| # taz.de -- Romandebüt von Dirk Gieselmann: Legende von der Einsamkeit | |
| > Realitätsflucht als Überlebenstechnik: Bildet „Der Inselmann“ von Dirk | |
| > Gieselmann über eine Kindheit in der DDR die Gegenbewegung zur | |
| > Autofiktion? | |
| Bild: Auch Robinson Crusoe brachte viel Zeit auf einer Insel zu | |
| Recht genau in der Mitte dieses Romans beschließt Hans Roleder, die Schule | |
| zu schwänzen. Diesen Jungen, zehn Jahre alt ist er zu Beginn, als | |
| Hauptfigur des Buches zu bezeichnen, wäre noch untertrieben. Er ist im | |
| Grunde die einzige Figur, alle anderen Personen werden allein aus seiner | |
| Sicht und auf ihn hin beschrieben. | |
| Wo und wann der Roman spielt, weiß man dabei gar nicht genau. Manches – ein | |
| Hund wird in den Weltraum geschossen, Menschen überwinden eine Mauer – | |
| spricht [1][für die frühen sechziger Jahre im Norden der DDR]. Doch darauf | |
| kommt es gar nicht an. Es kommt nur auf Hans Roleder an und auf seine | |
| Einsamkeit. | |
| Die erste Hälfte des Romans handelt davon, dass Hans mit seinen Eltern auf | |
| eine Insel zieht. Die Insel liegt in einem großen See. Beim Lesen | |
| entwickelt man unterschiedliche Eindrücke davon, wie weit sie vom Ufer | |
| entfernt ist. Zunächst wirkt sie weit entfernt, fast unerreichbar; nur alle | |
| paar Monate kommt ein Fährmann mit Nahrungsmitteln herüber. Irgendwann wird | |
| aber auch klar, dass man in einer guten Stunde hinüberrudern kann. Als Hans | |
| zur Schule gehen muss, ist das sein täglicher Weg. | |
| ## Halb verwilderter Hund | |
| Mehr passiert zunächst eigentlich gar nicht. Hans und seine Eltern ziehen | |
| in der alten Hütte auf der Insel ein, kümmern sich um die Schafherde, die | |
| dort grast, ein halb verwilderter Hund freundet sich mit Hans an. Und | |
| zwischendurch wird in einer Rückblende das vorherige Leben der kleinen | |
| Familie in der Stadt beschrieben. Ein armes Leben. Mühsal und schlimme | |
| Mitmenschen. Schweigsame Eltern. Eine unfrohe Welt. [2][Der Umzug auf die | |
| Insel ist auch eine Flucht]. | |
| Mit dem Schuleschwänzen könnte die Handlung jetzt noch einmal Fahrt | |
| aufnehmen. Hans Roleder könnte jugendliche Abenteuer erleben, Menschen | |
| treffen, gute und böse, Orte entdecken. Das Buch könnte sich [3][vom | |
| Außenseiterroman], der es bis dahin ist, zum Ausreißerroman entwickeln. Das | |
| könnte ganz schön sein. Als Leser*in wäre man auch auf vertrautem | |
| Terrain, Tom-Sawyer-Vibes könnten entstehen. Doch so wird es nicht kommen. | |
| Der Autor Dirk Gieselmann, der bisher vor allem journalistisch gearbeitet | |
| hat und mit dem „Inselmann“ jetzt seinen Debütroman vorlegt, hat genau | |
| dafür ein großes Talent: Geschichten aufblitzen zu lassen, sie anzureißen, | |
| vor dem inneren Auge der Leser*in schon aufflackern zu lassen – und sie | |
| dann aber eben nicht auszuführen. | |
| ## Auf einem Ruderboot versteckt | |
| Denn was macht dieser Hans Roleder, statt zur Schule zu gehen? Er reißt | |
| keineswegs aus. Er versteckt sich nur auf einem Ruderboot im Schilf des | |
| Sees, eine Woche lang während der Schulstunden. Gieselmann beschreibt das | |
| so: „Eine Böe kam heran, das Wasser wurde kraus, dann war die Böe bei Hans, | |
| strich ihm durch sein Haar und war schon wieder fort. Die Blätter in den | |
| Bäumen rauschten mit Verspätung. Hans nahm alles wahr. Eine Ameise erklomm | |
| jetzt seine Schulter, versprengte, kühne Heldin eines Trupps. […] Dann | |
| machte er ein Schläfchen.“ | |
| Windböen, Blätterrauschen, Ameisen. Wieder: Mehr passiert erst einmal | |
| nicht. Bis nach einer Woche der Schulmeister, den Gieselmann als bösen Mann | |
| eher karikiert als schildert, mit einem Polizisten auf die Insel gerudert | |
| kommt und Hans mitnimmt. Das wird ganz knapp beschrieben. Beim Lesen dieser | |
| Szene hat man Comicbilder im Kopf, vom traurigen Hans, der sich am liebsten | |
| in den See stürzen würde, und vom übermächtigen Schulmeister, der auf | |
| einmal viele Arme zu haben scheint. | |
| Hans kommt in eine Besserungsanstalt im Moor, „die Burg“ geheißen. Und was | |
| macht Hans da? „Wenn er die Augen schloss, dann sah er Farben, die es im | |
| Moor nicht gab. Dann nahm er alles wieder wahr. Die Insel, er vergaß sie | |
| nicht, sie wurde immer schöner. Er sah die Sonne in den Blättern funkeln, | |
| er selbst rücklings auf der Wiese. […] Er sah das Glitzern auf dem Wasser | |
| in der Nacht bei Vollmond. Er wusste auch noch, wie Harz am Stamm der Tanne | |
| roch.“ | |
| ## Sehnsucht nach Kargheit | |
| Wieder Naturwahrnehmungen, diesmal wie geträumte. Dieser Übergang von der | |
| realen Naturschilderung zur imaginierten (und zurück) ist eine Kernbewegung | |
| dieses Romans. Irgendwann weiß man gar nicht mehr, ob es die reale Insel in | |
| all ihrer Kargheit ist, die sich zum Sehnsuchtsort für Hans entwickeln | |
| wird, oder die geträumte Insel. Am Anfang wird klar, dass seine Eltern Hans | |
| mit auf die Insel zwingen; am Schluss wird er freiwillig allein auf ihr | |
| bleiben. Reale Abgeschiedenheit und imaginierte Innerlichkeit gehen als | |
| Zufluchtsorte ineinander über. | |
| Die Sprache muss in diesem Buch einiges leisten, sie muss in diesen oft nur | |
| angerissenen, manchmal wie hingetupften Szenen die Nähe zu Hans herstellen. | |
| Dirk Gieselmann versucht das mit eindringlichen, oft wie geschnitzt oder | |
| gedrechselt wirkenden Sätzen. Auf manche Sätze legt er dabei zu viel Druck. | |
| „Es war so kalt, dass selbst der Wind fror“, lautet gleich der erste Satz. | |
| Später heißt es irgendwann: „Merkt der See, dachte Hans, wenn ich in ihn | |
| weine?“ Das sind sentimentale, zu dick aufgetragene Stellen. | |
| Es gibt aber auch großartige Sequenzen. Wie, ganz kurz nur, der Einbruch | |
| der Schafskälte beschrieben wird, wie der verwilderte Hund auf der Insel | |
| langsam wieder zutraulich wird, wie am Schluss des Buches die Zeit auf der | |
| Insel ins Rutschen kommt und aus Tagen Jahre werden, das ist schon wirklich | |
| gut beschrieben. | |
| ## Hart an der Naivität vorbei | |
| Immer wieder kann Dirk Gieselmann auch einen Legendenton herstellen, der | |
| hart an der Naivität vorbei auf Wahrhaftigkeit zielt. Wie Schattenrisse | |
| kommen einem manche Szenen vor, aber doch gleichzeitig auch so, dass sie im | |
| Kopf der Leser*in Farben und Volumen annehmen. Dann ist es, als könne der | |
| Text die Einsamkeit selbst zum Sprechen bringen. Und es wird klar, dass | |
| sich aus der Realität jenseits der Insel herauszuziehen, für diesen Hans | |
| eine Überlebenstechnik darstellt. | |
| Insgesamt dreht sich der Roman schließlich in eine Flucht hinein, in eine | |
| Flucht nach innen und auf die Insel. Mit der übrigen Welt will Hans Roleder | |
| irgendwann nichts mehr zu tun haben. Eskapistisch kann einem dabei aber | |
| auch der Roman selbst irgendwann vorkommen. Mögliche Anschlüsse an gängige | |
| Dramaturgie oder aktuelle Themen scheint es jedenfalls geradezu zu | |
| verweigern. | |
| Einmal, als Hans aus der „Burg“ wieder entlassen ist, nimmt ihn eine Frau, | |
| Irma, mit zu sich nach Hause. „Kommst du mit rein? – Ich weiß nicht. – A… | |
| ich. Na, komm.“ Aber schon vier Sätze weiter schleicht sich Hans wieder aus | |
| dem Zimmer. | |
| ## Holzschnittartige Figurenzeichnung | |
| Vor allem aber sind die Gegenfiguren des Romans – der mürrische Vater, der | |
| „Mettwurstjunge“ genannte Sohn des Schlachters, der Hans schlägt, der | |
| Schulmeister, der Aufseher in der Besserungsanstalt – so holzschnittartig | |
| gezeichnet, dass reale gesellschaftshistorische Bezüge (es wurde ja | |
| tatsächlich mit Menschen so umgesprungen) zwar aufflackern, aber auch nicht | |
| weit führen. | |
| Dass einen dieses leise – im Leisesein dann aber wieder auch recht laute – | |
| Buch, das eine interessante Mischung aus Demut dem Schicksal von Hans | |
| gegenüber und Selbstbewusstsein in Bezug auf die Möglichkeiten der | |
| Erzählsprache aufweist, so auffallen kann, hat aber trotz allem Eskapismus | |
| womöglich dennoch etwas mit der Gegenwart zu tun, mit dem Trend zur | |
| Autofiktion nämlich. Die Frage ist, ob es nicht eine Gegenbewegung dazu | |
| versucht. | |
| Argumente in diese Richtung ließen sich finden. Statt konkrete Bilder, | |
| Erinnerungen und gesellschaftliche Verhältnisse erzählerisch abzuklopfen, | |
| dreht der Roman sich ins Zeit- und Ortlose hinein – „vielleicht geschieht | |
| es heute, gerade jetzt. Vielleicht ist es niemals geschehen oder wird noch | |
| geschehen“, heißt es einmal. Außerdem zielt nichts an dem Buch auf Analyse | |
| gesellschaftlicher Verhältnisse. Oder, wenn man denn so will, höchstens in | |
| dem pauschalen Punkt, dass die Realität als so traumatisch erfahren wird, | |
| dass die Szenen noch nicht einmal genau hingucken mögen. | |
| ## Im Schatten der Machtverhältnisse | |
| Doch mit einem Ansatz wie dem, hier eine Gegenbewegung zur Autofiktion | |
| wahrzunehmen, beschwert man dieses in vielem dann eben doch auch leichte | |
| Buch allzu sehr. Und womöglich wäre sogar eher von einer | |
| Komplementärbewegung zu sprechen: Der Roman kann einem wie der Schatten der | |
| gegenwärtigen Bücher vorkommen, die sich ganz direkt mit Macht- und | |
| Geschlechtsverhältnissen auseinandersetzen. | |
| Stattdessen lassen sich aber auch zwei Gründe benennen, diesen Roman gut zu | |
| finden, einen fragwürdigen und einen guten Grund. Der fragwürdige: Er | |
| triggert die Sehnsucht nach dem Lesen als Möglichkeit des Rückzugs an. | |
| Identifikation mit Hans kommt zwar nicht auf. Aber schon große und manchmal | |
| eben auch erzählerisch erpresste Nähe. Man möchte diesen Hans eigentlich | |
| die ganze Zeit während des Lesens in den Arm nehmen. Das Inselmotiv mit | |
| seinen Wallungswerten von Echtheit und Erlösung tut ein Übriges. | |
| Der gute Grund: Der Roman ist in sich ungeheuer konsequent. Er spielt den | |
| Wunsch, herauszutreten aus der Gesellschaft, ja, aus der Wirklichkeit, so | |
| eindringlich durch, dass gängige Landfluchtromane dagegen blass wirken. Und | |
| er erwischt auch einen Moment des Atemholens in diesen Debatten- und, nicht | |
| zu vergessen, Kriegszeiten. | |
| Man sollte den Roman wohl wirklich nicht allzu sehr beschweren. Insgesamt | |
| erscheint er wie ein einziger Seufzer. Man liest ihn, atmet tief durch und | |
| kann sich dann wieder der Gegenwart zuwenden. | |
| 13 Mar 2023 | |
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