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# taz.de -- Identitätspolitik: Die neue Lust am Leiden
> Identitätspolitik wird oft dazu benutzt, Menschen in Täter und Opfer,
> böse und gut zu unterteilen. Doch wer so denkt, lässt keinen Raum für
> Toleranz.
Bild: Immer schön auf den anderen zeigen
Durch ihre Bitte machte eine Stewardess den Professor zum Opfer. Derald
Wing Sue und sein Professorenkollege hatten gerade in dem kleinen Flugzeug
Platz genommen. Weil sich die wenigen Passagiere auf einer Seite der Kabine
drängten, bat die Flugbegleiterin Sue und seinen Kollegen, die Plätze zu
wechseln. „Es schien vernünftig, das Gewicht im Flugzeug auszubalancieren“,
wird Sue später schreiben. Trotzdem ärgerte er sich: „Ich konnte fühlen,
wie mein Blutdruck stieg, das Herz schneller schlug und mein Gesicht vor
Wut anlief.“ Denn die Stewardess (eine weiße Frau) hatte Sue (den Sohn
chinesischer Einwanderer) und seinen (schwarzen) Kollegen gebeten,
aufzustehen – aber keinen der weißen Passagiere. Für Sue war klar: Die
Stewardess hatte sich gerade einer Mikroaggression schuldig gemacht.
Den Begriff konnte die Frau nicht kennen. Damals, Ende der nuller Jahre,
begann der Professor für Psychologische Beratung von der
Columbia-Universität in New York erst, ihn zu prägen. Sue definiert
„Mikroaggressionen“ als „kurze, alltägliche Begegnungen, die bestimmten
Individuen aufgrund deren Gruppenzugehörigkeit verunglimpfende Botschaften
senden“. Diese würden „häufig unbewusst in Form subtiler Zurechtweisungen,
abschätziger Blicke, Gesten oder Tonfälle“ übermittelt.
Solche Begegnungen seien „so weit verbreitet und automatisch in
Alltagskonversationen, dass sie häufig als arg- und harmlos abgetan und
beschönigt werden“. Doch in Wahrheit seien „Mikroaggressionen schädlich f…
persons of color“, denn sie „zehren an den psychischen und spirituellen
Energien der Empfänger und schaffen Ungleichheiten“.
Sue konfrontierte die Stewardess damit: Sie habe die beiden wegen ihrer
ethnischen Zugehörigkeit ausgewählt. Die Frau widersprach. Das überraschte
ihn nicht. Ja, weil die Frau sich offenbar keiner Schuld bewusst war, sah
er seine Theorie sogar bestätigt.
## Die Macht der Mikroaggressionen
Denn „die Macht der Mikroaggressionen liegt in ihrer Unsichtbarkeit für den
Täter“, schreibt Sue. „Dieser ist sich nicht bewusst, dass er oder sie sich
auf eine Weise verhält, die den Empfänger so einer Kommunikation bedroht
und herabsetzt.“ Mitglieder der gesellschaftlichen Mehrheit seien geblendet
von „Vorurteilen, Stereotypen und Ansichten, die außerhalb ihrer
Bewusstseinsebene liegen“. Vertreter der privilegierten Mehrheit „mögen auf
einer bewussten Ebene die Gleichheit aller befürworten, aber auf einer
unbewussten Ebene hegen sie Anti-Minderheiten-Gefühle“. Das Ausmaß
alltäglicher Diskriminierung erkenne nur, wer selbst einer Minderheit
angehört.
Sues Konzept ist heute fester Teil der Identitätspolitik. Diese begann in
den 1970er Jahren als Versuch, benachteiligte soziale Gruppen allen anderen
an Rechten und Chancen gleichzustellen. Eine ehrenwerte, große Aufgabe, die
noch immer nicht abschließend erfüllt ist. Aber Verfechter wie Sue scheinen
zu glauben, sie könnten Diskriminierung dadurch ausmerzen, dass sie selbst
andere pauschal auf einer moralischen Skala einordnen – aufgrund von deren
Ethnie, Alter, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Das Konzept der
Mikroaggressionen, das Diskriminierungen sichtbar machen soll, ist selbst
diskriminierend.
Wir alle sagen oder tun Dinge, die andere verletzen, ohne dass wir es
wollen. Was ist daran auszusetzen, wenn die Betroffenen darauf hinweisen?
Nichts, sofern wir die Wahl haben: Wenn wir unsere Absicht erläutern
können. Wenn wir darüber diskutieren dürfen, welche Formulierungen wir als
beleidigend ansehen und welche nicht. Oder wenn wir um Entschuldigung
bitten können. Aber all das ist hier unmöglich. Denn Vertreter dieser Form
der Identitätspolitik sprechen anderen die Fähigkeit, moralisch „richtig“
zu empfinden, ab. Sie erklären nicht verletzende Äußerungen zum Problem,
sondern Menschen. Sie suchen keine Lösungen, sondern Täter. Sich selbst
erklären sie zu Opfern.
Aus ihrer Sicht haftet auch an den Nachfahren echter oder vermeintlicher
Täter untilgbare historische Schuld. Deshalb müssten, ja dürften die
Nachkommen der Opfer ihnen nie verzeihen. Die Identität als Opfer und Täter
wird vererbt. Versöhnung ist ausgeschlossen.
Natürlich gehörte es nicht zum ursprünglichen Kern der Identitätspolitik,
Angehörige verschiedener Ethnien oder sexuelle Orientierungen gegeneinander
auszuspielen. Das aber kann geschehen, wenn deren Verfechter nicht
Mentalitäten zur Gefahr erklären, sondern Menschen. So kann [1][Bernd
Lucke] seine Vorlesungen an der Uni Hamburg nur unter Gebrüll Dutzender
Störer und Polizeischutz abhalten. Dabei hat der AfD-Mitgründer die Partei
schon vor Jahren verlassen, und in seinen Vorträgen lehrt er nicht Hass auf
Minderheiten, sondern Makroökonomie. Doch Differenzierungen hält der Asta
offenbar für Schwäche, denn er erklärt: „So ein Mensch gehört nicht an die
Universität.“
Wer die Welt in Täter und Opfer teilt, der muss den eigenen Opferstatus
eifersüchtig bewachen. Der demokratische Bewerber um die
US-Präsidentschaft, [2][Pete Buttigieg], wurde im vergangenen Dezember in
einer TV-Runde gefragt, was er für African Americans zu tun gedenke.
Buttigieg, weiß und schwul, antwortete: „Auch wenn ich nicht die Erfahrung
gemacht habe, je wegen meiner Hautfarbe diskriminiert worden zu sein, habe
ich doch die Erfahrung gemacht, mich manchmal wie ein Fremder in meinem
eigenen Land zu fühlen.“ Daher fühle er die „Verpflichtung, jenen zu
helfen, deren Rechte jeden Tag auf dem Spiel stehen, selbst wenn ihre
Erfahrungen ganz andere sind als meine.“ Daraus machte seine schwarze
demokratische Konkurrentin Kamala Harris einen Skandal: Ein weißer Schwuler
maßt sich an, mit uns Schwarzen Mitgefühl zu haben! Er benutzt unser Leid
für seine Zwecke! So führt Identitätspolitik nicht zu Solidarität mit und
unter Minderheiten, sondern zur Opferkonkurrenz.
Das Denken vermeintlicher Opfer ist paradox: Es fordert Toleranz ein, will
andere aber nicht tolerieren müssen. Aus seiner Sicht ist Rosa Luxemburgs
Andersdenkender, dessen Freiheit niemand einschränken darf – das Opfer
selbst.
## Wunden als Nachweis von Glaubwürdigkeit
Wir werden Zeuge eines epochalen Umbruchs: Das Ideal des selbstbestimmt
lebenden Individuums verblasst, und an seine Stelle tritt das immerzu
Aufmerksamkeit und Mitgefühl einfordernde Opfer. Dessen Selbstwertgefühl
speist sich nicht aus eigenen Leistungen, Ideen oder guten Taten. Die
Selbsteinschätzung der neuen Opfer bringt der Literaturwissenschaftler
Daniele Giglioli auf den Punkt: „Wir sind stolz darauf, etwas erlitten zu
haben. Wunden, tatsächliche genauso wie symbolische, sind der Nachweis für
Glaubwürdigkeit.“ Indem sie sich durch Verletzungen definieren, schaffen
sie sich eine schlüssige Lebenserzählung. Ich leide, also bin ich.
Noch nach dem Krieg schien diese Entwicklung undenkbar. Wer Gewalt erfahren
hatte, dem wurde fast immer eine Mitschuld unterstellt. Opfer zu sein galt
als Schande. Seither hat sich unsere Gesellschaft radikal individualisiert.
„Die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, gibt es aber nach wie vor“, sagt
Giglioli. Deshalb suchten wir nach Momenten, in denen wir uns mit anderen
Menschen verbunden fühlen. So unterschiedlich wir auch sind: „Auf das
Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen. Weil
es uns nichts anderes abverlangt als das Gefühl, an nichts schuld zu sein.“
Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen
nach Unschuld und Zugehörigkeit – ganz ohne die moralischen Grautöne und
lästigen Pflichten, die echte Gemeinschaften ihren Mitgliedern zumuten.
Der Wunsch nach Halt und Klarheit kann sogar dazu führen, dass Menschen
sich bereitwillig zu Tätern erklären. Denn ein Schuldbekenntnis kann
befreiend wirken, erklärt die Philosophin Maria-Sibylla Lotter von der Uni
Bochum: „Wer sich schuldig fühlt, der hätte auch anders handeln können. Er
muss sich nicht ohnmächtig fühlen. Zudem ergibt sich eine klare
Handlungsorientierung: Das Opfer muss entschädigt werden.“ Die Buße dient
der Vergewisserung, endlich das Richtige zu tun. „So kann Schuldgefühl
politische Desorientierung ebenso kompensieren wie das Gefühl politischer
Ohnmacht. Es verleiht ein fiktives Machtgefühl und gibt dem Handeln eine
Richtung.“
Doch die Unterteilung in Opfer und Täter verschärft das Problem, das sie zu
lösen glaubt. Anstatt darauf zu pochen, dass beispielsweise [3][Schwule,
Lesben oder Transgender-Personen] exakt die gleichen Rechte und Pflichten
haben wie alle anderen, weist sie ihnen eine Sonderstellung zu. Diese soll
Minderheiten zwar schützen, kann sie aber auch sichtbar von allen anderen
trennen. So zementiert sie das Gefühl der Ungleichheit, das sie beklagt.
Dabei zeigen die Bürgerrechtsbewegungen der 1950er und 60er Jahre
eindrucksvoll, wie erfolgreich der Ansatz ist, das gemeinsame Menschsein
von Schwarzen und Weißen, Frauen und Männern zu betonen. Sie rief dazu auf,
im vermeintlich Fremden das Eigene wiederzuerkennen, und formulierte
positive Ziele: die rechtliche Gleichstellung und die Anerkennung der
Gleichwertigkeit aller. Dadurch forderte sie von allen Mitgliedern der
Gesellschaft Toleranz ein.
Das bedeutet nicht, dass wir Konflikten aus dem Weg gehen müssen. Es kommt
darauf an, wie wir sie führen. Eine Faustregel könnte lauten: Nicht jene
handeln unmoralisch, die anders denken, empfinden, aussehen, reden oder
lieben als man selbst. Sondern diejenigen, die es anderen deshalb
absprechen, dazuzugehören. Wer aber Menschen in moralisch überlegene Opfer
und zu ächtende, ideologisch verblendete Täter unterteilt, der verwechselt
die archaische Unterscheidung in Freund und Feind mit Wissenschaft.
18 Jan 2020
## LINKS
[1] /Proteste-gegen-Lucke-an-der-Uni-Hamburg/!5637591
[2] /Erstes-TV-Duell-mit-LGBTIQ-Themen/!5627789
[3] /Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406
## AUTOREN
Matthias Lohre
## TAGS
Identitätspolitik
Opfer
Diskriminierung
Roman
Identitätspolitik
Identitätspolitik
Identität
Schwerpunkt Fridays For Future
Kolumne Orient Express
Kolumne Habibitus
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