# taz.de -- Neuer Roman von Arnold Stadler: Mit Silberglanz nach Ithaka | |
> Zwischen Odysseus-Feier und Greta-Thunberg-Unbehagen: Arnold Stadlers | |
> neuer Roman nimmt die Figur des alten weißen Mannes auf die Schippe. | |
Bild: Die Insel Lefkada, auf der womöglich schon Odysseus wohnte und die Stadl… | |
Es ist ein Gelaber grenzenlosen Ausmaßes: über politische Korrektheit, die | |
Ersetzung von Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll durch Laktoseintoleranz und Helene | |
Fischer, die gesellschaftliche Abschiebung des Todes in den Krimi, die | |
Umdeklarierung des Menschen zum Verbraucher, den Darwinismus im Sport, | |
Globalisierungs- und Fortschrittswahn, die vermeintliche Allmacht der | |
Virologen und natürlich die Rhetorik der Waffenlieferungen an die Ukraine, | |
die nur noch aus Wendungen wie „Druck machen“ und „muss jetzt liefern“ | |
bestünde. Und, und, und. Einatmen, Ausatmen. | |
Würde der 1954 in Meßkirch [1][geborene Arnold Stadler] in seinem neuen | |
Prosatext nicht mehrfach betonen, dass er eine Romanfigur sei, könnte man | |
den Reigen aus Binsen und Halbgarem glatt für ein Spätwerk halten, das sich | |
glatt selbst überlebt hat. | |
Zumal der Büchner-Preisträger auch genau mit diesem Klischee spielt, muss | |
er sich doch auf einer Lesung im „Event-Hotspot“ Sayn von | |
Besucher*innen anhören, nichts anderes als „das reinste weiße | |
Altmännergeschwätz“ zum Besten zu geben. Und so bemerkt der Erzähler dieses | |
stream of consciousness: „Ich war nun zu jenem bösen alten weißen Mann | |
geworden, der für alles verantwortlich war.“ | |
Liest man all dieses Selbstmitleid und all die damit verbundenen Klagen | |
über eine ach so erschreckende Moderne erst einmal unter den Vorzeichen der | |
Ironie, fällt das anfängliche Lektüreurteil hingegen ganz anders aus. Dann | |
handelt es sich bei „Irgendwo. Aber am Meer“ um ein konzentriertes Porträt | |
eines „Silberglanz“-Haarshampoo-Trägers, der sowohl der Zeit, in der er | |
geradezu darbt, als auch sich selbst fremd geworden ist. | |
Nachdem er also die Schmähungen in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt | |
über sich ergehen hat lassen, steht der Entschluss zu einer hoffentlich | |
erlösenden Sehnsuchtsreise fest. Auf gen Ithaka, lautet die Devise. | |
## Lefkada, die Trauminsel | |
Wie schon in seinem fabelhaften Roman aus dem Jahr 2021 „Am siebten Tag | |
flog ich zurück“, der vor allem auf Reflexionen des Protagonisten im | |
Angesicht des Kilimandscharos basiert, erweist sich Stadlers aktuelles | |
Alter Ego, sobald es auf dem Eiland Lefkada angekommen ist, als | |
Fernschwärmer. Er schaut und bewundert eigentliche die Trauminsel, ohne sie | |
selbst zu besuchen. Aus gutem Grund: Denn der faszinierende Ort soll | |
Chiffre für eine unabschließbare Ich-Suche bleiben, stellte er doch | |
[2][einst schon für Odysseus] den Heimathafen dar. | |
Neben dessen Irrfahrt flicht Stadler zahlreiche andere Fäden in die | |
Erzählung ein. So etwa immer wieder die Ozeanüberquerung Greta Thunbergs | |
auf einem Boot nach New York, wodurch der Vielreiseschriftsteller erneut | |
auch den [3][Klimawandel als zentrales Thema] seiner letzten Texte in | |
unser Bewusstsein zu holen vermag. Vergleichbar mit einem Meeresstrom geben | |
diese beiden narrativen Stränge dem oberflächlichen „Leben […] [ohne] Plo… | |
doch eine Struktur. | |
Zudem wird sie noch von dezent im Roman verstreuten biblischen Motiven | |
gefestigt. Dass nämlich das anfängliche Lesungsdesaster gerade auf den | |
Himmelfahrtstag fällt, dürfte kein Zufall sein. Denn mit der sich daran | |
anschließenden Tour d’horizon verbindet der Protagonist zunehmend | |
metaphysische Fragen über das Menschsein, die Ewigkeit und das Jenseits. | |
Ist Ithaka demnach nur ein Symbol für das lediglich verlockende | |
Himmelreich, gar Paradies? | |
Es scheint so, betreten wird er es trotz Suizidgedanken noch nicht. | |
Stattdessen steht am Ende für den Protagonisten fest, dass er zurückkehren | |
wird. Das titelgebende „Irgendwo“ hat ihm somit wieder zur Orientierung | |
verholfen, und zwar in einer allzu chaotischen Epoche. | |
## Geballte Wucht der Krisen | |
Schließlich äußert sich auch darin eine Ambition des Buches: uns aller | |
Eindruck von einer zerfasernden Gegenwart einzufangen, die uns mit Kriegen, | |
Umweltkatastrophen und Elend überfordert. Stadler konfrontiert die | |
Leser*innen ungefiltert mit der geballten Wucht der unzähligen | |
Krisennachrichten. Dass der Schriftsteller dafür eine prosaische, aus- und | |
abschweifende Form gefunden hat, trägt dieser Darbietungsweise voll und | |
ganz Rechnung. | |
Während der Erzähler derweil die Zielstrebigkeit der Klimaaktivistin | |
Thunberg in einer Mixtur aus Sarkasmus und Bewunderung betrachtet, kommt er | |
selbst einer Neuauflage des Eichendorff’schen Taugenichts gleich und gibt | |
im negativen Umkehrschluss zu erkennen: Mit romantischer Träumerei lässt | |
sich die ökologische Katastrophe nicht verhindern. | |
Wir haben es also mit einem doppelbödigen und ziemlich intelligenten | |
Entwurf zu tun, der eben nicht allein Literatur bleiben will und soll. | |
Alles andere entspräche aus Stadlers Sicht wohl nur wohlfeilem L’art pour | |
l’art. | |
27 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
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