# taz.de -- Europas vernachlässigtes Zentrum: Das Meer in der Mitte | |
> Früher war das Mittelmeer das geistige Zentrum Europas. Heute wenden sich | |
> die Menschen von ihm ab. Über ein Gewässer, das Hilfe braucht. | |
Bild: Das Mittelmeer war einst Zivilisationsgrund. Hier wurden Demokratie und K… | |
Früher hielt man die Gegend hier, das westliche Ende des Mittelmeers, für | |
das Ende der Welt. „Non plus ultra“ – „Nicht mehr weiter“ – soll au… | |
Schildern gestanden haben, die vor dem Atlantik warnten und die Herkules | |
auf dem Felsen von Gibraltar und dem nordafrikanischen Berg Dschebel Musa | |
angebracht haben soll. | |
Heute stehe ich an der Küste im spanischen Tarifa und blicke nicht nach | |
Westen Richtung Atlantik, sondern nach Süden. Von Tarifa aus hat man einen | |
Panoramablick über die Straße von Gibraltar, auf das Rifgebirge bis hin zu | |
den weißen Häusern im marokkanischen Tanger. Gerade mal 15 Kilometer ist | |
die nordafrikanische Küste entfernt. Und trotzdem scheint es, als würde | |
unsere Welt hier aufhören und eine neue beginnen. Früher einte das | |
Mittelmeer das Hier und das Drüben, heute trennt es beide Seiten. | |
Vieles ist nicht mehr so, wie es einmal war, hier am Lieblingsmeer des | |
Massentourismus, an meinem Lieblingsmeer. Es gibt zwar in Tarifa kein | |
Schild mit der Aufschrift „Nicht mehr weiter“. Aber ich hatte dort einen | |
grausamen Gedanken: Europa hat das Mittelmeer aufgegeben. | |
Ende August ist die Saison am Mittelmeer vorbei. Nur die paar Anwohner, die | |
ganzjährig an seiner Küste leben, bleiben. Alle anderen verabschieden sich | |
und drehen dem Mittelmeer den Rücken zu. Bis zum nächsten Sommer. Aber das | |
Mittelmeer stellt nicht die Plastikstühle rein und lässt die Rollläden | |
runter. Es hat immer Saison. Wenn die meisten Europäer weg sind, geht das | |
wilde Zubetonieren in Strandnähe weiter, lassen Fabriken, Gemeinden und | |
Private ihre giftigen Abfälle ins Meer, schlittern die Öltanker knapp an | |
den Küsten entlang, [1][sterben Menschen auf der Flucht nach Europa]. | |
## Mare nostrum – unser Meer | |
Und Europa scheint diese Region immer weniger für Europa zu halten. Es | |
guckt auf das Mittelmeer nicht mehr als Zentrum seiner Identität, seiner | |
Geschichte – seinen Zivilisationsgrund. Es guckt auf diese Gegend nur noch | |
als Grenzregion. Es ist, als würde Europa sich dafür schämen und deshalb | |
wegschauen. Niemand kommt mehr vom Mittelmeer zurück und erzählt, wie schön | |
es war und dann sagen alle: „Neid!“ Mindestens ein Zuhörer fragt: „Keine | |
Flüchtlinge gesehen?“, „Bist du etwa geflogen?“, „Wie kann man da übe… | |
noch guten Gewissens hinfahren?“. Als wäre es ein abgeschiedenes, schwer zu | |
erreichendes, fieses Ungetüm, dem man nicht begegnen will. | |
Dabei ist es – sein lateinischer Name „mare mediterraneum“ betont dies | |
unzweifelhaft – ein Meer zwischen Land, also ein Meer, das Länder | |
verbindet. Es ist mare nostrum. Es ist unser Meer. Und diesen Anspruch | |
sollten wir nicht aufgeben. Denn es geht uns alle an, die wir am und vom | |
Mittelmeer leben. Vor allem aber uns Europäer, als wirtschaftlich | |
mächtigster und damit verantwortlichster Mittelmeeranrainer. Allen | |
Wahlberechtigten dieses Kontinents sollte es ein dringendes Anliegen sein, | |
endlich jemanden zu finden, der unser Meer beschützt. | |
Bei Google hat das Mittelmeer 4,5 von 5 Sternen. Bekannte und geschätzte | |
Eigenschaften: blau und lauwarm. Jeder kennt den Empfang, den das | |
Mittelmeer seinen Besuchern bereitet: Man steigt aus Auto, Bus, Zug oder | |
Flugzeug und die Luft ist heiß, trocken, riecht nach Kiefer, Salz, | |
kochendem Asphalt und Müll, und durch sie durch flirrt ein unaufhörlicher | |
Schwall Zikadengeschrammel. Die Glückstaste rastet ein. | |
Über das Mittelmeer zu schreiben ist eigentlich vermessen. Denn das | |
Mittelmeer ist Universalgeschichte. Kein Text kann seiner ganzen | |
historischen und kulturellen Bedeutung gerecht werden. | |
## Im Mittelmeer reisen heißt „tausend Dinge auf einmal“ | |
Der französische Historiker Fernand Braudel hat sein ganzes Leben mit der | |
Erforschung dieses Raumes verbracht und sein Werk ist bis heute das | |
wichtigste zum Tiefenverständnis des Mittelmeers. Auf die Frage, was die | |
mediterrane Welt ist, schrieb er 1947: „Tausend Dinge auf einmal. […] Im | |
Mittelmeer reisen heißt, auf die römische Welt im Libanon treffen, auf eine | |
prähistorische in Sardinien, auf griechische Städte in Sizilien, auf Spuren | |
arabischer Anwesenheit in Spanien, solche des türkischen Islam in | |
Jugoslawien. […] Es heißt, Altes und Uraltes, das noch lebendig ist, Seite | |
an Seite mit höchst Neuzeitlichem zu finden: den ungeheuren | |
Industriekomplex von Mestre neben dem scheinbar unverrückbaren Venedig, die | |
Fischerbarke, die sich in nichts von dem Boot des Odysseus unterscheidet, | |
neben einem Supertanker oder einem jener Hochseefangschiffe, welche die | |
Meere plündern.“ Es scheint als hätten die Menschen heute all das | |
vergessen. | |
Kein anderes Meer dieser Welt spielt in der Geschichte der Zivilisation | |
eine so wichtige Rolle. [2][Kein anderes Meer dieser Welt hat derart | |
vielfältige Vermischungen und Verbindungen verschiedener Kulturen | |
aufzuweisen.] Es gibt keine autochthone Mittelmeerkultur. Die | |
Zivilisationen am Mittelmeer sind immer als Amalgam verschiedener Kulturen | |
entstanden. Sicher, meistens alles andere als friedlich. | |
Auf dem Mittelmeer wurde Krieg geführt und gehandelt, an seinen Rändern | |
Mensch und Natur unterworfen und ausgebeutet. Aber hier hat man sich nun | |
mal auch die Demokratie ausgedacht (Athen) und den Kapitalismus erfunden | |
(Venedig), hier ist das Zentrum, um das sich die moderne europäische | |
Identität bildete, die die Grenzen in friedlicher Absicht überwinden will. | |
Es sind die Bürger, die Reisenden, die Schriftsteller, die spätestens seit | |
dem 19. Jahrhundert die Mediterranée suchen und sich von ihr inspirieren | |
lassen: das Ideal von Humanität, Weltfrieden und Schönheit. | |
Wo früher Freiheit und Universalismus definiert wurde, heißt es heute | |
„Grenzsicherung“. Das ehemalige Zentrum ist Peripherie geworden. Lager, | |
Zäune, prügelnde und schießende Polizisten, kenternde Schlauchboote und | |
kriminalisierte private Rettungsschiffe, Regierungen, die sich gegenseitig | |
Schuldvorwürfe machen – im Mittelmeer herrscht Krieg. Das Mittelmeer ist | |
ein Schützengraben. Für das UN-Flüchtlingshilfswerk ist das Mittelmeer seit | |
2014 das tödlichste Gewässer der Welt. | |
## Frontex, Affen und der Homo sapiens | |
Schon im Namen der europäischen Küstenwache Frontex steckt der Exit und der | |
Exitus. Dort, wo Industrialisierung, Betonisierung und Touristifizierung | |
überhaupt noch Lücken gelassen haben, werden seit Jahren Leichen angespült. | |
Was die Juden „großes Meer“, die Türken „weißes Meer“, der französi… | |
Dichter Paul Valéry „privilegiertes Meer“ und die britischen Historiker | |
Nicholas Purcell und Peregrine Horden „korruptes Meer“ nennen, könnte man | |
heute schon „tödliches Meer“ nennen. | |
Den besten Blick über dieses Meer haben die 200 Berberaffen auf dem steil | |
aus dem Meer ragenden Felsenzahn von Gibraltar. Sie bedienen sich aus den | |
Rucksäcken der Touristen und fauchen auch mal kurz, wenn man sie bei ihren | |
Meditationen – im Schneidersitz mit Meerblick – stört. Die einzigen | |
freilebenden Affen Europas sind allerdings keine Europäer, wie man lange | |
dachte. Sie kommen vom anderen Ufer, mitgebracht von Mauren zwischen 700 | |
und 1492 – im Zeitalter von al Andalus, als unter arabischer Herrschaft das | |
einzigartige Miteinander von Muslimen, Christen und Juden auch in | |
Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst ungekannte Höhen erreichte. | |
Der britische Premier Winston Churchill sorgte mitten im Zweiten Weltkrieg | |
dafür, dass die Makakenkolonie auf Gibraltar nicht ausstirbt. Er glaubte | |
der Legende, dass die Halbinsel Gibraltar nur so lange britisch ist (was | |
sie seit 1704 ist), wie die Affen auf dem Felsen leben. | |
Es gibt Wissenschaftler, die nicht ausschließen wollen, dass auch der Homo | |
sapiens vor über 200.000 Jahren diesen Weg durch die Straße von Gibraltar | |
nahm, um nach Europa zu kommen. Weder der Berberaffe noch der Homo sapiens | |
hatten eine direkte, 40 Minuten dauernde Fährverbindung zwischen Tanger und | |
Tarifa, wie es sie heute gibt. Aber heute ist es für Marokkaner und andere | |
Afrikaner schwerer als damals für den Homo sapiens, Europa zu erreichen. | |
## Verheißung von Abenteuer und Anderswosein | |
Mein Vater hatte das Glück, kein Meer überqueren zu müssen, um nach | |
Deutschland zu kommen. Er war zwar ein Seefahrer und kam vom Meer, aber von | |
der jugoslawischen Adria. Also hatte ich das Glück, ein südeuropäisches | |
Gastarbeiterkind zu sein. Das brachte zwar in Deutschland einige | |
Unannehmlichkeiten und Absurditäten mit sich, aber auch ein einzigartiges | |
Privileg: ein Haus mit Meerblick. | |
Es gibt diese Jahre in der Schule, wenn sich Freundinnen aus den | |
Sommerferien Postkarten schicken. Ich konnte immer nur die gleiche in den | |
Briefkasten werfen: eine, auf der man eine Kiefer, ein Fischerdorf, einen | |
Strand, fünf Palmen, drei Inseln, das türkise Meer und im Rücken ein | |
Karstgebirge sieht. Ich beneidete die Freundinnen um ihre Postkarten, auf | |
denen mal österreichische Berge waren, mal italienische Kathedralen oder | |
Sandhaufen und Seegras, Windmühlen und Reihenhäuser aus Holz oder | |
Backstein. | |
Tauschen wollte ich aber nie. Ich bin in dem Glauben groß geworden, die | |
dalmatinische Küste sei die schönste Küste der Welt. Bis ich an anderen | |
Küsten am Mittelmeer war und feststellen musste, dass eine italienische von | |
einer spanischen, griechischen oder französischen nicht zu unterscheiden | |
ist: azurblaues Wasser, terrassierte Steilküsten, spärlicher Waldbewuchs, | |
schreckliche und brutalistische Betonburgen, Häfen und Oleander. Es sieht | |
am Mittelmeer eben überall aus wie am Mittelmeer. | |
An unserem Meer durfte ich anders als in Deutschland auf der Straße spielen | |
und mit meinen Freunden abends voll lange raus. Aus unserem Meer kamen die | |
Fische, die der alte Fischer aus dem Dorf morgens an unsere Tür hängte. In | |
unserem Meer sah ich in seinem Glitzern und seinen gemächlichen Wellen die | |
Verheißung von Abenteuer und Anderswosein. In unserem Meer zu sein war | |
pures Glück, was sich etwa so anfühlte wie Mit-allem-eins-sein plus | |
gebratenes Hühnerbein. In unserem Meer lernte ich schließlich schwimmen, | |
ertränkte Liebeskummer, versenkte heiße Träume und vergoss noch viel | |
heißere Tränen, wenn ich es am Ende der Sommerferien wieder verlassen | |
musste. | |
Denn unser Meer war für mich vor allem eins: die große Vertraute, der ich | |
alles erzählen konnte, die immer offene Ohren, vollstes Verständnis und nie | |
einen Rat hatte, aber immer eine Mutmacherin und nie Bedenkenträgerin war. | |
## Vieles, was man übers Mittelmeer erzählt, stimmt nicht | |
Unser kleines Mittelmeerdorf ist relativ jung. Erst im 17. Jahrhundert | |
übersiedelten die zwei Urfamilien aus den Bergen hier ans Wasser. Noch | |
heute gehen nur die Kinder der Bewohner ins Meer, um zu schwimmen. Den | |
Älteren ist es ein eher ungeheurer Ort. Vielleicht wegen seiner Untiefen. | |
Vielleicht aber auch, weil die Vorfahren bewusst nicht hier lebten, weil | |
die Eroberer der Küsten immer übers Meer kamen. | |
Es waren die Phönizier, also die Kultur vom östlichen Mittelmeer, die vor | |
3.000 Jahren die Ersten waren, die das Mittelmeer mit dem Schiff | |
passierten, Handel trieben und den Raum von Zypern über Sizilien bis | |
Spanien dafür kolonisierten. Viele der Zivilisationen am Mittelmeer haben | |
sich übrigens gar nicht direkt an ihm gegründet. Venedig ist die | |
bedeutendste Ausnahme. Rom ist bekanntlich auf Hügeln entstanden. | |
Vieles, was man sich so übers Mittelmeer erzählt, stimmt nicht oder nicht | |
ganz. Ob Goethe oder Ibn Rushd, Karl V., Toto Cutugno oder Paul Valéry – | |
die Landschaften, die auf Fotos, Gemälden, in Gedichten und Romanen | |
besungen, gepriesen und imaginiert wurden, waren schon zu ihren Zeiten | |
nicht mehr unberührt und unschuldig. Das heutige Bild des | |
Mittelmeerbewohners: Er sitzt im Schatten großer Bäume, philosophiert, | |
trinkt Wein, fängt Fische und erntet Oliven. Aber oft besteht die | |
Philosophie aus Verschwörungstheorie, der Fisch kommt tiefgefroren aus der | |
Nordsee und den Leuten fehlt das Geld, um die Impfung ihrer Kinder zu | |
bezahlen. | |
Auch ich hatte lange die Vorstellung, dass es am Mittelmeer keine | |
Müllverbrennungsanlagen, keine Schrottplätze, Krankheiten oder Winter gibt. | |
Aber in unserem kleinen Adriadorf gab es schon in den 80er Jahren Leute, | |
die keine Zimmer an Serben vermieteten, Teil der Bau- und | |
Behördenkorruption waren, ihre Frauen als Hure beschimpften. In den von | |
draußen pittoresk verrottenden Häusern am Mittelmeer geht es mitunter | |
räumlich und moralisch sehr eng, stickig und arm zu. | |
## Urlaub mit schlechtem Gewissen | |
Erst seit den Wirtschaftswunderjahren konnten es sich Arbeiter und | |
Angestellte überhaupt leisten, einmal im Jahr in den Süden zu fahren. | |
„Runter fahren“, wie man im Deutschen so schön sagte. Ich hatte immer ein | |
schlechtes Gewissen dabei. In Deutschland galt meine Familie als arm, in | |
Jugoslawien als reich, und beides stimmte nicht. Die Paradoxie des | |
Gastarbeiterlebens. Dieses unangenehme Gefühl, am Mittelmeer „billigen | |
Urlaub im Elend anderer Leute“ zu machen – wie einst die Sex Pistols in | |
„Holidays in the Sun“ sangen –, bin ich nie richtig losgeworden. | |
Aber das schlechte Gewissen hat die Zivilisation noch nie gerettet. Das | |
schlechte Gewissen führt zu nichts. Es fühlt sich nur schlecht an. Umso | |
länger man es hat und nichts dagegen tut, umso größer wird es. | |
Als in den 90er Jahren die Zerfallskriege Jugoslawiens stattfanden, kehrte | |
ich dem Land tatsächlich den Rücken. Ich wollte da nicht hingucken, nie | |
wieder diesen Ort betreten. Aber mein Vater starb, jemand musste sich um | |
das Haus kümmern. Verkaufen wollte ich es nicht. Vor einigen Jahren saß ein | |
Freund auf meiner Terrasse mit Meerblick. Er ist Deutscher, seine Eltern | |
sind Serben. „Jetzt versteh ich, warum du immer hierher fährst“, sagte er. | |
„Du guckst aufs Meer und hast den ganzen Schlamassel hinter deinem Rücken. | |
Du siehst ihn nicht. Ich komm jetzt auch öfter hierher.“ Damals schauten | |
wir aufs Meer, weil die Probleme hinter uns lagen, heute liegen sie genau | |
dort, in den blauen Wellen und niemand fühlt sich verantwortlich. | |
Als Kind war es mir sehr unangenehm, erklären zu müssen, dass wir nicht | |
nach Italien, sondern nach Jugoslawien fuhren. „Ja, klar fließt da auch die | |
Adria“, sagte ich immer. Ende der 80er Jahre aber war ich dann froh, dass | |
mein Vater nicht vom anderen Ufer stammte. Kolibakterien, Erdöl, Abfall, | |
Abwasser, Pestizide und Erwärmung führten in der Nordkurve der Adria zur | |
„Algenpest“, weil die Strömung gegen den Uhrzeigersinn verläuft und oben … | |
der Lagune von Venedig Stau war. Die Touristen blieben weg. | |
## Tourismus als Schwerindustrie des 21. Jahrhunderts | |
Damals gab es den Yachthafen im Nachbarort unserer Adriaperle noch nicht. | |
In der Bucht stand ein wunderschönes Hotel in Form eines Ufos, das in einem | |
Kiefernwald direkt am Meer gelandet war. An einer kleinen Mole lagen die | |
Fischerboote der Angestellten, die hier putzten, kochten und saubermachten. | |
Heute sind an der kleinen Mole nur noch riesige Plastikschwimmtiere | |
angebunden. Das Ufo am Meer steht leer und gammelt vor sich hin. Aus seiner | |
großzügigen Architektur lässt sich kein schnelles Geld machen. | |
Dafür steht hier jetzt ein sich stetig ausbreitender Yachthafen. Er ist | |
komplett illegal. Präsidenten von links bis rechts waren hier schon zum | |
Fischessen eingeladen, lobten das tolle Projekt, über das als „Mafiahafen“ | |
bereits in den meisten großen Medien des Landes berichtet wurde. | |
Die Handvoll Anwohner hat ein schlechtes Gewissen. Sie wissen, dass der | |
Hafen das Aus für ihre Bucht ist. Aber sie sind froh, dass ihre Kinder hier | |
für ein paar Euro kellnern, putzen und Motoren reparieren dürfen. Bei | |
heftigem Wellengang spült es immer eine Spur Müll in ihre Bucht. Es ist der | |
Müll, der für den Bau des Hafendamms benutzt wurde: Bauschrott, | |
Kloschüsseln und Kühlschränke inklusive. Augen zu und drauf hoffen, dass es | |
ab Juni wieder weniger Wellen gibt und der Dreck im Meer bleibt. | |
„Der Tourismus ist die Schwerindustrie des 21. Jahrhunderts“, sagt der | |
italienische Autor Marco d’Eramo. Selbst der Status Weltkulturerbe schützt | |
nicht vor den verheerenden Auswirkungen. Die Unesco droht seit einigen | |
Jahren dem Staat Montenegro damit, der Bucht von Kotor den Status wieder zu | |
entziehen, weil sie aufs Irrste und Protzigste zubetoniert wird. Montenegro | |
interessiert das nicht. Das [3][Weltkulturerbe zieht die Touristen an und | |
zerstört damit gleichzeitig, was es eigentlich erhalten will]. | |
## Unterlassene Hilfeleistung für das Mittelmeer | |
Man vergisst all diese Geschichten schnell wieder, wenn man zu Hause ist. | |
Zum einen gehört irgendeine Ekelgeschichte zum Sommerurlaub am Mittelmeer | |
immer dazu. Und zum anderen sehen wir Saisonbewohner nicht, was passiert, | |
wenn die Läden dicht, die Lichter aus, die Schilder abgenommen sind. | |
Mittlerweile verlassen die Einwohner ungefähr zeitgleich mit den Touristen | |
ihr Land. Gehen nach Norwegen, Schweden, Australien, um dort Geld zu | |
verdienen. Als Saisonarbeiter. Der Mittelmeerbewohner hat wie das | |
Mittelmeer nie Nebensaison. | |
120.000 Frachtschiffe fahren jährlich im Mittelmeer. Im östlichen | |
Mittelmeer wird unermüdlich nach Öl gesucht. Käme es zu einem Unfall mit | |
einem der Öltanker, könnte das Meer für Jahrhunderte verpestet werden. Eine | |
Regulierung für verbindliche Tankerrouten, die das Risiko minimieren würde, | |
gibt es nicht. Jedes Schiff fährt auf dem Mittelmeer, wie es ihm passt und | |
wie es seinem „Recht auf Passage“ entspricht, die im | |
UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 festgehalten ist. | |
Die unterlassene Hilfeleistung für die Flüchtlinge korrespondiert mit der | |
unterlassenen Hilfeleistung für das Mittelmeer. Europa hat das Mittelmeer | |
aufgegeben wie eine aufgelassene Fabrik im Ruhrpott. Das Mittelmeer ist ein | |
Gebiet, das man verlässt. So verlassen wie die hunderttausend nicht zu Ende | |
gebauten Häuser, Betonklötze mit Flachdach, an deren vier Ecken | |
Metallstangen herausgucken. „Diese Stangen sind die greifbare Metapher des | |
Mittelmeers, sie sind das visuelle Symbol für gescheiterte Pläne, für ein | |
ungedecktes Streben, für Ambitionen, die sich nie erfüllen werden, wie auch | |
die nächste Etage nie gebaut werden wird“, formulierte der kroatische | |
Schriftsteller und Journalist Jurica Pavičić angesichts der | |
Flüchtlingswelle 2015. | |
Wenn mein bester Freund in unserem Adriadorf betrunken ist, singt er seine | |
Lieblingsserenade „Samo moru virujen“, „Ich vertraue nur dem Meer“. Und | |
dann zählt er die Namen alter Angelhaken, Bootsformen und Fischfanglampen | |
auf, Dinge, die von Dalmatinern erfunden wurden. „Aber das weiß ja heute | |
kein Mensch mehr“, sagt er dann immer. Er würde auch gerne ein Lexikon der | |
vergessenen Wörter des venezianisch geprägten Spliter Dialekts schreiben. | |
„Aber wen interessiert das heute?“, sagt er dann immer. Das Mittelmeer ist | |
nicht mehr Ort für Innovation, sondern Destination. | |
## Projektionsfläche für Utopien | |
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem | |
Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs, war das Mittelmeer | |
Projektionsfläche für Utopien. 1933 wurde in Nizza das „Centre | |
Universitaire Méditerranéen“ gegründet und der Dichter Paul Valéry zum | |
Präsidenten gemacht. Atlantropa hieß das Projekt des Schwabinger | |
Architekten Herman Sörgel, der durch den Bau von Staumauern den | |
Mittelmeerspiegel um 120 Meter senken wollte, um so Afrika mit Europa zu | |
verschmelzen. | |
Er verstand sein Projekt als Beitrag zum Weltfrieden, es sollte Afrika | |
davor bewahren, als reiner Rohstofflieferant zu enden. Das Projekt fand | |
großen Zuspruch, Sörgel wurde von der New Yorker Weltausstellung 1939 | |
eingeladen. Die Nazis machten dem Projekt ein Ende. Das „Centre | |
Universitaire Méditerranéen“ in Nizza gibt es zwar noch, es ist aber | |
bedeutungsarm. | |
Das mittelmeerische Denken, das noch der algerisch-französische | |
Intellektuelle Albert Camus als Inbegriff von Wissenschaft und Kunst, | |
Literatur und Philosophie, Technik und Architektur verstand, das | |
mediterrane System als Stichwort, wenn es um das geistige Zentrum Europas | |
geht, ist nichts mehr wert. Dafür umso mehr das 2013 am anderen Ende der | |
Côte d’Azur, in Marseille, eröffnete „Museum der Zivilisationen Europas u… | |
des Mittelmeers“. Fast 200 Millionen Euro war es den Errichtern wert. Es | |
gilt der alte Spruch: Was musealisiert wird, ist tot. | |
Als Kind war für mich alles nördlich von Frankfurt Alaska. Aber nicht nur | |
für mich. Jahrzehntelang war „mediterran“ Synonym für gut essen, gut | |
trinken, gut leben: der Marketingbegriff schlechthin. Aber gucken wir | |
wirklich noch nach unten, wenn wir an Europa denken? Richtet sich der Blick | |
nicht längst nach Norden, wenn es um das europäische Lebensgefühl geht? | |
Dorthin, wo die Hauptstadt Brüssel liegt. Hat das skandinavische | |
Lifestyle-Konzept Hygge nicht längst das mediterrane abgelöst? Es hat | |
sicher auch mit dem Klimawandel zu tun, dass der mediterrane Raum heute in | |
der Uckermark zu Hause ist. Und man geht auch lieber zum Asiaten und nicht | |
mehr so gerne zum Italiener. Der ist nämlich eigentlich viel zu salzig. | |
## Ein bedürftiges Meer | |
So wie das Mittelmeer. Das Wasser aus den europäischen Flüssen reicht nicht | |
mehr, um die hohe Verdunstung auszugleichen. Würde man die Straße von | |
Gibraltar und die Dardanellen schließen, würde das Meer in relativ kurzer | |
Zeit verdampfen und man würde auf dem Meeresboden die Überreste unserer | |
Epoche finden. Auf dem Boden des Mittelmeers sollen heute neben den Leichen | |
der Geflüchteten und den Bergen aus Plastikabfall etwa 100 Schiffe mit | |
giftigem bis hochgiftigem Müll aus Nordeuropa, vor allem Deutschland, | |
liegen. Die kalabrische Mafia weiß von nichts. | |
Tatsächlich ist das Mittelmeer schon mal komplett verdampft. Vor über 5 | |
Millionen Jahren, als die Erdplatten aufeinander trafen. Erst einige | |
Jahrtausende später schwappten Atlantik und Schwarzes Meer in das Becken | |
und bilden seitdem die Meerengen, ohne die das Mittelmeer nicht existieren | |
könnte. Es ist ein bedürftiges Meer: abhängig von zwei Meerengen. Und heute | |
auch abhängig von menschlicher Hilfe. | |
Der französische Historiker Braudel ging 1947 davon aus, dass eine | |
Zivilisation, die Jahrtausende gehalten hat, auch noch weitere tausend | |
hält. So beständig am Mittelmeer die Winde und die Strömungen, die Oliven, | |
der Wein und das Getreide sind: „Sie überleben ihren Wandel und ihre | |
Katastrophen. Bisweilen gehen sie verjüngt aus ihrer Asche hervor. | |
Zerrüttet oder zumindest verwundet, atmen sie gleichwohl weiter: leise und | |
oft in neuem Rhythmus.“ | |
Der britische Historiker David Abulafia hingegen unterteilt in seiner 2011 | |
erschienenen „Biographie“ das Mittelmeer in fünf historische Zeitalter. | |
Unseres hält er für das letzte, in dem die Welt sich um das Große Meer | |
dreht. Dank Flugzeug und Internet sei die Welt längst ein einziger großer | |
Mittelmeerraum geworden, ein Ort der Vernetzung, des Austauschs, der | |
Verbindung und Vermischung der Kulturen. | |
## Es braucht einen Beschützer | |
So gesehen wäre das Mittelmeer eine wirtschaftlich abgehängte Region, seit | |
von hier aus 1492 Amerika entdeckt wurde. Die 2008 gegründete | |
Mittelmeerunion hat daran bisher nichts geändert. Zwar weckt der Name | |
dieses Bündnisses utopische Assoziationen und jedem leuchtet sofort seine | |
Sinnhaftigkeit ein. Allerdings gilt sie als gescheitert, weil sie weder | |
ordentlich finanziert noch ernst genommen wurde. Auch, weil sämtliche | |
EU-Staaten Mitglied sind, also auch Länder wie Finnland, Estland und | |
Irland. Es dürfte klar sein, wer in dieser Union das Sagen hat. | |
Das Mittelmeer aber braucht einen Beschützer, eine einflussreiche | |
Interessenvertretung. Würde man noch mal Ernst machen wollen mit der | |
Mediterranée, könnte man Istanbul zum ständigen Sitz der Kulturhauptstadt | |
Europas machen, das EU-Wirtschaftsministerium mit einem Fischer aus | |
Nordafrika besetzen und einen Mittelmeerminister berufen, der auf einer | |
Stufe mit der Kommissionspräsidentin steht. Denn das Mittelmeer muss wieder | |
als ein gemeinsamer Raum gesehen werden. Mare nostrum heißt „unser Meer“. | |
Aber unser Meer ist eben nicht nur europäisch. | |
Am Mittelmeer gibt es keinen Geheimtipp mehr, aber wir bräuchten dringend | |
einen, um es am Leben zu erhalten. Sonst stirbt nicht nur das Meer, sondern | |
auch die Idee von Europa. | |
21 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5617196/ | |
[2] /Historiker-ueber-das-Mittelmeer/!5051931/ | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/bucht-von-kotor-montenegr… | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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