# taz.de -- Buch über Alzheimer Erkrankung: Mit kleinen Hilfen durch den Alltag | |
> Wendy Mitchell ist mit 58 Jahren an Alzheimer erkrankt. Das Buch über ihr | |
> Leben mit der Krankheit, hilft Gesunden Demenz zu verstehen. | |
Bild: Fotos an einer Wäscheleine und Ipads helfen Wendy Mitchell durch den All… | |
Stellen Sie sich vor, Sie waren unterwegs und gehen jetzt nach Hause in | |
Ihre Reihenhaussiedlung. Sie sind vor Ihrer Haustür angekommen und wollen | |
aufschließen. Sie stutzen: Warum ist der Türknauf plötzlich auf der rechten | |
Seite? Der war doch sonst links. Sie sehen sich um, Ihr Blick fällt auf die | |
Blumentöpfe vor der Nachbarstür. Ihre Blumen, Ihre Pflanzen. Wer zum Teufel | |
hat Ihre Blumentöpfe vor die Tür des Nachbarn gestellt? Überhaupt, wieso | |
steht Ihr Haus plötzlich nebenan? | |
So geht es Wendy Mitchell manchmal. „Ich blicke noch einmal zur Haustür und | |
langsam dämmert es mir: Das hier ist nicht mein Haus …“ schreibt Mitchell. | |
Sie läuft zurück auf die Straße, bleibt auf dem Gehweg stehen und sieht | |
drei identische Häuser. „Mein Haus ist das in der Mitte“, fällt ihr ein u… | |
sie findet die richtige Tür. | |
Mitchell aus dem britischen York ist [1][Bloggerin] und Buchautorin. 2014 | |
wurde bei ihr im Alter von 58 Jahren [2][Alzheimer] im jüngeren | |
Lebensalter, „Young Onset Dementia“, diagnostiziert. Mitchell ist noch im | |
Frühstadium der Erkrankung, sie kann sich gut ausdrücken, kann schreiben. | |
Ihr Blog und ihr jetzt auf Deutsch erschienenes Buch „Der Mensch, der ich | |
einst war. Mein Leben mit Alzheimer“, das mit der Co-Autorin Anna Wharton | |
entstand, sind ein Glücksfall für alle Gesunden, die sich in die Welt der | |
Dementen einfühlen wollen. | |
Zum Beispiel gab es da diesen Schreckenstag, [3][kurz nach der Diagnose.] | |
Mitchell saß im Büro, sie arbeitete beim National Health Service als | |
Teamleiterin. „In einer einzigen Sekunde war alles weg. Ich hob den Blick … | |
konnte mich an gar nichts mehr erinnern. Es war, als würde ich mich an | |
einem Ort wieder finden, an dem ich noch nie im Leben war, umgeben von | |
wildfremden Menschen.“ Sie steht auf, ihr Herz rast, sie geht auf den Flur, | |
durch die Flügeltür, ins Treppenhaus. Da ist eine Tür mit Glaseinsatz. Sie | |
öffnet die Tür. Blassrosa Kachelwände, irgendwie vertraut. Sie setzt sich | |
auf einen Klodeckel. Wartet. „Und dann geschah es. Die Wolken lichteten | |
sich … Ich war bei der Arbeit auf der Toilette. Ganz klar.“ | |
Wer solche Kurzschlüsse im Hirn erlebt, tut alles dafür, irgendwie die | |
Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Man kämpft um die Verbindung | |
zur Welt, wenn das Hirn nach und nach den Dienst versagt. Wenn man, wie | |
Mitchell, nach und nach nicht mehr im Büro arbeiten, nicht mehr Auto | |
fahren, den Krimis im Fernsehen nicht mehr folgen, nicht mehr Kuchen | |
backen, sich nicht mal mehr was kochen kann. Weil man vergisst, was im Topf | |
drin ist, wenn erst einmal der Deckel drauf ist. | |
Mitchell, die alleine lebt und zwei erwachsene Töchter hat, gestaltet nach | |
der Diagnose einen Raum in ihrer Wohnung als „Memory Room“, als | |
Erinnerungszimmer. „Ich hänge Dutzende Fotos mit bunten Miniwäscheklammern | |
an lange Seile, die sich an den Wänden spannen. Dabei drehe ich jedes | |
einzelne Bild um, und da sind sie, die Notizen, die ich gestern auf die | |
Rückseiten gekritzelt habe“, schreibt sie. Im Zimmer hängen an einer Leine | |
die Fotos der Töchter, an einer anderen Leine die Bilder der Häuser, in | |
denen Mitchell gelebt hat. Eine weitere Leine hält Bilder der | |
Lieblingsorte, am Lake District, an der Küste von Dorset, am Strand von | |
Blackpool. Alle Bilder hat Mitchell auf der Rückseite sorgfältig | |
beschriftet, Personen, Ort, Zeit sind vermerkt. | |
Hier, in diesem Raum, kann Mitchell etwas entspannen, wenn sich der | |
„Angstknoten“ im Bauch wieder zusammenzieht. „Ich sitze auf der Bettkante | |
und in mir macht sich ein Gefühl von Ruhe und Freude breit. Wenn die | |
Erinnerungen in meinem Inneren erst gelöscht sind, werden sie im Außen | |
immer noch da sein.“ | |
Die Natur wirkt beruhigend. „Im Freien zu sein, an der frischen Luft, führt | |
mich in einen Zustand, wo die Demenz nicht existiert. Hier gibt es nur Raum | |
und den weiten Himmel über mir“, schreibt sie. Alles Vertraute in der Natur | |
ist gut, der Garten im Städtchen York, die Katze Billy, die Vögel im | |
Garten, die „Rotkehlchen und Zaunkönige, die in den Ranken am Gartenzaun | |
umherflitzen und den Bienen dabei Blütenstaub von Clematis und Geißblatt | |
herausschütteln“. Alzheimerkranke leben notgedrungen im Moment, | |
wahrscheinlich mehr als jeder Zen-Mönch. Sie kämpfen um ein Gefühl von | |
Heimat, weil das Hirn die Erinnerung daran nach und nach löscht. In dieser | |
Sehnsucht nach Verbindung, nach Nicht-Entfremdung können sich auch Gesunde | |
ein bisschen wiedererkennen. | |
Mitchell lehnt die Infantilisierung von Alzheimerkranken ab. Dazu gehören | |
ihrer Meinung nach auch die als progressiv geltenden Wohnanlagen, in denen | |
Alzheimerkranken etwa eine Bushaltestelle eingerichtet wird, obwohl dort | |
nie ein Bus kommt. „Bitte behandelt uns nicht wie Kinder … Warum gaukelt | |
ihr uns vor, dass da eine Bushaltestelle ist, wo es doch für uns viel | |
besser wäre, ihr würdet uns zu den echten Dingen mitnehmen?“, schreibt sie | |
in ihrem Blog „whichmeamitoday“. | |
Zumindest im Frühstadium der Erkrankung erfinden Alzheimerkranke vieles, um | |
die wachsenden Löcher im Gedächtnis zu kompensieren. Mitchell kauft sich | |
ein pinkfarbenes Fahrrad und stellt fest, dass sie es nicht mehr hinkriegt, | |
Rechtskurven zu fahren. Nach links abzubiegen aber funktioniert. Sie | |
erprobt „linksdrehende Routen“. „Es wird all die Fahrten geben, die ich m… | |
einem Lächeln im Gesicht absolviere, weil ich weiß, dass ich meiner | |
Krankheit mal wieder ein Schnippchen geschlagen habe.“ | |
Mitchells Wohnung wird [4][demenzgerecht gestaltet.] Demente können | |
optische Kontraste schwerer wahrnehmen, also werden Lichtschalter mit | |
dicken farbigen Umrandungen an der Wand markiert. Da die Türen der | |
Wandschränke mit der Wand dahinter zu verschmelzen scheinen und Mitchell | |
außerdem vergisst, was sich in den Wandschränken befindet, fotografiert sie | |
den Inhalt der Schränke und klebt die Fotos auf die Schranktüren, sodass | |
sie Kleidung, Töpfe, Teller, eben den Inhalt der Schränke erkennt. | |
## Das Tablet als Hilfe | |
Eine große Stütze ist die moderne Technik. Vor der Diagnose verbrauchte | |
Mitchell eine Unmenge an gelben Klebezettelndoch dann bekam sie ein Ipad. | |
„Ich nehme mein Ipad zur Hand … Ich entdecke ein Icon mit dem Namen | |
‚Erinnerungen‘ und tippe ‚19 Uhr Tabletten nehmen‘“, berichtet sie. D… | |
der Durchbruch. | |
Das Tablet erinnert sie mit seiner Weckerfunktion inzwischen an alles: | |
Regelmäßig zu essen, die Mülltonne rauszustellen, Arzttermine einzuhalten, | |
die Medikamente einzunehmen, Besuche von Freunden. Es strukturiert den | |
Alltag. Es erlaubt ihr auch, mit den Töchtern über FaceTime, also über Bild | |
und Ton, zu kommunizieren, was viel besser ist als nur „gesichtslos“ zu | |
telefonieren. Die Töchter tracken sie über eine GPS-App, wenn sie wissen | |
wollen, wo ihre Mutter gerade ist. | |
Auch der Münchner Bernd Heise, 64, ehemaliger Datentechniker und im | |
Frühstadium an Alzheimer erkrankt, nutzt Smartphone und Smartwatch. Er | |
sitzt im Beirat der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. „Ich versuche den | |
Betroffenen immer schmackhaft zu machen, dass sie diese Geräte nutzen“, | |
sagt er der taz. In seinem Smartphone sind Aufgabenlisten, in seiner | |
Smartwatch sogar eine Einkaufsliste gespeichert, in der die Reihenfolge der | |
Artikel der Reihenfolge entspricht, wie er die Waren im benachbarten | |
Supermarkt antrifft. „Das kann ich dann nach und nach einkaufen“, schildert | |
er. Google Maps hilft ihm bei der Orientierung in der Stadt. | |
Doch trotz aller Hilfsmittel im Alltag ist das Leben mit Alzheimer ein | |
Leben mit der Angst vor der Zukunft. Denn die Krankheit schreitet voran. | |
Die Sorge, irgendwann nicht mehr schreiben zu können, nagt an Mitchell. Die | |
Angst, irgendwann ihre beiden heiß geliebten Töchter nicht mehr erkennen zu | |
können, ist noch größer. | |
Mitchell setzt auf das emotionale Gedächtnis, das ist langlebiger als das | |
Faktengedächtnis. „Ich sage meinen Töchtern, dass ich sie immer lieben | |
werde, auch wenn ich sie nicht mehr erkenne“, erklärt sie. Über Sterbehilfe | |
denkt sie nach, aber mit den Töchtern in die Schweiz zu Dignitas zu fahren | |
und sie dann von dort ohne die Mutter zurückkehren zu lassen, das kann sie | |
sich nicht vorstellen. | |
Und noch gibt es die schönen Momente. Ein Kunsthandwerker schenkte ihr | |
Fliesen, auf denen Vergissmeinnicht aufgemalt waren. Die Blumenfliesen | |
kleben jetzt links und rechts von ihrer Haustür. „Sie weisen mir den | |
Heimweg. Was für ein wundervolles Geschenk.“ | |
14 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://whichmeamitoday.wordpress.com/ | |
[2] /Spielfilm-Das-Leuchten-der-Erinnerung/!5471874 | |
[3] /Arzneimittelstudien-mit-Dementen/!5351154 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=k4pAaI11QeE | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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