Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman von Matthias Lohre: Abkühlung einer Ingenieursseele
> Der Journalist Matthias Lohre hat seinen ersten Roman geschrieben. Darin
> erzählt er, wie aus einem pazifistischen Träumer ein Handlanger Hitlers
> wird.
Bild: Herman Sörgels Plan sah einen Staudamm zwischen Afrika und Europa vor
Ein großes Friedensprojekt, das wär’s doch. Eines, das die Welt noch nie
gesehen hat. Eines, an dessen Ende für alle in Europa genug Platz zum Leben
ist. Und wie fantastisch wäre das doch, wenn am Ende alle wirklich
teilhaben könnten am großen Wohlstand, der mit diesem Projekt einhergeht.
Vielleicht braucht es ja die ganz großen Ideen, die auch wegen ihrer Größe
besonders naiv wirken mögen, um den Kontinent zu retten?
[1][Herman Sörgel hatte so einen irren Gedanken. Ein Staudamm sollte Europa
mit Afrika vereinen]. Wenn bei Gibraltar der Zufluss von Wasser aus dem
Atlantik ins Mittelmeer gestoppt würde, der Wasserspiegel zwischen
Marseille und Tunis so absinken würde, dass riesige neue, fruchtbare
Ländereien entstünden, dann bräuchte es doch keine Kriege mehr um Raum und
Einflusszonen, dann wäre genug da für alle auf zwei Kontinenten.
Der Architekt Herman Sörgel hat sein Leben lang an so einem Plan
gearbeitet. [2][Matthias Lohre] hat seine Geschichte ausgegraben und einen
Roman darum gebaut, der beinahe so kühn ist, wie Sörgels Projekt es war.
Im Gegensatz zu Sörgel ist Lohre nicht gescheitert. „Der kühnste Plan seit
Menschengedenken“, eine Zeile aus einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1931
über Sörgels Projekt, gibt dem Roman seinen Titel. Sein Leben lang war
Sörgel auf der Suche nach Unterstützern, suchte Ingenieure, die ausrechnen
sollten, ob es wirklich möglich ist, einen Berg zu versetzen, um dessen
steinernen Kern vor Gibraltar für eine Staumauer zu versenken.
Er suchte politische Unterstützer und Finanziers, erweiterte seine Pläne um
einen Staudamm am Kongofluss, der das ganze Klima Afrikas positiv verändern
sollte, spielte mit der Ernsthaftigkeit des deutschen Ingenieurs ein
Projekt durch, an das dann doch zu keinem Zeitpunkt wirklich genug Menschen
glauben wollten. Faszinierend. Und gut, dass Lohre den Schatz, der da in
den Archiven des Deutschen Museums in München, einem Ort der Technik,
liegt, gehoben und zu Literatur gemacht hat. Und fast ist es ein kleines
Wunder, dass er sich dabei nicht verhoben hat.
## Die Gedanken des Ingenieurs
Wie der Autor versucht, in Sörgels Kopf zu kriechen, wie er ihn immer
wieder Fragen an sich selbst beantworten lässt, bringt den Lesenden
zunächst die Idee nahe. Später ist kaum noch auszuhalten, was sich in des
Ingenieurs Gedanken abspielt. Seine Frau ist Jüdin und die rechte Hand,
wenn es um die Präsentation seines Projekts vor Politikern, der Presse oder
Industriellen geht. Sie bleibt an seiner Seite, als die Nazis längst
begonnen haben, die jüdische Bevölkerung „auszusortieren“ und zu
vernichten.
Es gibt doch das Gesetz, redet sich Sörgel ein, nach dem einer jüdischen
Frau nichts angetan werden darf, wenn sie mit einem Arier verheiratet ist.
Dass sie ihren Kunsthandel nicht mehr aufrechterhalten kann, bemerkt er
zwar, meint aber, es akzeptieren zu müssen. Und als er versucht, den Nazis
sein Atlantropa-Projekt als eine Art Weltherrschaftsmodul schmackhaft zu
machen, will er nicht verstehen, dass seine Frau das Vertrauen in ihn
verliert. Er tue das doch auch für sie.
Lohre beschreibt, wie Sörgels Idee Herrschaft über ihn gewinnt, wie sie
größer wird als jede Idee von Menschlichkeit. Am Ende sucht Sörgel, der als
einer der Anständigen im Land begonnen hat, an einer zwar verrückten, aber
eben auch anständigen Idee zu arbeiten, die Nähe zu führenden Nazis und
begründet sein Projekt mit Zitaten aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Sogar
die Möglichkeit einer Ausreise in die USA, der von seiner Frau so ersehnten
Flucht, opfert er für seine Idee, die er den Nazis schmackhaft machen
möchte.
## Ein gewaltiger Wandel
Dabei schildert Lohre, wie Sörgels manische Ingenieursseele immer kälter
wird. Wie es passieren kann, dass aus einem vom Pazifismus angetriebenen,
nun ja, Spinner, ein Handlanger der Nazis wird, das ist auch nach der
Lektüre des Romans nicht zu verstehen. Zu gewaltig ist dieser Wandel, zu
brutal die möglichen Folgen für seine Frau. Aber genau das ist die Stärke
des Romans, sich anzunähern an das Unbeschreibliche.
Das tut er, indem er einen Familienroman mit Technik, aber eben auch viel
Gefühl und großen Brüchen baut, der in der Nachkriegszeit endet, in der
Sörgel neue Chancen für sein Atlantropa wittert.
Als es am Ende darum geht, dass er den Wunsch seiner Frau nicht
nachvollziehen kann, jetzt endlich aus dem Land der Täter, die auch ihr ans
Leben wollten, zu verschwinden, öffnet Lohre in seinem Roman die Tür zur
Nachkriegsgeschichte, in der nicht Thema sein sollte, was geschehen war.
Ganz kalt wird es da noch einmal. Es ist ein großer Bogen, den Lohre da
spannt, ein kühnes Projekt, ein gutes Stück Literatur.
2 Mar 2022
## LINKS
[1] /Europas-vernachlaessigtes-Zentrum/!5615901
[2] /Identitaetspolitik/!5654397
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
Roman
Mittelmeer
Staudamm
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Irak
Identitätspolitik
Mittelmeer
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Roman über Flucht: Scherze eines Gedächtnisses
In seinem Roman „Der Erinnerungsfälscher“ spielt Autor Abbas Khider mit
Wahrheit und Erzählung – und ebenso mit den Erwartungen des Lesenden.
Identitätspolitik: Die neue Lust am Leiden
Identitätspolitik wird oft dazu benutzt, Menschen in Täter und Opfer, böse
und gut zu unterteilen. Doch wer so denkt, lässt keinen Raum für Toleranz.
Europas vernachlässigtes Zentrum: Das Meer in der Mitte
Früher war das Mittelmeer das geistige Zentrum Europas. Heute wenden sich
die Menschen von ihm ab. Über ein Gewässer, das Hilfe braucht.
Kolumne Konservativ: Leb wohl, taz!
Unser Autor mag die taz immer noch sehr. Aber irgendwie anders als früher.
Deshalb macht er jetzt Schluss.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.