# taz.de -- Bau eines interreligiösen Gotteshaus: „Es gibt mehr Religionen i… | |
> Am Donnerstag war die Grundsteinlegung für das „House of One“ in Mitte. | |
> Die taz hat mit den Protagonisten des Drei-Religionen-Projektes | |
> gesprochen. | |
Bild: Pfarrer Gregor Hohberg, Rabbiner Andreas Nachama, Imam Kadir Sanci bei de… | |
taz: Herr Hohberg, wir führen dieses Interview Mitte Mai, und in Israel und | |
Palästina tobt die Gewalt. Angefangen hat die Eskalation wie so oft auf dem | |
Tempelberg in Jerusalem. Verstehen Sie Menschen, die jetzt sagen: Ohne | |
Religionen gäbe es mehr Frieden? | |
Gregor Hohberg: Ich kann das sehr gut verstehen. Der Gedanke liegt ja nahe, | |
wenn man sieht, dass Konflikte und Gewalt häufig mit Religion verknüpft | |
sind. Mich treibt die Frage schon lange um, weshalb das so ist und wie man | |
dagegen vorgehen kann, denn ich sehe ja auch, was die Religion Gutes mit | |
sich bringt. Ich denke, wenn man gläubig ist, ist das etwas, was sehr tief | |
in die eigene Identität hineinreicht. Deshalb ist es aber auch etwas, was | |
sich leicht triggern lässt, was Leidenschaften weckt und, wenn es | |
unaufgeklärt und ideologisch-dogmatisch daherkommt, ausufern kann. Was wir | |
mit dem House of One zu zeigen versuchen, ist, dass Religionen enorme | |
Friedenskräfte haben. Wir wollen zeigen, dass wir tief verwurzelt sind in | |
unserem Glauben, dass das aber nicht dazu führt, dass wir andere abwerten | |
oder uns abschotten. | |
Wird Religion missbraucht, um politische Konflikte auszutragen? Oder ist | |
sie selbst eine Wurzel des Konflikts? | |
Wo Politik die Religion nutzt, um Menschen auszugrenzen, bezieht man sich | |
immer nur auf bestimmte Teile davon. Dass es diese Teile gibt, lässt sich | |
nicht bestreiten. Unsere heiligen Schriften haben Stellen, die sich | |
isolieren und dann gegeneinander verwenden lassen. Darum braucht Religion | |
eine aufklärerische Seite, sie muss sich mit den Schriften | |
auseinandersetzen und sie weiterentwickeln. Sie muss sich abgrenzen von | |
eigenen Lehren, die in die Irre geführt haben. | |
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie Bilder sehen von Raketen der Hamas oder | |
Soldaten in der Al-Aksa-Moschee? | |
Das ist ganz furchtbar. Ich versuche mich in die Lage der Menschen vor Ort | |
zu versetzen und sehe: Wenn es erst mal so eskaliert ist, gibt es im Grunde | |
nur noch Opfer auf beiden Seiten. Darum ist es ungeheuer wichtig, dass es | |
gar nicht so weit kommt. Wenn erst einmal die Waffen sprechen, ist es | |
wahnsinnig schwer, das wieder einzufangen. | |
Denken Sie, dass sich der Konflikt auch in Berlin weiter ausbreiten wird? | |
Eher nicht. Auch wenn es die Medien vielleicht nicht so wahrnehmen, gibt es | |
hier viele Initiativen, die Dialog und nachbarschaftlichen Kontakt pflegen. | |
Gerade in der Pandemie sehen wir häufig, dass etwa eine Kirchengemeinde | |
Räume für eine Moscheegemeinde oder eine jüdische Gemeinde zur Verfügung | |
stellt. Auf dieser Ebene gibt es viel Positives und Stabilisierendes. | |
Das House of One tritt oft aus solchen Anlässen an die Öffentlichkeit, etwa | |
nach einem Terroranschlag, der in irgendeiner Weise mit Religion in | |
Zusammenhang steht. Haben Sie Sorge, eine Art Feuerwehr zu werden? | |
Das ist ein Gedanke, mit dem wir uns beschäftigen. Meist werden solche | |
Anfragen von außen an uns herangetragen. Einerseits ist es wichtig, darauf | |
zu reagieren, weil sich darin ja das Bedürfnis zeigt, die andere, | |
friedliche Seite der Religion zu sehen. Aber wenn man nur zu solchen | |
Anlässen in Erscheinung tritt, wird man irgendwann eng damit verknüpft, und | |
damit springt man zu kurz. Religion ist viel mehr. Darum suchen wir bewusst | |
Anlässe, um dieses Muster zu durchbrechen. Wir haben etwa interreligiöse | |
Gebete zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes und zum 30. Jahrestag des | |
Mauerfalls angeboten. | |
Bis zur Grundsteinlegung des House of One hat es viel länger gedauert als | |
geplant. Warum? | |
Das stimmt nur so halb. Wir hatten nie wirklich Zeitdruck, und die gut zehn | |
Jahre, die seit den Anfängen vergangenen sind, waren für uns sehr wertvoll. | |
Das Zusammenwirken und das gegenseitige Vertrauen sind in dieser Zeit | |
wunderbar gewachsen, und das ist die Basis, die wir brauchen, um gemeinsam | |
ein Haus zu bauen. Andererseits haben wir uns auch aus taktischen Gründen | |
ehrgeizige Ziele beim Spendensammeln gesetzt, und ja, es ging nicht immer | |
ganz so schnell. Ich würde es so sehen: 2009 gab es weder das Grundstück | |
noch Mitarbeiter noch einen einzigen Cent. Heute haben wir Geld für ein | |
tolles Bauwerk, eine Stiftung, ein tolles Team, das Grundstück wurde uns in | |
Erbbaupacht übertragen. Das ist sehr viel für diesen Zeitraum. | |
Lassen Sie uns kurz zurückblicken – was war 2009? | |
Damals wurde die Frage immer virulenter, was mit dem Grundstück der | |
ehemaligen Petrikirche geschehen soll, dem ältesten heiligen Ort Berlins. | |
Wir sammelten dann auf einer Gemeindeversammlung Ideen, was auf diesem | |
Platz Neues entstehen könnte. Ich habe die Idee eingebracht, etwas mit | |
mehreren Religionen gemeinsam zu machen. Das fand großen Anklang. Denn die | |
Gesellschaft hat sich verändert: Die Mehrheit ist säkular, gleichzeitig | |
gibt es mehr Religionen in Berlin. Und wir als Gemeinde brauchten neben | |
Marien- und Parochialkirche keine weitere Kirche. Wir haben dann Partner | |
gesucht und diese in der Jüdischen Gemeinde, dem Geiger Kolleg und dem | |
Forum Dialog gefunden. 2011 gründeten wir den Verein, seit 2016 gibt es die | |
Stiftung. | |
Seit 2014 sammeln Sie per Crowdfunding Geld für den Bau. Es hat ja eine | |
symbolische Funktion, wenn ein Projekt aus der Gesellschaft heraus getragen | |
wird. Dafür hat es aber nicht gereicht: Rund zwei Drittel der veranschlagen | |
47 Millionen Euro steuern der Bund und das Land bei. Ist das nicht ein | |
symbolisches Scheitern? | |
Nein, wirklich nicht. Sie haben Recht, dass es beim Crowdfunding auch darum | |
ging, die Idee zu verbreiten. Das hat aus unserer Sicht sehr gut geklappt, | |
immerhin sind wir ein kleiner Verein, keine Firma mit großer | |
Marketingabteilung. Bis zur Stiftungsgründung haben wir alle fast nur | |
ehrenamtlich gearbeitet. Trotzdem haben wir über 1.000 Einzelspender aus | |
rund 60 Ländern, und es gab auch im Nahbereich viel Zuspruch für uns von | |
religiösen und religionslosen Menschen. Außerdem haben wir bereits mehrere | |
Partnerprojekte, die die Idee aufgreifen und weiterentwickeln – unsere | |
Hauptpartner sind in der Zentralafrikanischen Republik, in Georgien und in | |
Haifa in Israel. 2020 haben wir eine Mehrreligionshaus-Konferenz gegründet, | |
bei der alle Projekte zusammenkamen, die ähnlich unterwegs sind. | |
War es nicht dennoch die Hoffnung, dass die gesamte Summe durch | |
Crowdfunding zusammenkommt? | |
Nie wirklich. Der Architekturwettbewerb war ja ganz frei, wir wollten, dass | |
die Büros ihre Ideen ohne finanzielle Begrenzungen entwickeln konnten, weil | |
es eine völlig neue Bauaufgabe war. Am Ende zeigte sich, dass ein so | |
komplexer Bau eben auch viel kostet. Da war uns klar, dass es auf allen | |
Ebenen nötig sein wird, Geld einzusammeln, von Klein- und Großspendern und | |
auch durch staatliche Förderung. | |
Wie kann Ihr Projekt einen gesellschaftlichen Prozess anstoßen? | |
Ich denke, jedes Gespräch, das wir führen, jedes Gebet, das wir anbieten, | |
führt dazu, dass die Gesellschaft sich in kleinen Schritten verändert, auf | |
dem Weg bleibt zu einem friedlichen Miteinander. Dass daraus eine Welle | |
wird, die alles erfasst – das wäre ja das Schönste, was passieren kann, | |
aber das hat man nicht in der Hand. Trotzdem: Wenn wir unsere Sache hier | |
gut machen, wird sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn das Haus in vier | |
Jahren eröffnet, wird hier von morgens bis abends ein sichtbarer, offener | |
Dialog von und mit den Religionen stattfinden, und wir erwarten, dass sich | |
noch mehr Nachahmer finden. | |
Wird das Haus ein touristischer Anziehungspunkt? | |
Wir denken schon, ja. Das hat auch mit seiner Lage zu tun: Wir sind hier | |
auf der südlichen Hälfte der Museumsinsel, unweit des Humboldtforums, und | |
diese Orte werden natürlich von vielen Touristen aufgesucht. Aber das ist | |
auch völlig in Ordnung, wir wollen ja zeigen, was wir machen. | |
Sehen Sie ein Bedrohungsszenario für das House of One? | |
Wir hoffen, mit so wenig Sicherheitsmaßnahmen wie möglich auszukommen. Das | |
Haus wird davon leben, dass es für alle, die am Gespräch interessiert sind, | |
ohne große Hürden offen ist. Das funktioniert aber nur, wenn die | |
Gesellschaft, die uns umgibt, das mitträgt und mitgeht. | |
Ihr islamischer Partner, das kleine „Forum Dialog“, ist der Gülen-Bewegung | |
zuzurechnen, die von der Erdogan-Regierung der Türkei als terroristisch | |
bezeichnet wird. | |
Die Religionen in Deutschland sind sehr unterschiedlich organisiert. Manche | |
würden gerne das Muster der Kirchen auf alle übertragen, aber das passt | |
nicht: Kirchen sind gewachsene Institutionen, in denen alles streng | |
geregelt ist, ob im Verhältnis zum Staat oder untereinander, wo es klare | |
Hierarchien gibt. Dagegen sind die Muslime in Deutschland über kleine | |
Vereine oder Vertreterverbände organisiert, die sich teilweise in | |
Konflikten miteinander befinden. Wir haben am Anfang sehr offen mit allen | |
geredet, um auszuloten, wer der richtige Partner ist. Es musste jemand | |
sein, der bereit ist, mit jüdischen Partnern zusammenarbeiten und mit ihnen | |
öffentlich aufzutreten, ohne mit der Wimper zu zucken – für einige keine | |
ganz leichte Vorstellung. Ich sehe es so: Wir sind eine Basisbewegung, drei | |
Gemeinden, die sich auf den Weg machen. Wir repräsentieren nicht das Ganze. | |
Aber wir verpflichten uns, andere, die mitmachen wollen, einzubinden und | |
nicht auszugrenzen. Für viele muslimische Gemeinden ist das eine große | |
Herausforderung, aber das Forum Dialog ist da sehr positiv und aktiv. | |
Wie gerufen kommt Imam Osman Örs hinzu. Er nimmt Wasser, aber keinen | |
Kaffee: Kurz nach Ende des Ramadan lässt er es damit noch langsam angehen, | |
sagt er. | |
Herr Örs, ist die Präsenz des Forums Dialog im House of One ein Problem für | |
andere Muslime? | |
Osman Örs: Zum einen ist die Frage der Repräsentativität nicht nur ein | |
Problem unserer Gemeinde, sondern der muslimischen Gemeinschaft insgesamt. | |
Selbst die Islamverbände repräsentieren ja weniger als 20 Prozent aller | |
Muslime in Deutschland. Wir selbst sehen uns als einen Teil des Mosaiks der | |
Vielfalt. Unsere Rolle im Geiste des Projekts ist es, eine offene Haltung | |
gegenüber anderen Gemeinden zu zeigen. Die Geschehnisse in der Türkei haben | |
uns natürlich zurückgeworfen, die Stigmatisierung von der türkischen Seite | |
her macht es schwieriger, Brücken in die türkische Community zu bauen. | |
Trotzdem haben wir es durch die Pflege des innermuslimischen Dialogs über | |
die Jahre geschafft, andere Gemeinden mit an Bord zu holen. Ein Beispiel: | |
Bei einem multireligiösen Friedensgebet anlässlich der Anschläge in Hanau | |
waren erstmals seit Langem fünf weitere VertreterInnen anderer muslimischer | |
Gemeinden beteiligt, unter anderem deutsche, pakistanische, | |
arabisch-sprachige Muslime sowie muslimische Sinti und Roma. Das gibt mir | |
Zuversicht. Im Jahr 2018 gab es einen Workshop mit sunnitischen und | |
schiitischen Theologinnen und Theologen, um herauszufinden, wie die Moschee | |
im House of One gestaltet sein muss, damit sich Schiiten wie Sunniten darin | |
wohlfühlen. Wir werden es sicher nicht schaffen, die Gesamtheit der Muslime | |
mitzunehmen, aber ein Gutteil wird sich mit dem Projekt anfreunden, Brücken | |
werden gebaut werden. | |
Ist es für manche Gemeinden problematisch, wenn bestimmte andere Gruppen | |
denselben Raum nutzen? | |
Keineswegs. Der Raum, die Moschee, steht allen Musliminnen und Muslimen | |
grundsätzlich offen. Was die Liturgie anbelangt: Es wird Momente geben, wo | |
wir gemeinsam beten, und andere, wo wir nebeneinander oder nacheinander | |
beten. Dies gründet auf den theologischen Feinheiten und verschiedenen | |
Deutungsmöglichkeiten des Islams. | |
Gibt es Gruppen, mit denen Sie Ihre Räume nicht teilen würden? | |
Unsere Charta listet Punkte auf, denen man verpflichtet sein muss: | |
gegenseitigen Respekt zu pflegen, den Raum nicht zu politisieren, nicht | |
missionarisch tätig zu sein. Insofern disqualifizieren sich einige | |
Gemeinden. Extremistische Gruppierungen werden es schwer haben, Gast im | |
Haus zu sein. | |
Jetzt ist auch Rabbiner Andreas Nachama dabei – als langjähriger Leiter der | |
„Topographie des Terrors“ das prominenteste Gesicht in der Runde. | |
Lassen Sie uns mal über religiöse Inhalte sprechen. In der christlichen | |
Tradition spielt die Figur Jesus eine zentrale Rolle. Für Sie, Herr | |
Hohberg, ist Jesus Gott. Für Sie, Herr Örs, ist er ein Prophet, aber eher | |
eine Randfigur, für Sie, Herr Nachama, allenfalls ein falscher Messias. Wir | |
geht man damit um? | |
Andreas Nachama: (lacht) Locker. Ich würde sagen: Für uns ist Jesus von | |
Nazareth eine historische Gestalt, ein jüdischer Gelehrter, der dann eine | |
andere Bedeutung bekommen hat. So etwas können wir ja auch in der Gegenwart | |
beobachten, mit der Sekte der Chabad, die den Rabbiner Menachem Schneerson | |
als Messias ansehen. Das war damals so ähnlich. Leider können wir in 500 | |
Jahren nicht mehr hier sitzen, um zu sehen, ob jemand, der sich heute | |
Messias nennt, dann doch keiner war, oder ob sich diese Bewegung verfestigt | |
hat. So vieles entwickelt sich über die Zeit hinweg. Nach der Zerstörung | |
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 hat die altisraelische Opferregion zwei | |
neue Ausformungen: das rabbinische Judentum und das Christentum. Und einige | |
Jahrhunderte später entstand mit dem Islam eine dritte Variante. Ich | |
betrachte all das mit großem Respekt und Interesse, gerade auch als | |
Historiker. | |
Hohberg: Sie sprechen einen der größten Unterscheidungspunkte zwischen uns | |
an. Zum eine ist Jesus als Jude geboren und gestorben, zum anderen ist er | |
einer der bedeutendsten Propheten im Islam. Für uns Christen ist er wahrer | |
Mensch und wahrer Gott – da ist klar: Das kriegen wir nicht unter ein Dach. | |
Aber in unseren Religionen gilt, dass wir Menschen sind, die sich Fragen | |
stellen und nach dem Sinn des Lebens suchen. Auf die letzten Fragen haben | |
wir keine Antworten, da müssen wir demütig bleiben, die liegen bei Gott. | |
Das ist, was uns eint. Deshalb können wir unsere Glaubensüberzeugungen | |
leben und respektieren, dass es daneben andere gibt. Unsere Aufgabe ist, | |
friedlich damit umzugehen, uns nicht über andere zu erheben. | |
Örs: Dem kann ich mich nur anschließen. Wir haben nicht das Recht, zu | |
urteilen, das endgültige Urteil obliegt Gott. Aber natürlich ist es für uns | |
bereichernd, eine Person neu zu entdecken, sie aus koranischer Perspektive | |
zu betrachten. Dort gibt es ja Kritik gegenüber der Wahrnehmung von Jesus | |
als Gottes Sohn – so wie wir Mohammed als Menschen wahrnehmen und nicht | |
vergöttlichen sollen. Gleichzeitig finden wir eine Wertschätzung für ihn | |
als Mensch und für seine Mutter, die als einzige Frau im Koran namentlich | |
Erwähnung findet. Seine Geburt kommt als Wunder im Koran genauso vor wie in | |
der christlichen Tradition. | |
Die Geschichten von Jesus im Neuen Testament, seine Aussagen, haben die für | |
Sie eine Bedeutung? | |
Örs: Das Studium des Neuen Testaments ist nicht Teil der islamischen | |
Theologie oder Ausbildung, aber es gibt in der Tradition der Koranauslegung | |
auch die Exegese der jüdischen und christlichen Quellen – Schar’u man | |
qablana, die „Scharia der Vorangehenden“. Da schaut man, wie Geschichten, | |
die im Koran angestoßen werden, in der Bibel weitererzählt werden. Das | |
wurde schon in den frühesten Zeiten des Islam gemacht, ist aber heute | |
vielen nicht mehr so bekannt. Es ist also etwas, was neu entdeckt werden | |
muss. | |
Ihr Miteinander soll bereichern. Was mich irritiert, wenn ich über Ihr | |
Projekt lese, ist die Sorge, dass sich da auf keinen Fall etwas vermischen | |
darf. | |
Nachama: Wenn man so nah beieinander ist wie wir, gibt es zwei Varianten: | |
Die eine ist, dass man die eigene Tradition neu entdeckt, wenn man sieht, | |
was der andere tut. Auf der anderen Seite sieht man Dinge beim anderen, die | |
Eindruck auf einen machen. Ein vielleicht belangloses, aber schönes | |
Beispiel: Wenn wir bei muslimischen Freunden eingeladen sind, gibt es immer | |
etwas Süßes. Ich finde das sehr schön, und als ich noch Direktor der | |
„Topographie“ war, habe ich mir das abgeguckt und hatte eine Schale mit | |
Schokolade auf dem Tisch. Das ist kein Teil der Religion, sondern des | |
kulturellen Backgrounds, aber so lange sind wir ja auch noch nicht | |
zusammen. Man sollte diese Frage auch nicht ständig stellen, sondern | |
einfach schauen, was passiert, wenn wir in einem Haus sind. Wir werden ganz | |
sicher keine Esperanto-Religion schaffen, wir sind einfach beieinander, | |
jeder in seiner Tradition. | |
Örs: Ich denke, es ist eine Bereicherung, weil man Zugang zur Gefühlswelt | |
und Spiritualität des anderen bekommt. Man teilt etwas, auch wenn die | |
Inhalte unterschiedlich sind: Das ist ein Moment der Wertschätzung und der | |
Empathie. Zum anderen ist es eine Einladung, zu reflektieren, vielleicht | |
auch die eigenen Quellen neu zu lesen. Man merkt auf einmal, dass im Koran | |
Moses, Jesus und Maria deutliche Erwähnung finden, dass es Berührungspunkte | |
gibt. Natürlich wollen wir unsere Unterschiede nicht wegdiskutieren, die | |
sind da, und wir wollen nichts Neues schaffen. Aber es gibt eben auch die | |
verbindenden Elemente, und die zu entdecken, ist etwas Schönes. | |
Hohberg: Die Sorge vor Vermischung ist nicht meine, aber es gibt sie, und | |
das ist auch nicht verwunderlich. Derzeit sieht man uns immer zu dritt, und | |
obwohl wir selbst genau sehen, dass die Unterschiede trotzdem groß und | |
dabei wertvoll und bereichernd sind, kann es aus der Ferne wirken, alles ob | |
wir da etwas zusammenwerfen. Es bereitet Menschen Sorge, wenn die | |
Glaubenswahrheit, an die sie alles hängen, scheinbar relativiert wird, weil | |
neben ihnen Menschen mit der gleichen Überzeugungskraft an etwas anderes | |
glauben. Da können wir nur sagen: Das ist so, aber es schadet uns nicht, | |
etwas zusammen zu machen. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen | |
der Pflege der eigenen Identität und der Offenheit für Andere. Im Übrigen | |
hat jedes echte Gespräch einen offenen Ausgang. Man weiß ja nicht, wo es | |
hinführt, wenn man anfängt, miteinander zu reden. | |
29 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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