| # taz.de -- Am kürzeren Ende der Sonnenallee: Mit dem Moskwitsch in den Westen | |
| > Ein Teil der Sonnenallee lag bis zum Mauerfall im Osten. Die Ecke war öde | |
| > und grau. Eine persönliche Erinnerung an das Leben im Schatten der Mauer. | |
| Bild: Blick auf das Mauerdenkmal entlang der Sonnenallee | |
| Berlin taz | Von ihrem elterlichen Wohnzimmer aus schaute man auf die Mauer | |
| an der Sonnenallee. Wir standen selten dort und blickten auf die graue | |
| Grenze aus Beton und Stacheldraht, die die Sonnenallee in einen langen Teil | |
| im Westen und eine sehr kurze Strecke im Osten trennte. Für Christiane und | |
| mich, meine Schulfreundin Anfang der 80er Jahre, gehörte die Mauer damals | |
| zu unserem Alltag wie heute die Freiheit, die Sonnenallee von oben bis | |
| unten entlangspazieren zu können. | |
| Wir waren Schülerinnen der Erweiterten Oberschule Klement Gottwald. Wir | |
| lernten Tschechisch und saßen ganz hinten in der Mittelreihe nebeneinander. | |
| Die Schule, die heute einem Gymnasium entsprechen würde, gibt es nicht | |
| mehr. In dem Gebäude am Plänterwald ist mittlerweile [1][eine | |
| Gemeinschaftsschule] untergebracht. | |
| Christiane hat immer aufgepasst, alles mitgeschrieben und wusste über alles | |
| Bescheid. Manchmal habe ich von ihr abgeschrieben. Hin und wieder sind wir | |
| nach der Schule direkt zu ihr nach Hause gefahren, in die Sonnenallee, in | |
| einen [2][sogenannten Altneubau] mit einer dreistelligen Hausnummer. | |
| Christiane, ihre Eltern, ihre Schwester und ihr Bruder wohnten in einem der | |
| Q3A-Blöcke, die 1962 an der Sonnenallee bis dicht an die Mauer hochgezogen | |
| wurden. Fünf Personen, 55 Quadratmeter, zweieinhalb Zimmer. Zwischen den | |
| Häusern Wiesen mit Teppichklopfstangen und Wäscheleinen. | |
| Wenn wir nach der Schule zu Hause bei Christiane ankamen, war meistens ihre | |
| Mutter da. Die war Hausfrau und damit eine der wenigen Frauen, die damals | |
| nicht arbeiten gingen. [3][In der DDR arbeiteten alle Mütter,] selbst die | |
| mit ganz kleinen Kindern. Nur eben Christianes Mutter nicht. Ich war | |
| schockiert, so ein Hausfrauendasein kannte ich nur aus dem Westfernsehen. | |
| ## Feine Leberwurst aus dem Westen | |
| Ohnehin war der Westen für Christiane viel näher als für mich und alle | |
| anderen in unserer Klasse. Christiane hatte jede Menge Westverwandtschaft, | |
| und die schickte fortlaufend Carepakete: [4][Nutella, Kaffee, Jeans, | |
| Pelikanfüller]. Ich fuhr gern zu Christiane in die Sonnenallee, dort roch | |
| es nicht nur nach dem Westen, dort war der Westen zu Hause. Davon wollte | |
| ich unbedingt profitieren. In den Westpaketen lagen auch Brot, Butter, | |
| Käse, Schinken. Besonders scharf war ich auf die feine Leberwurst – so | |
| sahnig und weich, dass sie im Mund dahinschmolz wie Buttercreme. | |
| Eine [5][„Kaufhalle“ von innen] kannte Christiane nur von den wenigen | |
| Momenten, in denen sie mit uns anderen einkaufen ging. Einen Klamottenladen | |
| brauchte meine Freundin sowieso nicht, ich hatte sie, glaube ich, noch | |
| nicht einmal in einem Ostschlüpper gesehen. Man könnte es auch so | |
| formulieren: Christianes Familie lebte im Westen, sie wohnte nur im Osten. | |
| Ein paar Jahre später hat es der Westen bekanntermaßen auch ans kürzere | |
| Ende der Sonnenallee geschafft. Die Häuser wurden saniert, manche erhielten | |
| einen farbigen Anstrich, andere blieben grau. An Parterrewohnungen wurden | |
| Terrassen angebaut, und da, wo früher die Wäsche zum Trocknen aufgehängt | |
| wurde, parken heute Autos. Aber die damalige Traurigkeit am gefühlten Ende | |
| der Welt ist bis heute geblieben. | |
| Bis auf einen Edeka-Supermarkt bietet die Ostseite der Sonnenallee | |
| keinerlei Infrastruktur. Kein Café, keinen Blumenladen, keinen Späti. Man | |
| muss die in den Boden eingelassene Kopfsteinpflastermarkierung des | |
| einstigen Mauerstreifens hundert Meter hinter sich lassen, um [6][auf der | |
| Neuköllner Seite der Sonnenallee] auf ein erstes Restaurant zu stoßen. Das | |
| kroatische Lokal ist – von Ost wie West – so gut besucht, dass man am | |
| Sonntagmittag ohne Reservierung kaum eine Chance auf einen Platz hat. | |
| ## Die Sonnenallee im Osten – das Paradies am 9. November | |
| Auch hier ist die Sonnenallee kein touristisches Highlight. Am 9. November | |
| 1989 indes war diese Ecke für mich das Paradies: Gegen halb elf nachts saß | |
| ich in einem [7][weißen Moskwitsch], der Wagen schob sich vorbei an den | |
| Massen, die auf das Auto klopften und Sektkorken knallen ließen. Der | |
| Moskwitsch gehörte dem Musiker Simon Stalter, damals Frontmann von Franky, | |
| einer Band, die neben eigenen Songs Funk- und Soulnummern coverte und damit | |
| durch die DDR tingelte. Ihren Namen bekam die Band, weil die meisten | |
| Gründungsmitglieder Frank hießen. | |
| Am Abend des 9. November spielte Franky mit anderen Bands aus dem | |
| sozialistischen Osteuropa im „Haus der jungen Talente“ in Berlin-Mitte vor | |
| Plattenfirmen aus dem Westen, eine geschlossene Promo-Veranstaltung für | |
| Gruppen aus Ungarn, Rumänien, der DDR und der Sowjetunion. Ich war dabei, | |
| weil ich über Franky einen Artikel schrieb und die Band eine Weile | |
| begleitete. Es war unruhig im Saal, der Franky-Drummer lief ständig raus | |
| zu seinem Wartburg und versorgte uns aufgeregt mit aktuellen Nachrichten | |
| aus dem Autoradio: Pressekonferenz, live! Schabowski hat Westreisen | |
| genehmigt! Was? Heute Abend nehme ich den direkten Weg nach Hause – durch | |
| Westberlin, ha, ha. | |
| Wir zeigten ihm einen Vogel. Bis Sänger Dirk Zöllner von Die Zöllner von | |
| der Bühne rief: „Ich würde alle bitten noch hierzubleiben, für die Bands, | |
| die noch auftreten, aber: Die Mauer ist auf.“ Doch es dauerte keine fünf | |
| Minuten, und der Saal war leer. [8][Simon Stalter sagte zu mir: „Lass uns | |
| rüberfahren.“] | |
| ## Eine Kneipe so dunkel wie die Nacht | |
| Mit dem Moskwitsch rasten wir zur Friedrichstraße, war ja gleich um die | |
| Ecke. Die war voller Menschen, keine Chance für uns. Dann eben zur | |
| Sonnenallee, dort kam man ja auch mit dem Auto rüber. In der Mitte des | |
| Grenzübergangs, ungefähr da, wo heute das Mauerdenkmal „Übergang“ steht�… | |
| hielten wir uns an den Händen: Ist es tatsächlich wahr? Im Schritttempo | |
| rollten wir durch den Jubel – und fanden uns hinter dem „antifaschistischen | |
| Schutzwall“ im Nichts wieder. Die Neuköllner Sonnenallee war dunkel, öde | |
| und menschenleer. Das soll der Westen sein? Und wohin jetzt? | |
| Wir landeten auf dem Ku’damm, am Lausitzer Platz und irgendwann in der | |
| Wiener Straße in einer Kneipe, an deren Wände Tarnnetze hingen. Es war drin | |
| fast so dunkel wie draußen, mit Luft wie aus dem Chemiekombinat Bitterfeld | |
| und so leer wie die Sonnenallee heute im Osten. Am Tresen flüsterte ein | |
| Mann seinem Bier etwas zu, hinterm Tresen stand Moni. | |
| [9][„Wie? Die Mauer ist auf?“] Wirtin Moni hatte nichts mitbekommen, Monis | |
| Kneipe war in der Nacht so abgeschnitten von den Breaking News wie Dresden | |
| vom Westfernsehen. „Und ihr habt jetzt rübergemacht?“ Moni konnte es nicht | |
| fassen, schrieb etwas auf einen Bierdeckel und schob ihn rüber zu Simon: | |
| „Habe das erste mahl einen Ostler gesehen sieht genau aus wir alle Danke. | |
| moni“ | |
| 10 Feb 2023 | |
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| Simone Schmollack | |
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