# taz.de -- Identität und Demokratie: Erst Teilnahme ermöglicht Teilhabe | |
> Verantwortungsvolle Politik muss immer auch eines im Blick haben: Dass | |
> das Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit befriedigt wird. | |
Bild: Gemeinsam an einer Erzählung weben | |
Wer in einer Gesellschaft die Identitätsfrage stellt, fragt nach dem | |
Zusammenhalt. Und umgekehrt: Wo das Gefühl vorherrscht, Bindungen | |
schwinden, werden Identitätsfragen virulent. Wir erleben das in allen | |
westlichen Demokratien. Wir spüren, dass unsere Gesellschaften unter den | |
Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, | |
unübersichtlicher und konfliktreicher werden. Soziologen beschreiben eine | |
Zersplitterung in vorwiegend kulturell bestimmte, kaum noch kompatible | |
Lebenswelten: zwischen den mobilen „Anywheres“, deren Identität auf | |
individuellen Bildungs- und Berufserfolgen basiere, und den | |
sicherheitsorientierten „Somewheres“ mit ihrer stärkeren Orts- und | |
Gruppenzugehörigkeit. Die Kluft dazwischen scheint tief – und führt zu | |
gegenseitiger Verachtung, wenn der Überlegenheitsanspruch der einen auf das | |
Gefühl der anderen trifft, gesellschaftlich ignoriert zu werden. | |
In Deutschland fällt eine Besonderheit auf: ein spezifisch ostdeutsches | |
Identitätsgefühl. Laut einer Studie identifizieren sich viele Ostdeutsche | |
nach wie vor mit ihrem früheren Staatsgebiet. Eine Mehrheit von ihnen sieht | |
sich, anders als Westdeutsche, die sich in erster Linie als Deutsche | |
verstehen, vorrangig als Ostdeutsche – ein bemerkenswerter Befund [1][30 | |
Jahre nach der staatlichen Einheit]. | |
Als zu groß empfundene Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen, ein | |
Mangel an Anerkennung von Lebensleistungen, selbst erfahrene und in der | |
Familie tradierte Kränkungen im Transformationsprozess, wie sie sich in der | |
Verteufelung der Treuhand manifestieren, schließlich die demografischen | |
Folgen der Abwanderung: das alles bildet ein Gemisch für eine Identität, | |
die die [2][Spaltung in Ost und West] eher zementiert als sie zu überwinden | |
hilft. Mancher pflegt geradezu den eigenen Opferstatus, statt selbstbewusst | |
darauf zu verweisen, den Menschen im Westen eine wertvolle Erfahrung | |
vorauszuhaben: die Anpassung an massive gesellschaftliche Umwälzungen. Es | |
würde nachhaltig zur inneren Einheit beitragen, angesichts der Zumutungen | |
von Globalisierung und Digitalisierung, die vor den westlichen | |
Gesellschaften nicht haltmachen, diesen Erfahrungsvorsprung | |
gesamtgesellschaftlich zu erkennen und gemeinsam zu nutzen. | |
Identität schärft sich durch die Begegnung mit einem Gegenüber. | |
Gruppenidentitäten ist [3][stets die Ambivalenz eigen], Zusammengehörigkeit | |
nach innen durch Abgrenzung nach außen zu schaffen. Das eine geht nicht | |
ohne das andere. Davon erzählt die gewalttätige Geschichte der Nationen | |
als eine der wirkmächtigsten Fiktionen von Zugehörigkeit. Die Frage, wer | |
dazugehört, berührt das sensible Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten. | |
Es braucht deshalb den verantwortungsbewussten Umgang damit. Geht die | |
Balance verloren, sind die Folgen verheerend, nach innen wie nach außen. | |
Gerade wir Deutschen sollten das wissen. | |
Von dem britischen Philosophen [4][Kwame Anthony Appiah] stammt das schöne | |
Bild, dass das Nationalgefühl kein Mineral sein muss, das man ausgräbt, | |
sondern ein Stoff, den es zu weben gilt. Nationale Identität setze nicht | |
voraus, dass wir alle bereits dieselben wären, von einem einheitsstiftenden | |
„Volksgeist“ beseelt. Es braucht aber eine gemeinsame Erzählung, eine | |
Aufgabe. Gerade in einem Land, das von Zuwanderung geprägt ist, braucht es | |
Identifikationsangebote auch für diejenigen, die nicht selten aus | |
Gemeinschaften mit starker eigener Identität zu uns kommen. Unser Ziel muss | |
deshalb sein, eine Basis des Zusammenlebens zu finden, auf der niemand | |
seine eigene Identität, seine kulturellen Wurzeln aufgeben muss, wir | |
andererseits aber offen genug sind, um uns als Teil eines Gemeinwesens zu | |
fühlen. | |
Erst Teilnahme ermöglicht schließlich Teilhabe: Jede demokratisch verfasste | |
Gemeinschaft braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihr | |
identifizieren, sich ihr zugehörig fühlen. Nur so vertrauen sie sich in | |
Freiheit und in den rechtsstaatlichen Grenzen dem Mehrheitsentscheid an. | |
Allein durch den Bezug auf politische Institutionen kann das nicht erreicht | |
werden. Der „Verfassungspatriotismus“ kann nicht erklären, warum wir beim | |
Länderspiel Deutschland gegen Frankreich unsere eigene Mannschaft anfeuern, | |
obwohl beide Seiten ähnliche politische Werte vertreten. Wenn wir uns einem | |
Gemeinwesen zugehörig fühlen, muss es etwas geben, was uns auf einer | |
tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet: gemeinsame Erfahrungen, | |
Mythen, auch Bedrohungen und Herausforderungen. | |
Was eine plural verfasste Gesellschaft zusammenhält, in der Vielfalt ein | |
Gefühl des Miteinander entstehen lässt, hat mit Bindekräften wie Toleranz, | |
Respekt, Vertrauen und Empathie zu tun. Und damit, Konflikte auszuhalten. | |
Stattdessen erleben wir, dass sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und | |
Diskursraum auflöst und die Debatten zunehmend unversöhnlich geführt | |
werden. Zumal es oftmals nicht mehr darauf ankommt, was gesagt wird, | |
sondern nur noch darauf, wer es sagt, wie Mariam Lau in der Zeit | |
konstatiert. Nur wer selbst Teil der Gruppe ist, sei legitimiert, über sie | |
nachzudenken, zu forschen, zu sprechen; also nur Schwarze über Sklaverei, | |
Frauen über Sexismus – oder eben Ostdeutsche über die DDR. | |
Der US-Politikwissenschaftler Mark Lilla konstatiert, in Umkehrung des | |
alten Slogans „Das Private ist politisch“ werde das Politische heute zum | |
bloßen Teil privater Identität. Mit der Folge, dass die Bereitschaft sinke, | |
sich mit Themen zu beschäftigen, die nicht die eigenen Interessen und die | |
eigene Identität berühren. Auch Francis Fukuyama warnt vor den Folgen | |
davon, die politische Debatte quer zu den überkommenen ideologischen Gräben | |
identitätspolitisch aufzuladen. Kleinteilige Identitätsgruppen zielten | |
nicht mehr wie die wirkmächtigen großen sozialen Bewegungen primär auf | |
Chancengerechtigkeit oder rechtliche und ökonomische Gleichheit. Ihnen gehe | |
es vor allem darum, einer breiten Vielfalt benachteiligter Minderheiten | |
gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Für sie seitens der Mehrheit | |
nicht nur Respekt einzufordern, sondern Zustimmung zu erwarten. | |
## Etwas teilen, was nicht mit unserer Identität zu tun hat | |
Der Aufmerksamkeitshaushalt einer Gesellschaft ist jedoch begrenzt, der | |
Terraingewinn des einen bedeutet das Zurückdrängen des anderen und | |
produziert neue Kränkungen – mit der Folge einer fast grotesken Umkehrung: | |
Mehrheiten glauben sich durch lautstarke Minderheiten bedroht. Auch solche | |
Opfergefühle sind instrumentalisierbar, wie wir erleben. Selbst wenn immer | |
wieder darauf verwiesen wird, linke Identitätspolitik gelte der Minderheit, | |
rechte dagegen der Sicherung von Mehrheitsansprüchen: Indem es vor allem | |
darum geht, Menschen über erlittene Kränkungen zu mobilisieren, | |
verschwimmen die Unterschiede. Dem politischen Diskurs, der | |
gesellschaftlichen Debattenfähigkeit und letztlich der demokratischen | |
Meinungsbildung leistet diese Form der Identitätspolitik einen Bärendienst; | |
durch ein gesellschaftliches Klima, in dem es nicht mehr um den Wettstreit | |
sachlicher Argumente geht, sondern nur noch darum, mit größtem moralischen | |
Rigorismus recht zu haben. | |
Anstelle immer kleinteiligerer Gruppenidentitäten brauche es nach Mark | |
Lilla die Rückbesinnung auf „etwas, was wir alle teilen, was aber nichts | |
mit unseren Identitäten zu tun hat“. Für Lilla ist das die | |
staatsbürgerschaftliche Gleichheit. Also doch Verfassungspatriotismus? Es | |
bleibt wohl komplizierter, denn am Ende hat alle Politik eine | |
identitätspolitische Dimension. Wir sollten jedenfalls nicht dem | |
Trugschluss erliegen, allein mit den Mitteln sozialer | |
Verteilungsgerechtigkeit alle Probleme lösen zu können. Wohlstand und Armut | |
sind relative Begriffe, so wie das Glück. Inmitten unseres Wohlstands | |
wächst Verunsicherung. Verantwortungsvolle Politik muss deshalb immer auch | |
im Blick haben, dass man sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, Halt hat. | |
Kurz: dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigt wird. | |
Teilhabe daran, die Herausforderungen zu bewältigen, werden wir weiterhin | |
nur in kleineren Einheiten schaffen. Für [5][Francis Fukuyama], der das | |
politische Potenzial von Gefühlen betont, gewinnt deshalb die Nation neu an | |
Gewicht: Größere und einheitlichere nationale Identitäten, die gleichzeitig | |
„die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften | |
berücksichtigen“. Und die sich als fähig erweisen, bei der Bewältigung der | |
globalen Aufgaben miteinander statt gegeneinander zu agieren. | |
Deshalb wird auch, wer die europäische Einigung gegen das Bedürfnis der | |
Menschen nach nationaler Identität auszuspielen versucht, [6][Europa] nicht | |
stärken, sondern im Ergebnis schwächen. Identitäten lassen sich aber | |
verändern, sie sind formbar. Wir können daran arbeiten, dass sich eine | |
europäische Identität herausbildet. Eine „Bekenntnisidentität“, die den | |
unterschiedlichen nationalen Erfahrungen, dem Eigenen, den Traditionen und | |
kulturellen Prägungen der Vergangenheit gerecht wird, weil sie Teil unserer | |
bindunggebenden Identität sind. Die aber den Blick vor allem auf die | |
Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft lenkt. Und diese Zukunft kann in | |
der globalisierten Welt nur europäisch sein. Die immensen Herausforderungen | |
– Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Migration, Digitalisierung, | |
ökonomische Stabilität – werden helfen, Europa als dieses | |
identitätsstiftende Gemeinschaftsprojekt sichtbar und begreifbar zu machen. | |
Über Aufgaben gewinnen wir die Zukunft – und in ihr wird sich die | |
europäische „Schicksalsgemeinschaft“ herausbilden. | |
28 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Wolfgang Schäuble | |
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