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# taz.de -- Holocaust-Gedenken: Appellierende Reize
> In absehbarer Zeit wird es keine noch lebenden Opfer des
> Nationalsozialismus mehr geben. Wie wichtig sind Zeitzeugen für das
> Gedenken und warum?
Bild: Umfassende Aufarbeitung: Registrierungsfotos Kriegsgefangener in der KZ-G…
Zunehmend sollen [1][in der niedersächsischen Gedenkstätte Bergen-Belsen
provokante Fragen gestellt werden], in diesem Falle war von einer
Schulklasse die Rede, und auch sonst kommt Ähnliches vor, in der ganzen
Bundesrepublik. Wie kann das sein und was ist das für eine Entwicklung?
Am Montag waren auf allen Nachrichtenportalen zu Skeletten abgemagerte
Menschen zu sehen, anlässlich des Gedenktags für die Opfer des
Nationalsozialismus. Bilder von Überlebenden wurden in den Zeitungen
abgedruckt, unermüdlich berichten sie von dem, was sie erlebt haben. Viele
fürchten sich davor, dass es sie bald nicht mehr geben wird. Und darüber
musste ich schon oft nachdenken. Wie wichtig sind Zeitzeugen und warum? Ist
die Tatsache, dass sie es wirklich erlebt haben, mit ihren eigenen Augen
gesehen, für uns so wichtig, für unser eigenes Verständnis, gar für unseren
Glauben an diese Dinge?
Es gibt ja mittlerweile eine umfassende, wissenschaftliche Aufarbeitung
dieser Verbrechen, es gibt Film- und Fotomaterial, es gibt Gedenkstätten,
deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, ihre eigene Geschichte
öffentlich zu machen, es gibt Forschungsaufträge, Dokumentationen,
Habilitationen, aber nichts scheint die Zeitzeugen ersetzen zu können.
Woran liegt das? Und ist das überhaupt so? Sind wir nicht in der Lage, zu
abstrahieren, brauchen wir, um urteilen zu können, um Sachverhalte
moralisch einordnen zu können, wirklich jemanden, der uns die Umstände
dieser Sachlage anhand der eigenen Biografie illustriert?
Oder wird in dieser Angst vor der Zukunft ohne Zeitzeugen nur ganz
allgemein die Angst vor der schwindenden Kraft des (Ab-)Schreckens
deutlich, aber die fehlenden Zeitzeugen sind gar nicht der Grund, sondern
eine Gesellschaft, die von diesen Zeitzeugen sowieso nichts mehr wissen
will?
Insbesondere den Kindern, den Jugendlichen möchte man immer eine
anschauliche, eine detaillierte, empathische Vorstellung geben. Eine
Annäherung an das eigentlich Unvorstellbare, in Form eines einzelnen
Schicksales, in Form einer Geschichte, einer Erzählung.
Ich kann das verstehen. Wir brauchen Erzählungen, um uns einfühlen zu
können, wir brauchen die Details, um uns etwas vorstellen zu können. Wir
brauchen Farben, Gerüche, Geräusche, die Stofflichkeit der Dinge, und eben
aus diesem Grund gibt es ja auch Gedenkstätten, in denen das Leben und
Sterben in den Lagern auch sinnlich erfahrbar gemacht werden soll, nebst
den Zahlen und Fakten. So können wir vielleicht einen Hauch des Grauens
spüren. Der Rest bleibt abstrakt, und das Abstrakte führt die meisten
Menschen nirgendwo hin.
Aber es ist vielleicht auch gefährlich, wenn unsere Entscheidungen zu sehr
auf Gefühlen fußen, Urteile aufgrund unserer unmittelbaren Regungen
getroffen werden. Auch bei nüchterner Betrachtung der Dinge, und diese
Herangehensweise käme, in der Zukunft, auch ohne Zeugen aus: In keiner
vorstellbar lebenswerten, menschenwürdigen Welt sind die Verbrechen, die in
diesen Lagern geschehen sind, auch nur in Ansätzen rechtfertigbar. Es
brauchte keine Gefühle, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen – wenn wir in
unserer Gesellschaft Wert auf eine umfassende humanistische, moralische
Bildung legen würden, wenn unsere Gesellschaft aus reifen, vernünftigen
Menschen bestünde.
Aber unsere Gesellschaft ist beruflich spezialisiert und
moralisch-philosophisch verkümmert. Die Menschen brauchen immer wieder
simple, an das Mitgefühl appellierende Reize, wie Kinder, in denen das
Mitgefühl erst geweckt werden muss. Auf diese Weise sind sie aber auch
leicht zu manipulieren, durch ein Bild, eine Schlagzeile, eine Lüge. Alles,
was ihr leider dummes Herz erreicht, treibt sie in eine Richtung. Handeln
müssen wir aber kühl, mit unserem Verstand, handeln muss die Vernunft. Und
Menschen, die sich in Gedenkstätten respektlos benehmen, müssen
hinausgeworfen werden, damit der gesellschaftliche Anstand, als Wert an
sich, geschützt wird.
29 Jan 2020
## LINKS
[1] /Gedenkstaetten-Chef-ueber-Provokateure/!5654717
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Holocaust-Gedenktag
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Schwerpunkt Nationalsozialismus
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