# taz.de -- Topographie-Direktor Andreas Nachama: „Politik ist nicht hilfreic… | |
> Andreas Nachama geht als Direktor der Topographie des Terrors in den | |
> Ruhestand. Antisemitismus müsse man mit der Kraft der Versöhnung | |
> begegnen. | |
Bild: Publizist, Rabbiner, Unruheständler: Andreas Nachama vor der Topographie… | |
taz: Herr Nachama, Sie sind mütterlicherseits ein waschechter Berliner. Was | |
möchten Sie über Ihre Familie erzählen? | |
Andreas Nachama: Die Familie meiner Mutter kam aus Schlachau bei Posen, | |
ihre Großeltern und Eltern sind in den 1880er Jahren nach Berlin gezogen. | |
Anfang der 30er Jahre ist die Mutter meiner Mutter eines natürlichen Todes | |
gestorben. Die Familie hat dann die Emigration aus Nazideutschland nicht | |
bewerkstelligen können, und so ist meine Mutter hier, solange es ging, in | |
die Schule gegangen und dann von Frau Wertheim, der geschiedenen Frau des | |
Kaufhausmagnaten, versteckt worden. Sie war mit der Identität einer | |
gefangenen Wehrmachtshelferin ausgestattet und hatte deren Kennkarte. So | |
hat sie überlebt. | |
Hier in Berlin? | |
Ja. Hier hat sie auch meinen Vater kennengelernt. Er war aus Saloniki [in | |
Griechenland; Anm. d. Red.], ist im März 1943 nach Auschwitz deportiert | |
worden, war dort in einem Außenlager, in Golleschau, und musste in einem | |
Steinbruch arbeiten. Er hat als „Sänger von Auschwitz“, so hieß es späte… | |
überlebt, weil er für die Wachmannschaften italienische Belcantolieder und | |
Ähnliches gesungen hat. Dafür haben sie ihm gelegentlich eine halbe Portion | |
Essen mehr gegeben. Zum Schluss war er in Sachsenhausen und hat auch den | |
sogenannten Todesmarsch überlebt. | |
Sie sind Anfang der 50er Jahre geboren. Wann haben Sie von der Schoah | |
erfahren? | |
Von meinen Eltern habe ich extrem wenig erfahren. Aber es gab die Menschen, | |
die mit meiner Mutter zusammen versteckt waren – und es gab neben Frau | |
Wertheim die anderen 20 bis 30 Helfer: Sie alle waren Nennonkel und | |
Nenntanten von mir. Wenn jemand von ihnen starb oder zu anderen Anlässen | |
kamen alle zusammen und erzählten gemeinsame Erlebnisse von früher. So habe | |
ich über den Teil, der meine Mutter betraf, im Laufe der 50er, 60er Jahre | |
ein ziemlich gutes Bild bekommen. | |
Wo sind Sie aufgewachsen? | |
In Grunewald, eigentlich Schmargendorf. Das Haus bei uns gegenüber war | |
zerbombt, die Treppe führte ins Nichts, da bin ich natürlich rumgeklettert. | |
Das war ein wunderbarer Abenteuerspielplatz für uns Kinder. Manchmal haben | |
wir Handgranaten gefunden und uns damit beworfen, zum Glück war nie eine | |
scharfe dabei. Wenn das herauskam, habe ich eine Tracht Prügel bekommen. | |
Man muss sich vorstellen: Anfang der 60er Jahre lag noch die halbe Stadt in | |
Schutt und Asche. Da hat man natürlich Fragen gestellt, wie kommt das, | |
warum sind amerikanische, französische, englische Soldaten in der Stadt und | |
so weiter. Vieles habe ich auch in der Schule erfahren. | |
Welche war das? | |
Das war das Rückert-Gymnasium am Innsbrucker Platz. Meine Eltern und andere | |
jüdische Familien haben ihre Kinder dorthin geschickt, weil die Direktorin | |
der Schule eine katholische Widerstandskämpferin war. Hans Rosenthals | |
Kinder und Hugo Egon Balder waren zum Beispiel dort. Damals wurde am | |
Innsbrucker Platz das Viadukt für die Stadtautobahn gebaut, aber es | |
standen noch Häuser, die gesprengt werden sollten. Ich war Redakteur der | |
Schülerzeitung, wollte mit dem Sprengmeister sprechen und fragte ihn, wie | |
man das eigentlich wird. Und er gab freimütig Auskunft: Er habe nämlich im | |
Zweiten Weltkrieg ganz Warschau „niedergelegt“. | |
Unglaublich! | |
Als ich das meiner Mutter erzählt habe, ist sie ausgeflippt: Das ist ja ein | |
richtiger Nazi; an wen bist du denn da geraten? Aber aus solchen Facetten | |
setzt man sich mit der Zeit sein Bild zusammen. Meines wurde das von einer | |
Gesellschaft, in der es offensichtlich sehr viele Täter gab, die alle immer | |
nichts gewusst hatten, wenn man sie darauf ansprach. | |
Ihr Vater, Estrongo Nachama, war später Oberkantor der Jüdischen Gemeinde | |
zu Berlin, in seiner Familie gab es eine lange Rabbi- und Kantortradition. | |
War es für Sie klar, dass Sie auch Rabbi werden würden? | |
Nein, im Gegenteil. Mein Vater hat immer gesagt, Rabbiner ist kein Job für | |
einen jüdischen Jungen (lacht). Die Abhängigkeiten des Kultuspersonals | |
von den Gemeinden machten ihm Sorgen. Er selber hat darunter nicht | |
gelitten, aber andere Rabbiner im Bundesgebiet schon. Deshalb wünschte er | |
sich für mich eine andere berufliche Perspektive. Ich habe angefangen, | |
an der Freien Universität Judaistik und Geschichte zu studieren, kurz war | |
ich auch mal am Leo Baeck College in London. Aber der damalige Vorsitzende | |
des Zentralrats der Juden in Deutschland, Werner Nachmann, sagte: Für diese | |
linke Bazille Nachama gibt es kein Stipendium. | |
Sie waren eine linke Bazille? | |
Keine Ahnung, wie er dazu kam. Aber weil am Leo Baeck College hohe | |
Studiengebühren zu zahlen waren und meine Eltern kein Geld hatten, habe ich | |
weiter an der FU studiert. Erst viel später, im Jahr 2000, bin ich als | |
Rabbi ordiniert worden. Das lag daran, dass ich während meiner Studienzeit | |
als Jewish chaplain assistant bei der amerikanischen Armee angefangen | |
hatte – bis zu deren Abzug 1994 aus Berlin. Mein Vater hat den Jewish | |
chaplain oft bei Gottesdiensten am Freitag und Samstag für die GIs und | |
Anwohner am Hüttenweg [in Dahlem; Anm. d. Red.] vertreten, und ich habe ihm | |
geholfen. Der Jewish chaplain war selten da, es hieß immer, er sei in the | |
fields. Ich nehme an, er saß dann auf dem Abhörturm am Teufelsberg, weil | |
er sieben oder acht Sprachen sprach. Jedenfalls riet er mir, mich im | |
Fernstudium ordinieren zu lassen, sonst würde ich das Gelernte nach dem | |
Abzug der Amerikaner bald nicht mehr anwenden können. So ist es dann auch | |
gekommen. | |
Ende Dezember gehen Sie als Direktor der Topographie des Terrors in den | |
Ruhestand. Sie bleiben aber im Stiftungsrat des | |
christlich-jüdisch-muslimischen Projekts House of One. Bleibt das ein | |
Nischenprojekt, oder wird es anschlussfähig an den Mainstream? | |
Ich will es mal so erklären: Als wir Anfang der 80er Jahre gesagt haben, | |
hier, wo wir uns gerade unterhalten, auf dem Gestapo-Gelände, damals hieß | |
es noch Prinz-Albrecht-Gelände, solle eine Dokumentation und keine | |
Gedenkstätte entstehen, war das auch kein Mainstream. Trotzdem war es | |
ungeheuer nötig, neben die Erinnerungsarbeit der [1][Gedenkstätten auch | |
einen Lernort am Ort der Täter] zu stellen. Heute sehen wir, wie richtig | |
diese Entscheidung war. Jugendliche, auch und gerade Jugendliche mit | |
Migrationshintergrund, brauchen einen leichten thematischen Zugang, um sich | |
mit den Strukturen der Täter auseinanderzusetzen. Es ist nicht immer | |
möglich, über die Opfergeschichten Zugänge zu Fragen des | |
nationalsozialistischen Terrorsystems zu schaffen. Vielleicht liegen wir | |
damit bis heute nicht im Mainstream, aber es war und ist eine wichtige | |
Sichtweise des gesamten Themenkomplexes. Beim House of One würde ich das | |
ähnlich sehen. | |
Nicht wenige kritisieren, dass [2][die muslimische Seite beim House of One | |
nur mit einer Splittergruppe], einem der Gülen-Bewegung nahestehenden | |
Verein, vertreten ist. Heißt das, eine Mehrheit der Muslime ist nicht | |
bereit zum interreligiösen Dialog? | |
Das würde ich so nicht sagen. Hier wird eine Kirche, eine Synagoge, eine | |
Moschee gebaut und in der Mitte ein Raum für den Dialog – für den | |
„Tridialog“ zwischen den Religionen, aber auch für den Dialog mit der | |
Stadtgesellschaft, auch mit der nichtreligiösen. Für die Kirche ist im | |
Augenblick ein evangelischer Pfarrer zuständig. Aber sie wird schon so | |
gebaut, dass dort auch orthodoxe Christen und Katholiken ihre Gottesdienste | |
feiern können. In den jüdischen Raum soll meine Gemeinde nicht einziehen, | |
das wäre ganz falsch. Alle möglichen Gruppen und Gemeinden – aus Berlin und | |
anderswo – sollen das Gebäude nutzen. So sehe ich das für die muslimische | |
Seite auch. Wir alle drei, die wir uns jetzt um das Projekt kümmern, sind | |
nur Sachwalter – wenn es gut läuft, werden immer mehr Menschen das Angebot | |
nutzen. Und ich glaube schon, dass ein solches Haus Strahlkraft entfalten | |
wird. | |
Muslime klagen über Islamfeindlichkeit, Nichtmuslime über Islamismus. Wie | |
kommt man da raus? | |
Ich bin nicht der Meinung, dass Religion unbedingt etwas Trennendes ist. | |
Sie enthält viele Elemente, die zusammenführen könnten. Für mich ist es | |
wichtig, dass wir den Tridialog wirklich versuchen und die Politik, die oft | |
eher das Trennende ist, herausfiltern. Ich glaube, dass ein engagierter | |
Tridialog eine eigene Dynamik entfalten kann. Ein anderes Beispiel dazu: | |
Noch Mitte der 80er wurde etwa in der Springer-Presse über die „DDR“ | |
gehetzt. Dann kommt der 9. November 1989, und die alte | |
„Systemkonfrontation“ spielt plötzlich keine Rolle mehr. Insofern muss man | |
darauf setzen, dass sich die konfrontativen Fragestellungen, denen wir | |
heute begegnen, möglicherweise schnell erledigen werden. | |
Aber wie? | |
Ich denke, wenn man anfängt, an verschiedenen Stellen viele | |
Versöhnungsprojekte zu unternehmen, entfalten sie schon irgendwann ihre | |
Wirkung – so wie seinerzeit die Entspannungspolitik von Willy Brandt | |
gegenüber dem Osten. Wir müssen Geduld haben – und gucken, dass die Politik | |
sich heraushält. Sie ist hier nicht hilfreich. | |
Wäre es nicht hilfreich, wenn die muslimischen Gemeinden hier in Berlin | |
einen Staatsvertrag bekämen? | |
Dagegen gibt es keine Einwände. Nur ist die muslimische Welt davon weit | |
entfernt: Wir haben es mit vielen sehr unterschiedlichen Gemeinden zu tun, | |
sowohl landsmannschaftlich als auch religiös, die auf ihre eigene Identität | |
sehr großen Wert legen. Ich glaube, die Erwartung, dass sich die Muslime | |
dem hiesigen Staatskirchenwesen anschließen könnten, ist sehr christlich | |
geprägt. Ich glaube, an dieser Stelle sind andere Lösungen gefragt. Ich | |
könnte eine skizzieren, wenn Sie mögen? | |
Bitte schön! | |
In Italien gibt es zum Beispiel eine Kultursteuer, von der akkreditierte | |
Organisationen – von Amnesty International bis zur katholischen Kirche – | |
profitieren. Jeder Steuerzahler gibt an, für welche Organisationen sein | |
Anteil gegeben werden soll. Ein solches System wäre auch hier denkbar. | |
Es gibt wieder einen erstarkten Antisemitismus. Haben Sie dafür eine | |
Erklärung? Und kommt die größere Gefahr von biodeutscher oder von | |
migrantischer Seite? | |
Zunächst: [3][Antisemitismus ist keine Sache des Glaubens] – Christentum | |
oder Islam –, sondern der Politik. Eine Herausforderung ist der aus dem | |
Faschismus stammende Antisemitismus, der als Rasse-Antisemitismus zu | |
bezeichnen ist. Die andere ist der sogenannte muslimische Antisemitismus, | |
der durch den Nahostkonflikt beeinflusst wird und in Deutschland als ein | |
aus den arabischen Staaten importierter Antisemitismus, Antiisraelismus, | |
Antizionismus wahrgenommen wird. Das sind zwei ganz unterschiedliche | |
politische Phänomene, die bisweilen miteinander zu einer sehr | |
unerquicklichen Melange verschmelzen. Es handelt sich um einen | |
international vagabundierenden Antisemitismus, der am Ende nicht mehr nur | |
jüdische Gemeinden bedroht. | |
Gedenk- und Lernorte wie die Topographie des Terrors werden täglich von | |
vielen Schulklassen besucht. Aber was bleibt da hängen? | |
Wenn es gut läuft, bleibt hängen, dass in einem Land wie Nazideutschland, | |
in dem nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, Kranke, sogenannte | |
Asoziale, politisch Andersdenkende, Schwule, Sinti und Roma, am Ende auch | |
Juden ohne politische Rechte leben. Die Quintessenz könnte sein, dass man | |
sich fragt: Wie sieht es denn in Staaten aus, aus denen zum Beispiel junge | |
Menschen mit Migrationshintergrund kommen? Wie steht es dort um die | |
Gleichheit vor dem Gesetz – für Frauen, Christen, andere Minderheiten? Man | |
kann sich auch ansehen, was passiert, wenn eine Hegemonialmacht fast einen | |
ganzen Kontinent besetzt, einen Trümmerhaufen zurücklässt und fast alle | |
Familien Tote zu beklagen haben. Heute kann man durch ein „Europa der | |
Regionen“ fahren. Wenn man ein großes Staatengebilde haben will, muss man | |
tolerant sein, und wenn man Frieden haben will, ebenfalls. | |
Was wünschen Sie sich für 2020? | |
Für mich, dass ich gesund bleibe, das ist in meinem Alter ja das | |
Allerwichtigste. Und für Berlin, dass die Stadt locker bleibt. Lockerheit | |
war ja das Merkmal des eingemauerten Berlin. Die Leute haben mich immer | |
gefragt, wie ich das aushalten könne mit dieser Mauer drumherum. Ich habe | |
sie im Alltag gar nicht bemerkt. Diese Lockerheit sollte sich Berlin | |
erhalten und keine großen Gräben aufreißen, weil man zum Beispiel meint, | |
man müsse jetzt und sofort einen „Klimanotstand“ bewältigen. Die Frage ist | |
berechtigt, ob es sein muss, mit dem Auto in die Stadt hineinzufahren. Es | |
ist berechtigt, ein anderes städtisches Konzept zu diskutieren. Aber das | |
braucht eben seine Zeit. Panik ist kein guter Ratgeber. | |
28 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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