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# taz.de -- Berlinale Film „Passages“: Ich liebe dich, ich lieb’ nur mich
> Ira Sachs' vielschichtiges Drama „Passages“ folgt Franz Rogowski als
> narzisstischem Regisseur. Der ist zerrissen zwischen Ehemann und einer
> Frau.
Bild: Verführung und Entzauberung: Martin (Ben Whishaw) und Tomas (Franz Rogow…
Der Film ist abgedreht, und sein Regisseur hat seine herrische Strenge
gegen verspielten Charme ausgetauscht. Tomas (Franz Rogowski), der am Set
mit rauem Ton gerade noch einen Schauspieler zurechtwies, steht nun im
Netzshirt bekleidet an der Bar eines Nachtclubs und versucht, seinen
Ehemann Martin (Ben Whishaw) davon zu überzeugen, mit einer Frau (Adèle
Exarchopoulous) zu tanzen. Als dieser ablehnt, übernimmt er achselzuckend
selbst.
Es dauert nur wenige Minuten, bis in „Passages“ die drei Menschen
zusammenkommen, zwischen denen sich im Folgenden ein intensives
Dreiecksverhältnis entspinnt. Noch schneller kristallisiert sich allerdings
heraus, dass es [1][Filmemacher Ira Sachs] („Little Men“) weniger auf das
Erzählen von komplexen Dynamiken als vielmehr auf ein Porträt des Mannes
abgesehen hat, der sie ins Rollen bringt.
„Ich hatte letzte Nacht Sex mit einer Frau“, sagt Tomas seinem Ehemann am
nächsten Morgen. Von einem Geständnis zu sprechen, würde der Sache nicht
gerecht. Reue, gar Scham, empfindet Tomas gegenüber Martin nicht. Im
Gegenteil, schon im nächsten Augenblick bittet er seinen Mann darum, ihm
davon erzählen zu dürfen.
## Empathieloser Narzist
Ohne eine Antwort abzuwarten, berichtet er von den berauschenden Gefühlen,
die er schon so lange nicht mehr empfunden habe. Nüchtern betrachtet,
offenbart das Drama seinen zentralen Protagonisten jäh als empathielosen
Narzissten. Doch Ira Sachs, der ein besonderes Talent für das genaue
Beobachten abseits professoraler Wertungen besitzt, neigt auch in dieser
intimen Charakterstudie nicht zur Pathologisierung.
Stattdessen versteht es „Passages“, den besonderen Bann, in den Tomas erst
Martin und später auch Agathe – die augenscheinlich alles verändernde Frau
– zieht, auf das Publikum auszuweiten. Hier wie dort täuscht er lange über
die unheilvollen Gebiete seiner Persönlichkeit hinweg oder bewirkt
zumindest, dass man sich dazu verleiten lässt, über sie hinwegzusehen. Mit
seiner mitreißenden Getriebenheit und einer nicht zu stillenden Neugier
strahlt er eine Haltung zum Leben aus, die sich jenseits des schrecklich
Alltäglichen bewegt.
Dass der Film mit einer anderen Besetzung als Franz Rogowski genauso gut
funktioniert hätte, ist kaum vorstellbar. Bereits der bestechende Kontrast
aus dessen Körperlichkeit und markanten Gesichtszügen zur flamboyanten
Garderobe der Rolle, bestehend aus bauchfreien Tops und bunten Lederhosen,
verleiht Tomas eine aparte Aura. Gekonnt oszilliert Rogowski zwischen der
kindlich anmutenden Unbedarftheit seiner Figur und ihren kontrollsüchtigen
Facetten.
## Weiter untreu
Besagter Bann ist es auch, der Martin dazu bringt, erstaunlich gelassen auf
den Bericht seines Ehemannes zu reagieren. „Das passiert immer, wenn du
einen Film fertigstellst. Du vergisst es nur“, entgegnet er, versucht an
der Beziehung festzuhalten. Wissend, dass Tomas ihn weiter betrügt. Mit dem
Chaos fertigzuwerden, das Tomas bedeutet, wird kurz darauf auch für Agathe
zur Herausforderung.
Alles sieht danach aus, als würden Agathe und Tomas ein Paar werden und
Martin der Vergangenheit angehören. Doch recht loslassen kann Tomas ihn
nicht, auch wenn bereits ein neuer Mann in dessen Leben getreten ist: Amad
(Erwan Kepoa Falé). Die ausgiebigen Sexszenen fungieren im Film als feiner
Gradmesser dafür, wie sich die Figuren gegenüberstehen.
Aus der hitzigen Sinnlichkeit mit Agathe wird bald nüchterner
Entdeckungswille, während die körperliche Liebe mit Martin erneut
aufflammt. Ihre Inszenierung tut sich durch keinen auffallenden Stil
hervor, auch hier verbleibt Ira Sachs in der Rolle des Beobachters, anstatt
sich künstlerisch aufzudrängen.
So ist „Passages“ trotz der aufwühlenden Ereignisse ein erstaunlich ruhiges
Drama, das die Disruptionen des Daseins als das zeigt, was sie sind:
Gewissheiten zwar, doch jedes Mal auf ihre Art komplex. Diese Komplexität
wird auch Tomas zugestanden, was den Film so reizvoll macht. Dass der Film
dem Zuschauer effektvoll vor Augen führt, was es heißt, sich von einer
narzisstischen Persönlichkeit zunächst verleiten zu lassen und letztlich
entzaubert zurückzubleiben, macht ihn überaus gelungen.
21 Feb 2023
## LINKS
[1] /Berlinale-Regisseur-ueber-New-York/!5277873
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
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