| # taz.de -- Erinnerungs-Theater in Hannover: Rachegöttinnen auf Rollschuhen | |
| > Mit den Stücken „Furien des Erinnerns“ der Frl. Wunder AG und | |
| > „Weltmeister“ von Nina Gühlstorff widmet sich das Schauspiel Hannover dem | |
| > Erinnern. | |
| Bild: Die Frl. Wunder AG widmet sich in ihrer Hommage „Held*innen“ neun aus… | |
| Hannover taz | Individuelles Vergessen macht Angst, sorgt es doch im | |
| schlimmsten Fall für den Verlust der eigenen Identität – etwa bei | |
| demenziell Erkrankten. Kollektives Vergessen macht Angst, denn nur mit | |
| abgespeicherten Erfahrungen, Erkenntnissen, Schlussfolgerungen und dem | |
| Wissen um die Historie ist über die Realität hinauszukommen – also | |
| zielgerichtetes, Gesellschaft konstituierendes, erhaltendes und | |
| weiterentwickelndes Handeln möglich. Das Vergegenwärtigen von individuellen | |
| und kollektiven Bewusstseinsinhalten ist eine Kulturtechnik, gerade weil | |
| sie Kultur erst ermöglicht. Mit zwei Rechercheprojekten widmet sich das | |
| Schauspiel Hannover dem Phänomen. | |
| „Let’s talk Tacheles!“, drängt die israelische Gästin des Schauspiels | |
| Hannover, Hadas Kalderon, die fünf Kolleg*innen ihres Performance-Teams. | |
| Hinterfragt werden soll, ob Deutschland „Weltmeister“ der Erinnerung an die | |
| Zeit des Nationalsozialismus genannt werden kann – nicht im Sinne von | |
| Schuld, sondern im Sinne der Verantwortung für das „Nie wieder“. Warnen | |
| doch besorgte Wissenschaftler, dass das Wissen über den Holocaust, also | |
| Deutsche als Täter, in der dritten und vierten Generation der Nachgeborenen | |
| rapide nachlasse – im Gegensatz zum Wissen über die Bombenächte des 2. | |
| Weltkriegs, mit Deutschen als Opfer. | |
| Nicht zu vergessen der gerade populäre Populismus rechtsnationaler | |
| Politiker, die eine erinnerungspolitische Kehrtwende fordern, also ganz | |
| viel vergessen und nur die „positiven Aspekte deutscher Geschichte“ wieder | |
| identitätsstiftend zur Geltung bringen wollen. Hinzu gesellen sich | |
| xenophobische Anwandlungen und pseudoreligiöser Hass. All dieses Rumoren | |
| befeuert in Nina Gühlstorffs Produktion die Suche nach Manifestationen der | |
| Erinnerungskultur in Hannover anno 2020 und die Frage nach ihrem | |
| Aussterben, da kaum noch Zeitzeugen das NS-Unrecht erinnern und vermitteln | |
| können. In Hannover lebt laut Gühlstorff nur noch eine | |
| Holocaust-Überlebende: Ruth Gröne. | |
| Etwas kleiner dimensioniert ist das Anliegen des Theaterkollektivs Frl. | |
| Wunder AG. Sie wollen wie Gühlstorff das Forschen und Inszenieren vereinen, | |
| sind ebenfalls in Archive abgetaucht und haben das Internet durchgegoogelt: | |
| auf der Suche nach vergessenen Künstlerinnen der darstellenden Künste. | |
| ## Helden im Herzen, Nazis im Keller | |
| Zurück im Bühnenlicht soll mit ihnen das kollektive Gedächtnis neu | |
| formatiert und das Publikum als Speichermedium genutzt werden. Klar ist der | |
| Abend in der Argumentation gegen patriarchale Strukturen des Theatermachens | |
| und seiner Geschichtsschreibung, die Künstlerinnen allzu gern ausblende, so | |
| die These. Lautstark fordern die Performerinnen zum Kampf gegen | |
| Lobekartelle und Netzwerke der Männer auf sowie zur Gründung weiblicher | |
| Lobekartelle und Netzwerke für die Kunst von Frauen. Männer könnten als | |
| Musen teilhaben. Klingt lustig, ist aber auch fragwürdig: Kunst nicht als | |
| Kunst zu betrachten, also unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion | |
| und Geschlecht der Urheber*innen. | |
| Aufklärerisch gestimmt entern vier „Furien des Erinnerns“ als | |
| Rachegöttinnen auf Rollschuhen die Bühne. Kommen aber schnell in verspielte | |
| Feierlaune, um ihre neun ausgewählten Künstlerinnen jeweils eine | |
| Mini-Hommage zu widmen. Dabei werden die Geschichten aus autobiografischen | |
| Reflexionen als Lecture Performances entwickelt. | |
| Die Familie von Schauspielerin Sabrina Ceesay hat Wurzeln in Gambia, in der | |
| Beschäftigung damit erfuhr sie von Phillis Wheatley, als Sklavin nach | |
| Amerika verschleppt, veröffentlichte sie dort christliche Gedichte in | |
| formvollendetem Englisch, dass sie vor Gericht beweisen musste, selbst die | |
| Autorin zu sein. Ceesay bezeichnet Wheatley als „Urmutter der | |
| afroamerikanischen Literatur“ und singt eines ihrer Poems. | |
| Weiter werden Tanzkunst à la Loïe Fuller, alltagsschrottige | |
| Kostümkreationen der New Yorker Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven und | |
| Wiener Burgschauspielerkunst Katharina Schratts nachgestellt. Auch die | |
| weiteren Beispiele sind bewunderungswürdig, die szenischen Mittel eher | |
| schlicht, ihre Darbietungen höchst charmant. | |
| Ebenso informatives, weniger vergnügliches Erinnern, aber ebenfalls mit | |
| selbstreflexiven Darstellern ihrer selbst ist „Weltmeister“ als Wanderung | |
| in Kleingruppen zu diversen Spielorten im Schauspielhaus konzipiert. Auf | |
| der Hauptbühne erinnern die Mimen an ihre Probenarbeit: Aufblitzen erster | |
| Dispute. Aus Respekt die Vergangenheit ruhen lassen – oder das Trauma, den | |
| zivilisatorischen Bruch des Holocaust, als Mahnung verstehen vor den | |
| Abgründen, die sich in Menschen öffnen können? | |
| Der Umgang mit dieser Frage unterscheide sich in Deutschland und Israel, | |
| dort „haben wir Humor“, sagt der Berliner Israeli Michael Hanegbi und | |
| kritisiert das allgegenwärtige „Memory-Design“ – die institutionalisierte | |
| Praxis mit Gedenkstätten, -tagen und Denkmälern sowie all die rhetorischen | |
| Pathosformeln, moralischen Appelle und symbolischen Rituale. | |
| Aber folgen wir Hajo Tuschy ins Lager des Theatermuseums. Kellerkaltes | |
| Chaos. Fotos und CDs liegen herum, überall Kartons und Aktenordner. Viele | |
| Tage, so der Darsteller, habe er hier die Geschichte der Hannoveraner | |
| Bühnen erforscht. Und berichtet, dass die Spielstätte Ballhof einst | |
| HJ-Heimstätte war, woran heutzutage nichts erinnere. | |
| Weiter erzählt Tuschy, dass Intendant Georg Altmann, Sohn jüdischer Eltern, | |
| 1933 entlassen wurde, worauf die Presse die Befreiung von einem „Schädling“ | |
| bejubelte. Mit einem kulturpolitischen AfD-Zitat verweist der Schauspieler | |
| auf die Ähnlichkeit des genutzten Vokabulars. Sucht aber vor allem | |
| jemanden, den es zu würdigen gilt, weil er gegen den braunen Ungeist | |
| aufgestanden ist. Findet aber nur einen Ensemblebrief, der das Gegenteil | |
| nahelegt, und eine Hitler-Ode des Mimen Max Gaede, der noch bis 1969 in | |
| Hannover spielte und von dem eine Ex-Kollegin sagte: „Der war kein Nazi.“ | |
| Wurden beide Schriftstücke aus Opportunismus geschrieben, um die Jobs zu | |
| behalten? Tuschy sucht vergeblich Klarheit. Sucht auch Hinweisschilder im | |
| Kiez seiner Privatwohnung auf das ehemals dort angesiedelte | |
| Zwangsarbeiterlager. Und findet keine. | |
| ## Fuck Weltpolitik! | |
| Bei der Keksfabrik Bahlsen schlägt ihm Ahnungslosigkeit in Sachen | |
| Aufarbeitung der Unternehmenshistorie entgegen. Schließlich wird er doch | |
| noch fündig an der Jakobistraße: „In diesem Gebäude hat Dirk Rossmann 1973 | |
| den ersten Drogeriemarkt Deutschlands eröffnet. Geht doch mit der | |
| Gedenktafel.“ Ein leidenschaftlich empörter Monolog über | |
| Geschichtsverdrängung und die Unmöglichkeit, schnelle Antworten aus | |
| Archiven zu buddeln: Tuschy gestaltete den Höhepunkt des Abends. Weiter | |
| geht es. | |
| Auf der Unterbühne ist der Fokus auf Michelangelo Pistolettos Mahnmal neben | |
| der Oper gerichtet, an dem Namen von 1.935 ermordeten Juden verewigt sind. | |
| Nikolai Gemel berichtet Details und fragt immer wieder, wie interessiert, | |
| wie betroffen man denn gerade sei auf einer Skala von 1 bis 10. In seinem | |
| beiläufig provokanten Monolog kommt er zu dem Schluss: Eine solche | |
| Installation helfe kaum der selbstkritischen Verständigung über Geschichte. | |
| Weiter geht es. | |
| Michael Hanegbi übersetzt ein auf Hebräisch geführtes Gespräch mit | |
| Freunden. Vornehmlich geht es um die Behauptung, der Holocaust sei kein | |
| singuläres Ereignis, sondern finde fortgesetzt statt in China, Syrien, Irak | |
| … Resigniertes Resümee: „Fuck Weltpolitik. Things are bigger than us.“ | |
| Weiter geht es. Auf der Cumberland-Bühne befragen sich Stella Hilb und | |
| Hadas Kalderon am Kaffeetisch zu ihren Familiengeschichten, die von | |
| Nazi-Mitläufern, Flucht, Deportation und dem Tod in Lagern handeln. Weiter | |
| geht es. | |
| ## 20 Minuten Zeit zum Unterhalten | |
| 20 Minuten bekommt das Publikum Zeit, sich selbst übers Erinnern des | |
| Holocaust zu unterhalten. Weiter geht es. Ein Film ist noch zu sehen und | |
| Hilb lädt ein, mit ihr ins niedersächsische Estorf zu fahren, um dem dort | |
| nach rechten Drohungen zurückgetretenen Bürgermeister Solidarität zu | |
| bekunden. Eine erste tatkräftige Schlussfolgerung aus dem | |
| Holocaust-Gedenken? Nein, die Darstellerin rennt von der Bühne, so dass | |
| sich niemand mit ihr verabreden kann. Alles nur gespielt. | |
| Let’s talk Tacheles? In vielen anregenden Ansätzen ist das gelungen. Nur | |
| leider verzettelt sich der Abend, ein maximal vielstimmiges Bild | |
| öffentlicher und privater Meinungen aufzuzeigen. Der Rest ist | |
| erinnerungssatte Ratlosigkeit. | |
| 1 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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