Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Osnabrücker Datenbestände digitalisiert: Von der Allmacht der Ges…
> Historiker der Universität Osnabrück erschließen durch die
> Digitalisierung einer Gestapo-Kartei Neuland. Die Ergebnisse sind bald zu
> sehen.
Bild: Beklemmender Ort: Michael Gander im Augustaschacht
Osnabrück taz | Die [1][Gedenkstätte Augustaschacht] in Ohrbeck bei
Osnabrück ist ein düsterer und beklemmender Ort. Ein verwitterter
Backsteinbau, blockhaft, mehrgeschossig, fast 150 Jahre alt, mit
zugemauerten Fenstern. Von 1940 bis 1943 war die einstige
Bergwerks-Pumpstation ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, von Januar
1944 bis März 1945 ein Arbeitserziehungslager der Osnabrücker Gestapo, mit
über 2.000 Häftlingen aus 17 Ländern, die meisten Zwangsarbeiter. Über 100
haben die KZ-ähnliche Polizeihaft nicht überlebt.
Der Augustaschacht ist ein Labyrinth enger Kammern und niedriger Decken,
schmaler Durchlässe und Gänge. Rissiges Mauerwerk, unebene Böden,
zerschrammte Türzargen, an den Wänden Fetzen von Tapeten. Bis 1969 wohnten
hier deutsche Ausgebombte und Flüchtlinge, auch von ihnen finden sich
Spuren.
Michael Gander, der Leiter der Gedenkstätte, steht zwischen Kabeltrommeln,
Werkzeugkoffern und einer ohrenbetäubenden Kreissäge. Elektriker und
Tischler sind im Haus, Grafikdesigner, Medientechniker, Kuratoren beugen
sich über Pläne und Tablets.
Anfang April wird die neue Dauerausstellung „Polizeigewalt und
Zwangsarbeit“ eröffnet. Seit Mitte 2017 ist sie in Arbeit, für 1,3
Millionen Euro, und mit ihr zieht hier die Moderne ein,
museumspädagogisch. Die Atmosphäre des Orts bleibt dabei bewahrt. „Die
Räume selbst erzählen, als Zeitzeugen“, sagt Gander. Deshalb sind die
Informationsmöbel auch so unauffällig wie möglich. Noch stehen sie
unausgepackt, in Folie: AO10, AO11, AO12 …
## Nahezu vollständig erhaltene Kartei
Dann fällt zum ersten Mal das Wort „Kartei“. Gander zeigt auf eine leere
Wandnische. „Hier werden wir darstellen, woher die Häftlinge kamen. Zu
1.400 von ihnen haben wir Datensätze, zwei Drittel der Insassen kennen wir
also namentlich.“ Die Gestapo-Kartei für den Regierungsbezirk Osnabrück ist
mit fast 49.000 Karten und rund 47.000 erfassten Personen mittelgroß – und
nahezu vollständig erhalten. Lebenslaufdaten von Personen sind auf ihnen
erfasst, Informationen über Gründe und Umstände ihrer Verfolgung. In ganz
Deutschland gibt es nur noch fünf vergleichbare Quellenbestände, drei
größer als in Osnabrück, darunter Frankfurt am Main, zwei weit kleiner,
darunter Hamburg.
Die Osnabrücker Kartei ist etwas Besonderes. Sie ist digitalisiert, mit
KI-gestützten Algorithmen ausgelesen. Ein Projekt von Christoph A. Rass und
Sebastian Bondzio, [2][Neueste Geschichte und Historische
Migrationsforschung, Universität Osnabrück]: „Überwachung. Macht. Ordnung …
Personen- und Vorgangskarteien als Herrschaftsinstrument der Gestapo“.
Pionierarbeit. 2018 begonnen, läuft sie noch bis 2021.
Maschinenlesbarkeit, die einen Panoramablick ermöglicht, tief hinein in
wissenschaftliches Neuland. Es ist ein empirischer Blick, und doch ist er
zugleich abstrahierend. Konnte am analogen Original bisher nur zu
Einzelpersonen geforscht werden, zu Einzelzeitpunkten, Einzelsachverhalten,
lassen sich nun effizient Massendaten sortieren.
„Karteikarten waren damals als Massendatenspeicher revolutionär, cutting
edge“, sagt Bondzio und klickt sich durch Kreis-, Säulen- und
Liniendiagramme. „Viel flexibler zu führen als Listen, viel besser zu
vernetzen, viel effizienter zu nutzen.“ Ihm geht es um Aufschlüsse über die
„Durchherrschung der Gesellschaft“. „Das ist der Beginn der modernen
Überwachung“, sagt Rass.
Was heute „Gestapokartei“ heißt, hat seine Anfänge 1928, in der
[3][Preußischen Geheimpolizei], im Weimarer Staatsschutz. Die Gestapo führt
den Bestand weiter, baut ihn aus. Das Ziel, auch: Allwissen und Allmacht zu
suggerieren. „Wenn jeder denkt, die überwachen jeden, muss man gar nicht
jeden überwachen“, sagt Rass.
Dass die Gestapo ihre Kartei sogar noch ausbaut, als das Kriegsende bereits
unmittelbar bevorsteht, zeigt die letzte, neu angelegte Karte. Sie ist vom
26. März 1945 – am 4. April erreichen die Alliierten Osnabrück. Durch sie
wissen wir von Johannes Swergmann. Der niederländische Zwangsarbeiter kam
Ende Januar 1945 in das Arbeitserziehungslager Ohrbeck. „Ein bürokratisches
Medium“, sagt Bondzio, „mit dem unbeschreibliche Gewalt in die Welt
gebracht wurde.“
Bondzio und Rass geht es nicht nur um einen Blick in die Vergangenheit. Sie
stellen generelle Fragen. „Keine Datensammlung ist per se unschuldig“, sagt
Rass. „Ist ein solcher Apparat erst einmal geschaffen, kann er vielen
Zwecken dienen. Ändert sich etwa das Herrschaftssystem, das Zugriff auf ihn
hat, zur Diktatur, zum Totalitarismus, dienen diese Daten plötzlich nicht
mehr dem Schutz einer liberalen Gesellschaft, sondern der Überwachung und
dem Terror.“
Wie gewann die Osnabrücker Gestapo ihr Wissen? Auf was und wen
konzentrierte sie sich, wann, warum und wie? Wie veränderte sich ihre
Präsenz, von den 1930ern bis zum Kriegsende? Digitale Modelle geben Antwort
und zeigen, was das NS-Regime als bedrohlich empfand – und wie bedrohlich
das Regime selber war. Innovative Technologie von heute als Zugang zu
innovativer Technologie von einst.
Als sich die Osnabrücker Gestapo Anfang April 1945 Richtung Bremen absetzt,
nimmt sie ihre Kartei mit. Die Fallakten dazu verbrennt sie, im Innenhof
des Osnabrücker Schlosses, direkt vor ihrer Dienststelle. Die Kartei, das
Herzstück, ist zu wichtig. Außerdem ist sie transportabel. Eine
Schrankfüllung nur, in Holzkästen.
Hier, im Westflügel des Schlosses, entsteht derzeit der zweite Teil von
„Polizeigewalt und Zwangsarbeit“, in Ganders zweiter Gedenkstätte, dem
„Gestapokeller“, einem Teil des einstigen Zellentrakts. Hier steht dem
Besucher dann die Kartei selbst zur Verfügung, per Terminal, soweit das
datenschutzrechtlich geht.
Gander zieht, wie Bondzio und Rass, Perspektivlinien in die Gegenwart:
„Aber eher durch unsere Bildungsarbeit, unsere Partizipativangebote, nicht
als festes Ausstellungsmodul.“ Er steht in der lichtlosen Waschküche des
Augustaschachts. Der Raum wird leer sein, in der neuen Ausstellung, bis auf
einen grauen Trog, bis auf Trümmer von Bottichen. Nur ein Gedicht ist dann
zu sehen, als Projektion, geschrieben von Phida Wolff, einem
niederländischen Zwangsarbeiter in Osnabrück, am 15. Februar 1945:
„Arbeitszucht bedeutet Konzentration, / Und was das heißt an dieser Stelle,
/ Können manche niemals mehr sagen, / Da sie elend gestorben sind.“
## Eigene, unmenschliche Welt
Nicht nur die digitalisierte Kartei öffnet Augen. Auch analog sind die
Karten spannend. DIN A5 quer, die der Politischen Abteilung lichtblau bis
hellgrau, die der Abteilung Abwehr meist orange, versetzen sie zurück in
die Zeit, in der sich die Gestapo, völlig dereguliert, ihre eigene,
unmenschliche Welt schuf. Und das ist, auch, eine Mahnung für das Heute.
Wir lesen Sachverhalte und Aktenzeichen, lesen Worte wie
„Finger-Abdruck-Karte“ und „Schriftprobe“. Fast 41.000 Sachverhalte sind
erfasst, auf einzelnen Karten bis zu 42. Big Data von einst. Rass:
„Struktur und Arbeitsweise der Gestapo lassen sich so rekonstruieren,
Praktiken der Überwachung, der Repression.“
Verloren sind nicht nur die Fallakten, verloren sind auch die
Unterkarteien, etwa zu Homosexuellen, Emigranten und Juden. Aber auch so
ist diese Innenschau eines Terrorsystems erschreckend. „Überwachung. Macht.
Ordnung“ und „Polizeigewalt und Zwangsarbeit“ kommen zur rechten Zeit. De…
das Denken von heute gleicht immer stärker dem Denken von einst. Wenn wir
nicht wachsam sind. Auch bei denen, die über uns wachen.
10 Mar 2020
## LINKS
[1] http://www.gedenkstaetten-augustaschacht-osnabrueck.de/
[2] https://www.geschichte.uni-osnabrueck.de/abteilungen/neueste_geschichte_und…
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fische_Geheimpolizei
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Gestapo
Osnabrück
Forschung
Ausstellung
Drittes Reich
Deutsche Geschichte
Topographie des Terrors
NS-Gedenken
Polizei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Historiker über Kirche in der NS-Zeit: „Da lief vieles zusammen“
Thomas Großbölting, Chef von Hamburgs Forschungsstelle für Zeitgeschichte,
erforscht die NS-Zeit, die Rolle der Kirchen und Repression in der DDR.
100 Jahre Kapp-Putsch: Die Feinde der Demokratie
Militaristen und Nationalisten versuchten im Kapp-Putsch die Weimarer
Republik zu zerstören. Immer noch mangelt es an politischer Aufarbeitung.
Topographie-Direktor Andreas Nachama: „Politik ist nicht hilfreich“
Andreas Nachama geht als Direktor der Topographie des Terrors in den
Ruhestand. Antisemitismus müsse man mit der Kraft der Versöhnung begegnen.
Friedhof mit NS-Opfern: Geschändet und vergessen
Über 400 NS-Opfer liegen auf dem Friedhof „Meyerhöfen“ bei Osnabrück. Die
Behörden interessieren sich nicht für gestohlene Gedenktafeln und Verfall.
Ausstellung zu Polizei und Holocaust: Freund, Helfer, Massenmörder
Nein, sie regelte nicht nur den Verkehr. Die Polizei beteiligte sich
maßgeblich am NS-Massenmord, zeigt jetzt eine Ausstellung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.