| # taz.de -- Neues Buch von Édouard Louis: Identität ist wandelbar | |
| > In „Anleitung ein anderer zu werden“ beleuchtet Édouard Louis die | |
| > Widersprüche, in die sich Figuren in einer Welt sozialer Unterschiede | |
| > verstricken. | |
| Bild: New York 2017: Autor Édouard Louis und die Schauspielerin Hailey Gates | |
| Der soziale Aufstieg ist in unserer Gesellschaft die Ausnahme. Und doch | |
| gibt es sie: Als Klassenübergänger bezeichnet die französische Philosophin | |
| Chantal Jaquet all jene, die den ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Ort | |
| verlassen, um in ein neues Milieu zu wechseln. | |
| Doch unter welchen Bedingungen geschieht das Unwahrscheinliche, welche | |
| Folgen hat der Aufstieg für die Klassenübergänger selbst – und wie erleben | |
| sie ihn? Es ist nicht die Sozialwissenschaft, sondern das in Frankreich | |
| besonders florierende literarische Genre der Autosoziobiografie, das | |
| sich in den letzten Jahren zu einem privilegierten Ort entwickelt hat, | |
| diese Fragen zu erörtern. | |
| [1][Édouard Louis], neben [2][Annie Ernaux] und [3][Didier Eribon] einer | |
| der literarischen Stars dieses Genres, legt nun seinen neuen Roman vor: | |
| „Anleitung ein anderer zu werden“. Nach Reflexionen über seinen Vater („… | |
| hat meinen Vater umgebracht?“) und seine Mutter („Die Freiheit einer Frau)�… | |
| lässt sich Louis’ neues Werk als direkte Fortsetzung der in „Das Ende von | |
| Eddy“ begonnenen auto-ethnografischen Erzählung lesen. | |
| ## Herkunft und sozialer Aufstieg | |
| Getreu seines erklärten Mottos, immer nur dieselbe Geschichte erzählen zu | |
| wollen, bilden Herkunft und sozialer Aufstieg des Autors und Ich-Erzählers | |
| erneut den Grundstoff der Geschichte. | |
| Eddy Bellegueule ist der schwule Sohn einer Arbeiterfamilie aus dem Norden | |
| Frankreichs, der sich Stück für Stück in den bürgerlichen Intellektuellen | |
| Édouard Louis verwandelt. Von der leidvollen Kindheit und Jugend in der | |
| nordfranzösischen Provinz über die Flucht nach Amiens, das dortige Studium | |
| und einen Aushilfsjob im Theater, bis zum Umzug nach Paris und der Aufnahme | |
| an die Eliteuniversität École normale supérieure erstreckt sich die | |
| Erzählung. An deren Ende veröffentlicht Louis seinen ersten Roman, „Das | |
| Ende von Eddy“. | |
| Es sind vor allem die prägenden Begegnungen und Beziehungen auf dieser | |
| Reise, von denen das Buch erzählt. Da sind etwa die beiden | |
| Bibliothekarinnen Stéphanie Morel und Pascale Boulnois, mit denen sich der | |
| schüchterne und sensible Junge, der auf dem Dorf überall als Schwuchtel | |
| beschimpft wird, anfreundet, weil die Ruhe der Bibliothek für ihn einen | |
| Schutzraum bietet. Da ist die Theaterchefin Babeth, die ihm, beeindruckt | |
| von seiner Leidenschaft und seinem flehenden Blick, einen Job als | |
| Kartenabreißer in ihrem Haus in Amiens anbietet. | |
| ## Klassische Musik und Arthouse-Filme | |
| Und da sind Elena und ihre Mutter Nadya, die den jungen Eddy erstmals in | |
| die Welt des Bürgertums einführen. Zwischen Édouard und Elena entsteht eine | |
| transformative Freundschaft. Von ihr lernt Édouard, dass man zum Abendessen | |
| ein Gespräch führen kann, statt vor dem Fernseher zu sitzen. Er hört | |
| klassische Musik, geht ins Kino, schaut Arthouse-Filme und versinkt in | |
| einer für ihn unendlich distinguierten und faszinierenden Welt, die sich so | |
| radikal von der seiner Eltern unterscheidet. | |
| Es sind zunächst Frauen, die sich als Förderinnen des Erzählers erweisen | |
| und so den Grundstein für seine rettende Verwandlung legen. Die Männer | |
| bevölkern vor allem den zweiten Teil des Buches. Besonders einschneidend | |
| ist für Édouard die Begegnung mit einem Philosophen namens Didier Eribon, | |
| in dessen Buch „Rückkehr nach Reims“ er seine eigene Geschichte | |
| wiedererkennt und der zu seinem wichtigsten Mentor und Vorbild wird. | |
| Édouard will so werden wie er. Er will ein Leben als Intellektueller leben. | |
| Nicht nur in dieser Episode zeichnet sich der Ich-Erzähler durch einen | |
| unbändigen Willen zur bewussten Transformation des Selbst aus. Dieser | |
| Wille, erklärt er, rührt zunächst aus einem Gefühl des Scheiterns an den | |
| Ansprüchen der eigenen Familie und seines sozialen Umfelds. Es ist eine | |
| Veränderung aus Notwehr: „Ich musste eine Daseinsberechtigung für einen | |
| Körper und eine Geschichte wie meine finden, mehr nicht.“ | |
| Louis zitiert die Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die von der | |
| unerschöpflichen transformativen Energie gedemütigter Kinder schrieb. Und | |
| das gedemütigte Kind Eddy übt Rache: Rache an den Eltern, Geschwistern und | |
| Mitschülern. Rache an all jenen, die den sensiblen Jungen jahrelang als | |
| Schwuchtel ausgegrenzt hatten. | |
| Rache auch an der Gesellschaft, die verächtlich auf das Milieu seiner | |
| Herkunft blickt und ihm immer wieder eintrichtert: Aus Leuten wie dir wird | |
| nie etwas. „Alle Leben zu leben war meine Rache für die Tatsache, dass man | |
| mir bei der Geburt einen bestimmten Platz zugewiesen hatte.“ | |
| ## Reich, distinguiert, elitär | |
| Zu dieser Rache gehört das Ausleben der eigenen Sexualität, die der | |
| Ich-Erzähler nebenbei als Motor des sozialen Aufstiegs zu nutzen weiß. Er | |
| sucht die Nähe besonders reicher, distinguierter Männer – je elitärer, | |
| desto besser. Er trifft Philippe, der ihn mit auf Partys bei Adeligen | |
| nimmt, er lernt Manuel, den Bürgermeister von Genf, kennen und fläzt sich | |
| auf einer Couch aus Eisbärenfell. Er ahmt das Verhalten seiner Liebhaber | |
| nach, lässt sich hofieren und beschenken, versucht, ihnen mit seinem neu | |
| erworbenen Habitus zu imponieren. | |
| Auch seinen Körper verändert er. Ein Freund finanziert die | |
| Zahnarztbehandlung, um die Spuren der Armut aus seinem Gesicht zu tilgen. | |
| Beim Blick in den Spiegel soll nichts mehr an seine Herkunft erinnern. Das | |
| wichtigste Mittel der Transformation bleibt die Bildung. In einer | |
| unglaublichen Arbeitswut liest der Erzähler Tag und Nacht alles, was er in | |
| die Finger bekommt. Er hat viel aufzuholen. | |
| Dem zeitweise drohenden Abdriften der Erzählung ins Klischeehafte versucht | |
| Louis, durch reflexive Einschübe entgegenzuwirken: „Ich hasse Geschichten | |
| von Kindern, die ihre Rettung Büchern und Bibliotheken zu verdanken haben, | |
| ich finde sie naiv.“ Aber genau so sei es nun mal passiert. Obwohl der | |
| Roman mehrfach mit dem eigenen Anspruch auf Authentizität bricht, trägt er | |
| ihn wie einen Schutzschild vor sich her. Louis versteht sich als | |
| politischer Schriftsteller, und die biografische Dimension seines Werks | |
| verleiht ihm Legitimität. | |
| ## Vorbild Annie Ernaux | |
| Doch auch davon unabhängig hat „Anleitung ein anderer zu werden“ viel zu | |
| bieten. Louis leuchtet die Widersprüche aus, in die sich seine Figuren in | |
| einer Welt unerbittlicher sozialer Unterschiede verstricken. Und er bietet, | |
| auch darin seinem Vorbild Annie Ernaux verwandt, einen genauen Einblick in | |
| den gespaltenen Habitus eines Klassenüberläufers, der das proletarische | |
| Milieu seiner Herkunft verlässt, ohne im Bürgertum je richtig ankommen zu | |
| können. | |
| Egal wie genau Édouard die Codes seines neuen Milieus nachzuahmen versteht, | |
| er bleibt darin auf ewig ein Fremdkörper. Der Preis für seinen Aufstieg | |
| sind dauerhafte Scham über die eigene Herkunft und Schuldgefühle gegenüber | |
| der eigenen Familie und ihrer Klasse. Die Kehrseite seiner naiven | |
| Bewunderung für alles Bürgerliche ist eine oft erbarmungslose Ablehnung | |
| seinem Herkunftsmilieu gegenüber. Édouard denunziert seine Eltern vor den | |
| neuen Freunden als Asoziale – und schämt sich im selben Moment seines | |
| Verrats. | |
| Im Einklang mit dem politisch-literarischen Anspruch seines Autors zeigt | |
| der Roman so, dass ein individueller Aufstieg in einer ungleichen | |
| Gesellschaft nie eine echte Befreiung sein kann, insofern er sich auf dem | |
| Rücken der Zurückgelassenen vollzieht. | |
| ## Zwanghafter Aufstiegswille | |
| Immer wieder verletzt und verlässt der Erzähler geliebte Menschen, weil er | |
| vorankommen muss. Als er auch Amiens schließlich hinter sich lässt, kommt | |
| es zum Bruch mit Elena, der er so viel zu verdanken hat. Der | |
| Veränderungsprozess kennt keinen Schlusspunkt, der zwanghafte | |
| Aufstiegswille des Erzählers macht vor keiner Beziehung halt. | |
| „Anleitung ein anderer zu werden“ ist eine wütende und gleichzeitig | |
| einfühlsame Kritik an den destruktiven Tendenzen der Klassengesellschaft – | |
| und ein Plädoyer für Emanzipation und Selbstermächtigung. Die gute | |
| Nachricht lautet: Identität ist wandelbar, Herkunft kein Schicksal. | |
| Innerhalb gesellschaftlicher Zwänge und Zuschreibungen, die uns an unseren | |
| Platz verweisen, können wir uns handelnd bewegen – und gemeinsam dafür | |
| kämpfen, andere zu werden. | |
| 9 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Pablo Dominguez Andersen | |
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