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# taz.de -- Minderheiten und Diskriminierung: Das Unbehagen der Identitäten
> Wer Identitätspolitik komplett ablehnt, verkennt: Es spielt eben doch
> eine Rolle, welchen Hintergrund eine Person hat, die eine Meinung äußert.
Bild: Meist müssen gesellschaftlich diskriminierte Gruppen selbst auf ihre Ben…
Es gibt unter einigen Linken ein Unbehagen gegenüber Identität. Wenn sich
gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu Gruppen zusammenschließen und
für die eigenen Rechte kämpfen, heißt es oft, der Fokus gehe weg vom
Wesentlichen. Es drehe sich nicht mehr ums Gemeinwohl, sondern um
Partikularinteressen, so die Kritik. Zugespitzt wird sie dann häufig so: Es
bildeten sich so homogene Gruppen von Opfern, die alle anderen – die
potenziellen Täter – ausschlössen.
Hier geht das Unbehagen über in eine strikte Ablehnung von
identitätspolitischen Komponenten. Zuletzt formuliert hat das der Autor
[1][Matthias Lohre in der taz am Wochenende]. Er beschwert sich darüber,
dass auf Mikro-Aggressionen hingewiesen wird, also auf kleine alltägliche
Akte, die etwa für Schwarze diskriminierend wirken, aber Weißen meist nicht
auffallen. Diese Sichtbarmachung von Diskriminierung sei selbst
diskriminierend, schreibt Lohre. Er versteigt sich sogar zu der These,
Minderheiten würden sich zu moralisch überlegenen Opfern stilisieren.
Wenn es um alltägliche Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen geht,
melden sich schnell [2][Gegenstimmen] – Männer, die auch schon einmal von
einer Frau betatscht wurden, Weiße, denen auch schon mal ins Haar gefasst
wurde. Es könnte zu denken geben, dass Kommentare und Texte dieser Art
meist von weißen, deutschen, heterosexuellen Männern geschrieben wurden,
also gesellschaftlich mehrfach privilegierten Menschen.
Doch darum soll es hier nicht gehen. Es soll nicht darum gehen, warum
einige Leute so etwas denken, sondern warum diese Meinung kurzsichtig,
egozentrisch und bequem ist, letztendlich unsolidarisch und reaktionär.
## Die Normen in dieser Gesellschaft sind real
Denn es wird so getan, als lebten wir in einem luftleeren Raum, in dem alle
Menschen die gleichen Erfahrungen haben, die gleichen Perspektiven, die
gleichen Lebensbedingungen. Auch Matthias Lohre erinnert in seinem Text an
die US-Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre, wo angeblich so
erfolgreich das „gemeinsame Menschsein von Schwarzen und Weißen, Frauen und
Männern“ betont worden sei. Schön, oder? Wir rufen einfach: „Wir sind doch
alle Menschen!“ Diskriminierung abgeschafft, Unterschiede auch.
Das Problem ist, dass die gesellschaftliche Realität anders aussieht. Die
Normen in dieser Gesellschaft sind real und auch die daraus resultierenden
Machtstrukturen. Die Norm ist weiß, männlich, heterosexuell, nicht
behindert. Frauen verdienen weniger als Männer. Wohnungen gehen eher an
Leute, die Müller oder Schmidt heißen, nicht Özdemir oder Kutrapali. Weiße
Menschen bekommen eher den Job als nichtweiße. Die Suizidrate unter queeren
Jugendlichen ist immer noch vielfach höher als die unter heterosexuellen
(ganz zu schweigen von trans Jugendlichen).
Wie geht man mit diesen Missständen um? Es wäre ja schön, wenn die Mehrheit
der Minderheit beispringen würde. Wenn Männer für Frauen auf die Straße
gingen, Weiße für Schwarze, Heten für Homos, cis Menschen für trans
Menschen, nicht Behinderte für Behinderte. Tun sie das? Sehr selten.
2017 gab es in den Niederlanden [3][nach einem Übergriff auf ein schwules
Pärchen] die Aktion [4][#allemannenhandinhand], bei der Menschen gleichen
Geschlechts in der Öffentlichkeit Händchen hielten – unabhängig von der
sexuellen Orientierung. Meist sind es die gesellschaftlich diskriminierten
Gruppen selbst, die auf ihre Diskriminierung aufmerksam machen müssen, weil
es die anderen offenbar kaum schert, weil es sie einfach nicht betrifft.
## Uns gibt es. Wir sind es wert
Frauen mussten sich als Frauen zusammenschließen, um Anfang des 20.
Jahrhunderts das Wahlrecht zu erkämpfen. Schwarze mussten als Schwarze auf
die Straße gehen, um in den USA die gleichen Rechte zu bekommen. Lesben und
Schwule mussten lange demonstrieren, bis sich die Erkenntnis durchsetzte,
dass sie nicht krank sind und dass sie darüber hinaus als Paare die
gleichen Rechte und Pflichten haben sollten wie gemischtgeschlechtliche
Paare.
Die Beispiele zeigen: Die existierende Benachteiligung konnte nur sichtbar
gemacht werden, indem eine diskriminierte Gruppe [5][auf sich aufmerksam
machte], Raum einforderte. Deswegen gibt es auch ganz konkret Frauenräume,
in die Männer nicht reindürfen. Deswegen gibt es Homo-Partys, auf die keine
Heteros gelassen werden.
Es wäre schön, wenn die Gesellschaft so weit wäre, dass überall alle sie
selbst sein dürften. Ist sie aber leider nicht. Darauf zu reagieren ist ein
Akt der Selbstverteidigung, der Selbstbehauptung, der Selbstermächtigung.
Uns gibt es. Wir sind es wert, dass wir von der Norm abweichen dürfen und
nicht im normierten Mainstream untergehen. „Ich leide, also bin ich“,
übersetzt Matthias Lohre das.
„Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen
nach Unschuld und Zugehörigkeit“, schreibt er weiter und verkennt
vollkommen das Problem: Für ihn ist es problematisch, dass eine Person ihre
Benachteiligung öffentlich macht – nicht, dass sie überhaupt benachteiligt
wurde. Wäre es aber nicht angebrachter, ihr zuzuhören und dann mit ihr
gemeinsam gegen diese Benachteiligung zu kämpfen?
## Es geht hier um Definitionsmacht
Es scheint, als ginge es hier um eine Hierarchie der Probleme – wie 1968,
als die Benachteiligung der Frau als Nebenwiderspruch galt, der mit der
Überwindung des Kapitalismus als Hauptwiderspruch en passant gelöst werde.
Und heute geht es nach dem Motto: Wir sind doch so gut wie angekommen in
der Abschaffung von Benachteiligung, da sind die (vermeintlichen) Nuancen
doch egal angesichts der wahren Probleme (wahlweise die AfD, das Windrad
vor dem Haus, der Klimawandel oder die Atombombe in Nordkorea).
Es geht hier aber um etwas, das auch „Definitionsmacht“ genannt wird. Wer
den gesellschaftlichen Normen entspricht, erlebt nicht, was passiert, wenn
man ihnen nicht entspricht. Eine Weiße erlebt im Alltag eben nicht, was
eine Schwarze im Alltag erlebt. Um das zu erfahren, muss die Weiße vor
allem eines: zuhören. Und sich die eigenen Privilegien bewusst machen.
Genau das ist womöglich auch das Unbehagen, das viele Linke plagt. Es ist
nicht die authentische Sorge, dass im Kampf für vermeintliche
Partikularinteressen das große Ganze außer Sicht geraten könnte. Es ist die
Befürchtung, dass es an der Zeit sein könnte, die eigenen Standpunkte
kritisch zu hinterfragen.
22 Jan 2020
## LINKS
[1] /Identitaetspolitik/!5654397
[2] /Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406
[3] https://www.queer.de/detail.php?article_id=28570
[4] https://twitter.com/search?q=allemannenhandinhand
[5] /Geschichte-der-Identitaetspolitik/!5638928
## AUTOREN
Malte Göbel
## TAGS
Identität
Identitätspolitik
Diskriminierung
Minderheiten
Political Correctness
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