| # taz.de -- Debütroman von Christian Meyer: Bitte, bitte kein Sex | |
| > Klischees von Männlichkeit zu entkommen ist nicht einfach, schon gar | |
| > nicht auf dem Dorf. Davon erzählt Christian Meyer in seinem Roman | |
| > „Flecken“. | |
| Bild: Die Romanfigur Erik zieht die Schlager von Andreas Gabalier der Pornoindu… | |
| Was die „Herren der Schöpfung“ sein sollen, wissen wir aus Herbert | |
| Grönemeyers Song „Männer“ ganz genau: Sie baggern, sind furchtbar stark �… | |
| und weinen heimlich. Auch wenn sie heute ihre verletzliche Seite mehr | |
| zeigen können, scheint dieses Stereotyp nur wenig an Geltung eingebüßt zu | |
| haben. Zumindest in der medialen Darstellung von Maskulinität. Noch immer | |
| präsentiert uns die Werbeindustrie Idealbilder vom athletischen Körper. | |
| Wer sich indessen auf Dating-Apps umschaut, wird dort häufig auf den coolen | |
| und potenten Beschützer treffen. So weit zur spätmodernen Version des | |
| antiken Heros. Er brach in den frühen Epen auf, fand im Laufe der | |
| Kulturhistorie Einlass in die Abenteuerliteratur, gewann Gestalt in Figuren | |
| wie dem Freibeuter, dem tarzanhaften Wilden oder dem Liebhaber vom Schlage | |
| eines Don Juan. | |
| Eine ganz besondere Blütezeit erfuhr der Held noch einmal in der Weimarer | |
| Klassik. Mit Wallenstein beschwor Friedrich Schiller einen gewiss | |
| zögerlichen, aber mithin archaischen Kriegsfürsten herauf. Und spätestens | |
| mit Johann Wolfgang Goethes Faust zog der Mythos des männlichen | |
| Schaffensdrangs in die Moderne ein, an den dann wiederum Autoren wie Ernst | |
| Jünger oder Stefan George anknüpften. So beeinflusste die Fiktion letztlich | |
| sukzessive die Entstehung patriarchaler Ikonen des 20. Jahrhunderts. Erst | |
| bildete sich der soldatisch-faschistische Typus heraus, wie ihn Klaus | |
| Theweleit einmal beschrieb, danach schließlich derjenige des neoliberalen | |
| Leistungsträgers. | |
| ## Diese Vorgeschichte macht den Männern das Leben schwer | |
| Dass diese Vorgeschichte den Männern das Leben schwermachen kann, offenbart | |
| sehr anschaulich der Debütroman „Flecken“ von Christian Meyer. Denn sein | |
| Protagonist widerspricht sämtlichen Klischees, vor allem weil er einen | |
| bislang in der zeitgenössischen Prosa kaum vertretenen Typus repräsentiert, | |
| nämlich den Asexuellen. Während seine Jugendfreunde längst geheiratet haben | |
| oder sich von einer Affäre in die nächste stürzen, ist Erik mit sich allein | |
| und mit seinen Schlagern von Andreas Gabalier glücklich. | |
| Akzeptiert wird sein Dasein als Dauersingle jedoch kaum, wie er bei seiner | |
| Rückkehr in den titelgebenden Ort „Flecken“ bemerken muss. Allseits | |
| begegnen ihm skeptische Blicke, und ständig kommen die immer gleichen | |
| Fragen nach dem Beziehungsstatus auf. Mehr noch: Nach dem Suizid seiner | |
| einst besten Freundin, die ihr ganzes Leben vergebens starke Emotionen für | |
| Erik hegte, konfrontieren ihn viele Bewohner seines Heimatortes mit | |
| harschen Vorwürfen. War seine permanente Zurückhaltung in Sachen Liebe | |
| vielleicht gar der ausschlaggebende Grund für ihren Freitod? Hätte er nicht | |
| einfach „seinen Mann stehen können“? | |
| Erik muss sich zu allem Überfluss also nicht nur mit dem Verlust von Neele | |
| auseinandersetzen, sondern zugleich gegen eine überkommene | |
| Geschlechterdogmatik ankämpfen: „Ich finde es ganz furchtbar, ein Mann zu | |
| sein. Oder besser, als Mann von dieser Gesellschaft gelesen zu werden – mit | |
| all den Erwartungen und Zuschreibungen. Es wäre schön, würde man Menschen | |
| einfach in die Schublade Mensch stecken, anstatt in die für Frau und Mann.“ | |
| Um die ersehnte Emanzipation von all den sozialen Projektionen zu | |
| untermauern, zitiert er überdies noch Judith Butler, die Vordenkerin des | |
| Postfeminismus: „Geschlechtlichkeit ist nichts, was man hat, sondern das, | |
| was man tut.“ Diese Praxis, sich selbst einen eigenen Entwurf zu geben, | |
| bedeutet für Erik, in die innere Opposition zur Gesellschaft zu gehen. | |
| ## Antipode zum Mainstream | |
| Trotz seiner kumpelhaften und altruistischen Art erweist er sich als | |
| Solitär und Antipode zum Mainstream. Zum einen gegenüber der heroischen | |
| Maskulinität, zum anderen gegenüber einer generellen Hypersexualisierung | |
| der Verhältnisse. Vornehmlich als Beobachter nimmt er die sexuellen | |
| Eskapaden seines Umfeldes wahr, die gerade auch bei Neele vergeblich dem | |
| Zweck dienten, die innere Leere auszugleichen. | |
| Der Protagonist ist übrigens nicht frei von Unsicherheiten. „Gelassenheit | |
| ist Erik sehr wichtig. Mit der Gelassenheit kommt auch die | |
| Gleichgültigkeit. Und das ist für ihn Glück. Unglück auszublenden.“ Doch | |
| gerade Letzterem, das seine vermeintliche Selbstsicherheit zu gefährden | |
| droht, muss er sich in Flecken stellen, geraten doch mit dem Tod seiner | |
| Freundin zudem unheilvolle Familiengeheimnisse ans Tageslicht. | |
| Dadurch legt der studierte Germanist und 1982 in Lüneburg geborene Meyer | |
| mehr und mehr Risse in seiner Figur frei und greift eine andere | |
| literaturgeschichtliche Linie auf als jene der Front-Kämpfer und Cowboys à | |
| la John Wayne. | |
| Archetypisch scheint sie in der Empfindsamkeit und allen voran in Goethes | |
| Werther angelegt zu sein. Obgleich in ihm schon jener genialische Zug des | |
| romantischen Künstlers sichtbar wird, der ja wiederum keinen Raum für | |
| weibliche Kreativität gestattet, schimmert in ihm etwas Softes auf. | |
| ## Weich und verletzlich | |
| Der Mann wird weich und verletzlich und damit anfällig für Krankheiten und | |
| das Scheitern. Was sich in den Jahrhunderten danach abzeichnet, ist eine | |
| stete Demontage der Erfindung des virilen Helden. Man denke an Georg | |
| Büchners wahnsinnig werdenden Woyzeck oder an die schmächtigen Angestellten | |
| in Kafkas finsterem Romanuniversum. | |
| Heute ist wiederum aus der einst als Schwäche verrufenen identitären | |
| Unklarheit ein Möglichkeitsraum für diverse Selbstbilder in der Prosa | |
| erwachsen. [1][Thomas Meinecke] oder [2][Antje Rávik Strubel] machen es | |
| vor. Queere und trans Figuren erhalten inzwischen in vielen Texten eine | |
| ungeahnte Aufmerksamkeit. | |
| Christian Meyer deutet all diese Linien in seinem Buch nur vage an und | |
| spielt virtuos mit der Oberflächenästhetik des Dorfromans. Reichlich | |
| Situationskomik und absurder Witz bilden den Hintergrund für eine | |
| satirische Soziografie des Kleinbürgertums, das sich zwischen nostalgischer | |
| Schlagerlaune und nachmittäglichem „Bares für Rares“ vor den Krisen der | |
| Zeit flüchtet. Unter dieser Patina eröffnet sich allerdings ein tiefer | |
| liegender Raum. Dort werden wir existenzieller Gefühle der Einsamkeit, | |
| insbesondere vermittelt durch literarische Verweise, gewahr. | |
| ## Zuneigung in Versen | |
| Neben [3][Annette von Droste-Hülshoff] ziehen sich Zitate von Theodor Storm | |
| wie ein roter Faden durch den Roman. Mit dessen Worten bringt Erik seine | |
| Treue und ganz spezielle Zuneigung für Neele zum Ausdruck: „Ich bin mir | |
| meiner Seele / in deiner nur bewusst, / mein Herz kann nimmer ruhen / als | |
| nur an deiner Brust! / Mein Herz kann nimmer schlagen / als nur für dich | |
| allein. / Ich bin so ganz dein eigen, / so ganz auf immer dein.“ | |
| Dieses Poem des Realismus-Autors umfasst für den Protagonisten seinen | |
| Wunsch nach einer platonischen und somit gänzlichen unzeitgemäßen Liebe. | |
| Derlei Passagen aus dem Œuvre des 1817 in Husum geborenen Schriftstellers | |
| eröffnen bewährt utopische Gegenwelten zum Hier und Heute. Nicht zuletzt | |
| die alles transparent machende Pornokultur lässt keine dunklen Zonen der | |
| Imagination mehr zu. Die Dichtung operiert hingegen mit inneren, | |
| immateriellen Bildern. Sie sind nicht greifbar und bergen daher einen | |
| Möglichkeitsüberschuss – eben für alternative Selbstentwürfe und | |
| Beziehungsmodelle jenseits einer heteronormativen und die Sexualität | |
| integrierenden Partnerschaft. | |
| Aber nicht nur in dieser Hinsicht überschreitet der Roman Konventionen. | |
| Indem er stets zwischen den Tagen nach Neeles Tod und den Jahren der engen | |
| Freundschaft der beiden Protagonisten hin und her springt, hält er auch die | |
| Erinnerung und die Vergangenheit in der Gegenwart. Die Grenzen sind diesem | |
| psychologisch äußerst anregenden Werk allesamt offen, genauso wie die | |
| Herzen seiner Figuren, die eben nur in einem anderen Puls als jenem unserer | |
| Epoche schlagen. | |
| 10 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
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