# taz.de -- Roman über Kindesmissbrauch: Unheimliche Macht der Bilder | |
> Sarah Elena Müller erzählt in „Bild ohne Mädchen“ von Kindesmissbrauch… | |
> Alternativmilieu. Ein Gespräch über Schattenseiten der sexuellen | |
> Revolution. | |
Bild: Autorin Sarah Elena Müller von „Bild ohne Mädchen“ | |
taz: Frau Müller, Ihr Debütroman „Bild ohne Mädchen“ spielt in einem | |
Schweizer Bergdorf. Das titelgebende Mädchen geht oft zum Fernsehen zu den | |
Nachbarn. Orte und Personen bleiben namenlos, wie in einer | |
Versuchsanordnung. Nur die Nachbarn haben Namen und lassen sich konkret im | |
linksalternativen Milieu verorten: Ege, der das Mädchen missbraucht, ist | |
ein abgehalfteter Medientheoretiker, der von der Befreiung aller Körper | |
träumt. Seine Freundin Gisela macht Tanzkurse und bereist die Welt. Warum | |
haben Sie diesen Rahmen gewählt? | |
Sarah Elena Müller: In meinem Umfeld tauchten in den letzten Jahren einige | |
Fälle von Kindesmissbrauch auf. Die Täter waren in diesem intellektuellen | |
Denkraum der Befreiung zu Hause, der bis in die Achtziger hinein wirkte. | |
Ich fand es interessant, dass diese Leute offenherzig Auskunft geben über | |
die Übergriffe und bis heute jede Verantwortung von sich weisen. Diese | |
Besonderheit der antiautoritären Linken, in der ich mich selber bewege, hat | |
mich interessiert. Da gibt es ein Paradox: Wo es dem Einzelnen nutzt, | |
negiert man gern die eigene Autorität, um sie indirekt auszuüben. | |
Wie haben Sie recherchiert? | |
Ich hatte die Gelegenheit, ausführlich mit einem Täter zu sprechen. Von ihm | |
aus habe ich mich dem Milieu und der Zeit angenähert. Ich studierte die | |
Buchtitel in seinem Regal, [1][befasste mich mit der Otto-Mühl-Kommune und | |
der Odenwaldschule] – und auch mit der taz und ihrer Auseinandersetzung mit | |
der pädosexuellen Bewegung. Da ich mich selbst in queeren, feministischen | |
Kontexten bewege, wollte ich verstehen, warum es damals kaum möglich | |
schien, in der Linken über das Schutzalter zu sprechen. Die | |
Auseinandersetzungen damit fanden in einem hochaggressiven konservativen | |
Klima statt, in dem alle Schwulen pauschal als Kinderschänder verunglimpft | |
wurden. | |
Der Täter, den Sie in „Bild ohne Mädchen“ entwerfen, beruft sich auf das | |
Befreiungsnarrativ: „Das volle Potenzial der Revolution (…) aktivieren. Mit | |
Bildtheorie und historisch informiert die Prüderie der Außenwelt | |
vernichten.“ Ege erhebt seine privaten Neigungen zum revolutionären Akt. | |
Folgt diese Figur realen Vorbildern? | |
Zunächst einmal fand ich es literarisch interessant, mit einer Figur zu | |
arbeiten, die stur die Verantwortung ablehnt, die die lesende Instanz ihm | |
zuweisen will. Er ist die überhöhte Fiktionalisierung meiner Recherchen: | |
Der Täter, mit dem ich gesprochen habe, hatte nicht mehr lange zu leben, er | |
sprach offen, teilweise war auch die Betroffene dabei. Ich beobachtete, wie | |
es diesem Mann Energie gab, noch ein letztes Mal Einfluss zu nehmen auf | |
diese Geschichte, den Körper dieses Kindes, das jetzt als Erwachsene fragt, | |
was eigentlich passiert ist. Da war ein perfider Mechanismus am Werk. Ein | |
seltsamer Gestaltungswille, der mich anfangs wahnsinnig irritierte. | |
Gleichzeitig wusste ich: Das ist das Material meiner Träume, hier ist ein | |
Täter, wie wir ihn noch nicht oft gesehen haben. | |
Das Mädchen im Roman ist anfangs im Vorschulalter – erst als junge | |
Erwachsene kann sie sich aus der Missbrauchsbeziehung befreien. Was zieht | |
sie immer wieder zurück in diese abgedunkelte Wohnung, zu dem Außenseiter | |
und Alkoholiker? Die Macht der Bilder? | |
Man erfährt einmal, dass das Mädchen die mit den bewegten Bildern | |
einhergehende Betäubung mag, sich aber gleichzeitig vor Ege ekelt. Bei | |
allen Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, gab es einen Widerstreit | |
von Ekel und starker seelischer Abhängigkeit. Da griffen klassische | |
Täterstrategien, die mir auch Fachstellen bestätigten, mit denen ich meine | |
persönlichen Beobachtungen abgeglichen habe: Die Täter zeigen genau im | |
richtigen Moment Aufmerksamkeit, sie sind da für das Kind, betonen, dass es | |
etwas ganz Spezielles sei. | |
„Ein nackter Engel, ein Geschenk“, wie es im Buch heißt … | |
… das „Lieblingsmädchen“, das „Extra“ – die Exklusivität der Bezi… | |
im richtigen Moment betont, das hält das Opfer oft jahrelang bei der | |
Stange. | |
Das Wegschauen ist ein Hauptthema Ihres Romans: Jede Erwachsenenfigur | |
verdrängt den Missbrauch auf ihre Weise: Die Mutter ist mit ihrer Kunst | |
beschäftigt, der Vater mit seinen Biotopen. Gisela will nicht wahrhaben, | |
dass ihr Lebensgefährte seine Theorien in die Tat umsetzt – und dem Heiler, | |
der von den Eltern konsultiert wird, fällt nichts Besseres ein, als gegen | |
das Bettnässen eine Unterhose mit Alarmsensor zu verschreiben. Welche Figur | |
hat Sie beim Schreiben am meisten beschäftigt? | |
Am meisten abverlangt hat mir Gisela, die langjährige Lebensgefährtin von | |
Ege, die all die Jahre ihre Ahnungen aktiv niederkämpft, auch Beweise | |
übersieht. Ich lasse bewusst offen, ob die Akten des Jugendamts, die Gisela | |
verwahrt, etwas Verfängliches verraten. Sie handelt nicht sehr logisch, | |
vielleicht ist sie auch etwas paranoid. Ihre Komplizenschaft macht ihr zu | |
schaffen, sie verkörpert das Elend der koabhängigen Beziehung. | |
„Alles hat seinen Preis. Und Gisela hatte ihn gezahlt“, heißt es an einer | |
Stelle. Doch letztlich ist das Kind das Opfer. Haben die Kinder damals den | |
[2][Preis für die sexuelle Revolution der Erwachsenen] gezahlt? | |
Es gibt wohl keine Revolution ohne Kollateralschäden. Viele Frauen trugen | |
damals unbewältigte Traumata herum. Plötzlich sollten sie gelingende | |
Promiskuität verkörpern, als Teil der gelebten Utopie. Da wurden sicher | |
einige Preise gezahlt. Von denen, die noch keine Zeit gehabt hatten, sich | |
um sich selbst zu kümmern. Und von Schutzbefohlenen, deren Abhängigkeit | |
nicht ernst genommen wurde oder radikal aufgelöst werden sollte. | |
[3][Die Erinnerungsexpertin Aleida Assmann] spricht davon, dass jede Zeit | |
ihren Rahmen hat, in dem Erfahrenes erinnert wird. Was aus dem Rahmen | |
fällt, bleibt unbearbeitet. Doch ab und zu wechseln die Rahmen: Sind wir | |
jetzt so weit, auch die Schattenseiten der sexuellen Revolution zu | |
bearbeiten? | |
Das würde ich mir wünschen. Gerade in der weiblichen Ahnenlinie schlummert | |
noch viel Unbearbeitetes. Aber dank einer Generation, die nicht mehr | |
verdrängen muss, auch weil sie strukturelle Hilfe bekommt, kommt gerade | |
etwas in Bewegung. Es kommt aber immer darauf an, in welchen | |
Schuldkonzepten sich eine Familie bewegt. Wenn alle ein Interesse daran | |
haben, dass die Schuld weiter als Währung kursiert, dann wird weiter | |
geschwiegen. | |
„Der anklagende Blick ihrer Tochter, der trübe Nachhall davon in den Augen | |
der Enkelin“: In den Gedanken der Großmutter klingt die transgenerationelle | |
Verantwortung an. Auch vom Innenleben des Kindes erfährt man viel. Nur die | |
Mutter bleibt im Roman blass. Warum? | |
Die Mutter hat ihren Rahmen gesprengt, aber noch keinen neuen gefunden. Man | |
erfährt, dass sie als junge Frau an radikalen Aktionen teilnahm, wie einer | |
symbolischen Beerdigung der Väter. Die Großmutter, die nah am Tod ist und | |
durchlässig wird, kann jetzt stolz sein auf ihre rebellische Tochter: | |
Kennen nicht alle Frauen so einen Machtmenschen, der im falschen Moment | |
seine Macht nutzt, wenn keiner hinsieht? Die Tochter wiederum hat noch ihre | |
kindliche Fantasie. Nur die Mutter bleibt verhärtet, im Abwehrmodus gegen | |
ihre Rolle in der Kleinfamilie. | |
Die Mutter verweigert die klassische Elternrolle genauso wie der Vater, | |
dessen Leidenschaft dem Naturschutz gilt. Jeder Lurch scheint ihm wichtiger | |
als die eigene Tochter. | |
Ja, und beide überschätzen das Kind. Sie denken, dass ein Mensch, der in | |
freien Zusammenhängen geboren wird, sich selber helfen kann. Was sie | |
unterschätzen: Kinder verlassen sich voll auf die Realitätskonstruktion der | |
Erwachsenen. Und das bedeutet auch: Gegenüber einem Kind hat ein | |
Erwachsener hundertprozentige Manipulationsmacht. Das wollten oder konnten | |
die Menschen, die damals für den Umbruch auf die Straße gingen, nicht | |
sehen. | |
Eine Verantwortungsabwälzung – aber eben auch ein Gegenbild zum | |
vorherrschenden autoritären Umgang mit Kindern … | |
Und ein dringend nötiger Gegenentwurf. Man ließ die Kinder mehr machen, | |
laissez-faire. Manche Kinder aber fühlten sich zu sehr allein gelassen. | |
Auch die Scham und die Schuld wurde bei ihnen gelassen – sie dachten: Man | |
hat mir alles zugetraut und ich hab’s vermasselt. | |
Das Mädchen im Roman verletzt sich, schwänzt die Schule- alles Hilferufe, | |
die überhört werden. Schließlich erfindet es sich einen Engel. Ist das eine | |
Strategie, um alleine mit dem Erlebten fertig zu werden? | |
Der Engel ist ein Heilungsbild, wie es in der zeitgenössischen | |
Traumabewältigung verwendet wird: Die kindliche und die erwachsene | |
Vorstellungswelt sollen sich vereinigen, den Tathergang neu erzählen. Ich | |
sah darin eine wunderbare literarische Strategie, um kein ausgeliefertes | |
Kind zu schreiben, sondern ihm etwas Stärkendes zur Seite zu stellen. | |
Der Engel digitalisiert am Ende die Videobänder, auf denen der Missbrauch | |
zu sehen ist, er sichert die Beweise. Gibt er dem Mädchen dadurch die | |
Möglichkeit, sich zu lösen? | |
Ja, es kann aufhören, an den Ort des Geschehens zurückzukehren, weil es | |
endlich Gewissheit hat. Es findet das Bild, das ihm ohne Zustimmung | |
genommen wurde, wieder und durch diesen Kurzschluss hat es eine gewisse | |
Deutungsmacht über sich zurückerlangt. | |
Die Eltern des Mädchens sind gegen Medienkonsum, er mache dumm. Das Kind, | |
das beim Nachbarn vor dem Fernseher sitzt, gelähmt von der Bilderflut, | |
bedient letztlich diese Angst. Sie arbeiten als Künstlerin auch visuell – | |
ist ihnen die Macht der Bilder selbst unheimlich? | |
Unsere Gesellschaft ist unheimlich fixiert auf das Visuelle. Bildern wird | |
noch immer ein Evidenzcharakter zugesprochen, obwohl wir inzwischen wissen, | |
dass der genauso brüchig ist wie die Erinnerung. Gerade weil ich selbst | |
viel mit Bildern arbeite, ist es mir ein Anliegen, die Medien unserer Zeit | |
zu untersuchen: Wie viel Autonomiefähigkeit haben wir darin? Diese Bilder | |
manipulieren uns, und gleichzeitig können wir sie selbst manipulieren, bis | |
zu dem Grad, dass wir uns eine neue Person erschaffen. Die Diskussion, wer | |
in welcher Situation abgebildet werden darf, wer der Urheber ist, ist ein | |
spannender Aushandlungsprozess unserer Zeit. | |
19 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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