mit Otto Mühl, die Jungen mit Mühls Frau Claudia. Otto und Claudia | |
Mühl wurden deshalb später zu Haftstrafen verurteilt, sie für ein Jahr, er | |
für sieben Jahre. | |
## Missbrauch, der süchtig macht | |
Was so eine Erfahrung bedeutet, machen die Szenen anschaulich, in denen | |
Paul-Julien Robert einen Mann besucht, der heute in seinen späten | |
Dreißigern ist. Joan heißt er, er lebt im Brandenburgischen, auch er wuchs | |
auf dem Friedrichshof auf, aber er hatte nicht das Glück, unter vierzehn zu | |
sein. „Auch wenn es ein Missbrauch ist“, sagt er im Rückblick, „du wurde… | |
ja fast süchtig danach.“ Weil es sonst im Alltag der Kommune keine | |
Anerkennung gab, weil das Gefühl wahrgenommen, gemocht und geschätzt zu | |
werden, sonst ausblieb. Noch heute, erzählt Joan, kämpft er dagegen an, | |
dass er sich nur dann geliebt fühlt, wenn er Sex hat. | |
Je mehr Joan erzählt, umso perfider wirkt das Videomaterial, das Otto Mühl | |
dabei zeigt, wie er Ende der 80er seine „Aschebilder“ anfertigt. Zu diesem | |
Zeitpunkt ermittelte die Staatsanwaltschaft schon gegen ihn. Um Beweise zu | |
vernichten, ließ er die Tagebücher von Kommunarden verbrennen. Die Asche | |
wiederum ließ er auf Leinwände niedergehen. | |
Auf den zeitgenössischen Aufnahmen sieht man einen Mann, der sich | |
berserkerhaft als Genie in Szene setzt, inmitten der Kommunarden, die ihm | |
helfen, die großformatigen Leinwände aufzurichten. Der Kunstbetrieb hat | |
sich erst spät mit dem Kontext von Mühls Werk beschäftigt; noch 2004 zum | |
Beispiel feierte ihn eine Ausstellung im Wiener Museum für angewandte | |
Kunst. Erst dem Wiener Leopold-Museum gelang es 2010, auf die | |
problematischen Entstehungsbedingungen von Mühls Kunst hinzuweisen und in | |
der Auswahl der Exponate Rücksicht auf die Kommunarden zu nehmen. | |
## Eine Bilderbefragung | |
Der dokumentarische Wert der Archivbilder macht eine Stärke von „Meine | |
keine Familie“ aus, auch wenn diese Bilder bisweilen etwas zu nahtlos zur | |
Illustration der Inhalte eingesetzt werden, um die es zuvor in | |
Gesprächssequenzen ging. Immer wieder ist Robert an der Seite seiner Mutter | |
zu sehen, auf dem heutigen Friedrichshof, in einem kleinen Kinosaal, wo sie | |
gemeinsam die Archivbilder schauen, oder beim Besuch der möglichen Väter. | |
Hinzu kommen Kamerafahrten an Fotografien entlang, zum Teil sind es | |
Gruppen- oder Familienfotos, zum Teil Schwarzweißaufnahmen aus | |
Publikationen der Kommune, dazu werden aus dem Off programmatische Texte | |
gelesen: „Der Zweierbeziehung“, heißt es dann zum Beispiel, „verdanken w… | |
Krebs, Armut und Reichtum, die Atombombe, Gartenzäune und Grenzen.“ | |
Man kann in „Meine keine Familie“ auch so etwas wie den Versuch einer – | |
wenn auch nicht systematischen – Bilderbefragung entdecken: Wie | |
konstituieren Fotografien Gruppen, wie konstituieren sie Familien? Immer | |
dann, wenn der Regisseur zu Besuch bei einem seiner potenziellen Väter ist, | |
gibt es am Ende eine Art Familienaufstellung, eine photo opportunity, die | |
festhält, was hätte sein können und nicht war. | |
Wo Robert seine Mutter mit seinen Sehnsüchten nach einer heilen Familie | |
konfrontiert, nimmt der Film manchmal den Charakter einer peinlichen | |
Befragung an. Er läuft in solchen Momenten Gefahr, sich in der Anklage | |
gegen diese Mutter zu verlieren. „Ja, das sage ich immer“, sagt die Frau | |
namens Florence am Anfang, „dass ich früher eine Kuh war, so ruhig und so | |
dumm.“ | |
## Die Naivität der Mutter | |
Die Tragweite dieses Satzes erschließt sich nach und nach, in dem Maße, wie | |
Robert vom Modus der Anklage absieht und zulässt, dass Hilflosigkeit und | |
Naivität der Mutter zum Vorschein kommen. Damit entlastet er sie nicht, | |
aber er schützt sich doch vor dem selbstgerechten Furor, den manche Kinder | |
von 68er Eltern an den Tag legen. | |
Zumal der Film zarte Hinweise darauf gibt, dass die Sehnsucht nach der | |
intakten Kleinfamilie eine Kehrseite hat. Dies gilt besonders für die | |
Szenen, in denen Robert und seine Mutter in die Haute Savoie fahren. Dort, | |
im ländlich-bergigen Osten Frankreichs, lebt die Familie des Mannes, der | |
offiziell als Roberts Vater gilt, weil die Mutter mit ihm verheiratet war, | |
als der Sohn zur Welt kam. Diesen Christian sehen wir auf Archivbildern, | |
wie er tanzt und keck die Hüfte schwingt, ein Hütchen schräg auf dem Kopf. | |
Aus dem Off kommt Roberts Stimme: „Das war Christians letzte | |
Selbstdarstellung. Drei Tage später nimmt er sich das Leben.“ | |
In der sommerlichen Idylle der Haute Savoie beginnen die Schwestern | |
Christians, heute in ihren späten 50ern, frühen 60ern, zu erzählen, wie | |
streng der Vater mit seinen Söhnen war, sie reden von körperlichen | |
Züchtigungen und – sie sind sich nicht ganz sicher – von sexueller Gewalt | |
in der Klosterschule. Nicht nur die Kommune, auch ein | |
katholisch-bäuerliches Milieu malträtiert Kinder. Und so wie Florence nicht | |
viel zu dem zu sagen hat, was sie damals auf dem Friedrichshof geschehen | |
ließ, so verstummt auch der alte Mann aus der Haute Savoie, der Vater | |
Christians, wenn es um die Klosterschule geht. | |
## Sadismus und Contest | |
Aufnahmen wie die des tanzenden Christian sind in „Meine keine Familie“ | |
immer wieder zu sehen, da diese Performances – sie wurden als | |
„Selbstdarstellung“ bezeichnet – zum Alltag der Kommune gehörten. In ein… | |
dieser Ausschnitte weigert sich ein Junge zu singen, er ist vielleicht acht | |
Jahre alt, er weint, Mühl macht ihn zur Schnecke, droht und begießt ihn | |
schließlich mit Wasser. Dutzende Erwachsene schauen sich das an und tun | |
nichts. Niemand tröstet den Jungen, als er von Mühl ins Bett geschickt wird | |
und zwischen den Kommunarden abgeht. | |
Diese Bilder sind wegen des unverhohlenen Sadismus von Otto Mühl schwer zu | |
ertragen und auch, weil niemand dem Kind zur Hilfe kommt, weil niemand | |
einschreitet. Die, die sich der Kommune anschließen, weil sie, wie sie | |
heute sagen, den autoritären Strukturen ihrer Familien, ihrer Erziehung | |
entkommen, weil sie den Residuen des Nationalsozialismus entfliehen | |
wollten, binden sich ohne Not in eine hochgradig autoritäre Struktur ein. | |
Es gibt aber noch etwas: Die Selbstdarstellungen der einzelnen Kommunarden, | |
die Mühl kommentiert, lobt oder verwirft – „Mehr Ekstase! Mehr Ekstase!“ | |
ruft er einmal, in einer anderen Szene bewertet er die Kleidung von Vier- | |
bis Siebenjährigen –, diese Selbstdarstellungen sind alles andere als | |
Irrläufer, die ein guter Geist so in der Vergangenheit eingesperrt hätte, | |
dass sie für immer verschwunden wären. Sie kehren vielmehr in den Casting- | |
und Contest-Shows unserer Gegenwart zurück. Otto Mühl, der Zampano vom | |
Friedrichshof, ein Vorläufer der Dieter Bohlens und Heidi Klums? Es sieht | |
ganz so aus. Wie bitter die Dialektik von Befreiung und Zwang ist, beginnt | |
man gerade erst zu ahnen. | |
24 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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