| # taz.de -- Roman „Hinterher“ von Finn Job: Die Befreiung liegt in Fetzen | |
| > Berlin ist auserzählt, also brechen die Protagonisten mit einer Tüte | |
| > Drogen in die Normandie auf: Das ist der Plot von Finn Jobs Debütroman | |
| > „Hinterher“. | |
| Bild: Möwen auf einem Kai in der Normandie: auf der Suche nach der verlorenen … | |
| Neukölln ist ein düsterer Ort. Der Protagonist hastet vorbei „an den | |
| streitenden Junkies“, den „verschleierten, vielleicht siebenjährigen | |
| Mädchen“, „den Wohlstandsverwahrlosten, die sich aus Gründen, die mir imm… | |
| rätselhaft bleiben würden, betont hässlich anzogen“, „schließlich vorü… | |
| an dem salafistischen Schlüsseldienst“. | |
| Ein angry young man kämpft sich hier über die Sonnenallee, die Angst schürt | |
| seinen Zorn, denn Berlin ist ein gefährliches Pflaster, eine Stadt, „in der | |
| man von gewaltbereiten Mittvierzigerinnen verprügelt werden konnte, wenn | |
| man sie versehentlich siezte“, in der man aber ganz sicher | |
| zusammengeschlagen wird, wenn man sich als schwules Paar auf der Straße | |
| küsst oder als Jude eine Kippa trägt. Dem Erzähler und dessen israelischem | |
| Freund Chaim ist eben das widerfahren. | |
| Als er die arabischen Schläger daraufhin als „Pack“ bezeichnete, brachte er | |
| auch noch seinen linken Freundeskreis gegen sich auf. Nun ist Chaim zurück | |
| nach Tel Aviv gegangen und er schlägt sich ganz allein durch den | |
| Höllenpfuhl der Hauptstadt, hält sich nur mühsam mittels einer Rezeptur aus | |
| Speed, Kokain und Welthass den Liebeskummer vom Hals. | |
| Das Angebot eines Bekannten, mit ihm den Sommer in der Normandie zu | |
| verbringen, verspricht eine willkommene Ablenkung. Zuvor muss er aber | |
| zunächst noch vor einem breitschultrigen Antifaschisten fliehen und sich | |
| von einem Fahrrad vom Bürgersteig fegen lassen. | |
| ## Keine Furcht vor Klischees | |
| Ohne Furcht vor Klischees entwirft Finn Job zu Beginn seines Debüts | |
| „Hinterher“ das Setting für einen Berlin-Roman, doch erweisen sich diese | |
| ersten Kapitel bald als sehr komprimierter Abgesang auf das Genre. | |
| Die viel beschworene Freiheit der Stadt ist längst zur Bereitschaft | |
| verkümmert, jeden nach den eigenen Maßstäben zu verachten. Im Hintergrund | |
| hört man leise Thomas Bernhard schimpfen, wenn Jobs Ich-Erzähler sich | |
| gleichermaßen über antisemitische Araber wie Linke, woke Studenten und | |
| dümmliche Künstler auskotzt. | |
| Man ist ein bisschen erleichtert, als sich der arbeitslose Tagedieb mit | |
| seinem Gefährten Francesco und einer Tasche voller Drogen nach Frankreich | |
| aufmacht. Der Ton bleibt jedoch ähnlich, die Weltsicht dieselbe. Nicht nur | |
| Berlin ist auserzählt. Die Normandie erweist sich als ärmlicher Landstrich | |
| mit verhärmten Menschen. | |
| Die beiden kommen in der Villa eines Künstlers unter, der zusehends dem | |
| Wahnsinn verfällt. Aus Paris hat er eine Gruppe Geflüchteter auf sein | |
| Grundstück gelockt, studiert nun den ABBA-Hit „Super Trouper“ mit ihnen ein | |
| und hofft, dass sie ihm aus Dankbarkeit sein Haus renovieren. Eine Figur, | |
| die sichtlich für Europa stehen soll, einen Kontinent im Verfall. | |
| ## Melancholie: privat und politisch | |
| Der Erzähler spürt den Niedergang, seine wütende Melancholie ist zugleich | |
| privat und politisch. In Frankreich findet er nur die Abwesenheit des | |
| verlorenen Geliebten Chaim und Spuren des Häuserkampfes anno 1944 vor. Ein | |
| Rückblick führt zur letzten gemeinsamen Reise nach Nizza, das Paar verließ | |
| die Stadt nur wenige Tage vor dem islamistischen Anschlag. | |
| „Und als wir dann die Bilder sahen, die Bilder vom weißen LKW, die Bilder | |
| von den abgedeckten Leichen, überall versprengt zwischen den Palmen, unter | |
| den Palmen, da war es, als hätten wir unser letztes gemeinsames Paradies | |
| verloren.“ | |
| Unüblicherweise gibt der Verlag in der Kurzbiografie des Autors das genaue | |
| Geburtsdatum an. Es ist der 8. Mai 1995. Fünfzig Jahre nach dem „Tag der | |
| Befreiung“ ist Finn Job geboren. In seinem Roman streut er Hinweise darauf, | |
| dass das Unglück seines haltlosen Erzählers historische Gründe hat, dass | |
| die Trümmer des 20. Jahrhunderts sich zu hoch auftürmen, um über sie hinweg | |
| noch eine Zukunft für sich zu erkennen. | |
| Deswegen auch der sehr deutlich sprechende Titel „Hinterher“: „Chaim hatte | |
| immer gesagt, das Leben nach der Shoah fühle sich an, als sei es eine | |
| einzige Farce, ein einziges Danach, ein Hinterher. Und ich verstand, dass | |
| er das nicht als Jude zu mir gesagt hatte – nicht, oder nicht nur. Ja, mehr | |
| noch: Ich sah überall das Ende nahen, das Ende der Scham.“ | |
| ## Hass, Narzissmus, Ressentiment | |
| Folgt man dieser Sichtweise, konnte der Schrecken über das Verbrechen | |
| wenigstens noch einige Zeit produktiv wirken, konnte so etwas wie Anstand | |
| motivieren, nun aber grassiert nichts mehr als Hass, Narzissmus und | |
| Ressentiment, und alles, was an Schönheit noch zu denken ist, liegt in | |
| unerreichbarer Ferne. | |
| Finn Job lässt seinen Erzähler durch die Proust-Stadt Cabourg flanieren und | |
| in der „Recherche“ lesen, doch seine persönliche Suche nach der verlorenen | |
| Zeit verläuft ohne Ergebnis. Er entdeckt nur ihr Fehlen, erkennt in den | |
| Sätzen nur „Fetzen“, „Gestein längst zersplitterter Planeten, die ich n… | |
| wieder zu einem Ganzen zusammensetzen würde können.“ | |
| Man muss diesem Kulturpessismus nicht folgen, um den Ehrgeiz dieses Autors | |
| zu würdigen. Dieses Debüt gibt sich nicht mit der Schilderung einer | |
| jugendlichen Verlorenheit zufrieden, sondern spürt dessen Ursprüngen in der | |
| Geschichte nach. | |
| 21 Oct 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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