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# taz.de -- Historiker über Kirche in der NS-Zeit: „Da lief vieles zusammen�…
> Thomas Großbölting, Chef von Hamburgs Forschungsstelle für
> Zeitgeschichte, erforscht die NS-Zeit, die Rolle der Kirchen und
> Repression in der DDR.
Bild: Nationalsozialistisches Propagandaplakat von 1936 mit dem Antisemiten Mar…
taz: Herr Großbölting, Sie haben sich viel mit dem Glauben der Deutschen in
der NS-Zeit befasst. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Thomas Großbölting. Weil ich finde, dass man die verbreitete Vorstellung
„Kreuz versus Hakenkreuz“ neu betrachten muss. Es ist sehr
unwahrscheinlich, dass Kreuz und Hakenkreuz so starke Antipoden waren. 95
Prozent der Deutschen gehörten zwischen 1933 und 1945 einer der beiden
großen christlichen Kirchen an. Parallel etablierte sich eine NS-Diktatur,
die wesentlich von der Bevölkerung getragen wurde. Es gab nicht die
christliche Praxis einerseits und nationalsozialistische, auch
antisemitische Triebkräfte andererseits, sondern da lief vieles zusammen.
Wie hat es der Nationalsozialismus geschafft, das Christentum zu
vereinnahmen – abgesehen von der Bekennenden Kirche?
Die Vorstellung von der Vereinnahmung der einen Weltanschauung durch die
andere stellt die Zusammenhänge historisch falsch dar: Diejenigen, die die
nationalsozialistische Bewegung Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre
starkmachten, waren in der Regel Christen.
Es gab keine Konfrontation mit den Kirchen?
Doch, vor allem auf institutioneller Ebene. Man kämpfte darum, wie man mit
christlichen Jugendverbänden umgehen sollte, und mit dem Anspruch der
„Hitlerjugend“, alle deutschen Jugendlichen zu integrieren. Aber bei den
Moral- und Wertvorstellungen gab es viele Überschneidungen zwischen
Nationalsozialismus und Christentum – unter anderem beim Antisemitismus.
Sie haben auch darüber geforscht, wie Christsein heute möglich ist. Aber
hat Kirche nicht ausgedient?
Genau das interessiert mich: Was passiert in einer Gesellschaft, in der die
beiden Großkonfessionen immer weniger Einfluss haben? Auf der einen Seite
unterstützt der Staat die Institution Kirche noch sehr stark – durch das
Erheben der Kirchensteuer und die politische Beteiligung kirchlicher
Vertreter an Gremien wie der Ethik-Kommission. Auf der anderen Seite stehen
Säkularisierung und Bedeutungsverlust des Glaubens für die private
Lebensführung. Allein 2019 hat es 1,5 Millionen Kirchenaustritte in beiden
Konfessionen gegeben.
Wohl auch wegen der Missbrauchsfälle, die Sie für das Bistum Münster mit
aufarbeiten. Wie beurteilen Sie den Aufklärungswillen der Kirche?
Da muss man zwei Ebenen unterscheiden. Das im Oktober 2019 begonnene
münstersche Aufarbeitungsprojekt wurde von der dortigen Bistumsleitung an
mich herangetragen und ist von einem hohen Aufklärungswillen und viel
Unterstützung geprägt. Wenn man aber den bundesdeutschen Katholizismus
insgesamt anguckt, muss man sagen, dass die Hinwendung zu den Betroffenen
und die Aufarbeitung viel zu spät und viel zu zaghaft waren. Die Vorfälle
im amerikanischen Katholizismus waren seit Ende 1990 bzw. Anfang 2000
bekannt und die hiesige Bischofskonferenz tat so, als ob der deutsche
Katholizismus damit nichts zu tun habe – was völlig weltfremd war. 2010
wurden die Fälle am Berliner Canisius-Kolleg aufgedeckt.
Das war vor zehn Jahren.
Wenn man unsere 2019 begonnene münstersche Arbeit in diesen Zeithorizont
stellt, dann ist das viel zu langsam, zu wenig und zu unentschlossen. Auch
bei den Protestanten gibt es Vorbehalte gegen die Aufarbeitung. Ein kleiner
Hoffnungsschimmer: Am 1. 10. 2020 starte ich als Teil einer überregionalen
Forschungsgruppe ein weiteres Aufarbeitungsprojekt – diesmal im Auftrag der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Und welche Aufarbeitungserfahrungen haben Ihre drei Jahre in der
Stasi-Unterlagenbehörde erbracht?
Da fand ich vor allem den Vergleich der SED- mit der NS-Diktatur
interessant. Wenn man die Repressionsapparate dieser beiden politischen
Systeme anschaut, war die Stasi ungleich aufwendiger. 90.000 hauptamtliche
Mitarbeiter mit vielen Hunderttausend Inoffiziellen – das ist das im
einstigen „Ostblock“ dichteste Überwachungsnetz. Dabei wurden Geheimdienst
und Repressionsapparat ja gegen die Bevölkerung aufgebaut. Denn die
SED-Führung wusste, dass sie es in den Anfangsjahren der DDR mit Menschen
zu tun hatte, die vorher dem Nationalsozialismus zugejubelt hatten und
diese Loyalität nicht einfach auf ein anderes Regime übertragen würden.
Also überwachte man die Leute.
Wie zuvor das NS-Regime.
Ja, aber im Nationalsozialismus funktionierten Geheimdienst und Repression
ganz anders. In Zeitungsanzeigen aus den 1940er-Jahren liest man sinngemäß:
„Liebe Volksgenossen, wir freuen uns über jede Anzeige. Aber bitte prüft
genau, ob sie triftig ist. Wir kommen mit der Bearbeitung nicht hinterher.“
Das heißt: Die Gestapo brauchte nicht so viel Personal wie die Stasi, weil
die Bereitschaft der Bevölkerung, „Staatsfeinde“ oder Nichtmitglieder der
„Volksgemeinschaft“ wie Juden, Sinti und Roma anzuzeigen, extrem groß war.
Aber auch in der DDR gab es Denunziation.
Natürlich: Den Versuch, so den unliebsamen Nachbarn oder die nicht mehr
gewünschte Ehefrau loszuwerden, gab es in beiden Diktaturen. Aber während
viele Deutsche den Nationalsozialismus als das eigene politische System
ansahen, galt die SED-Diktatur als von der Sowjetunion übergestülptes
System, dessen Überwachungsapparat gegen die Bevölkerung installiert wurde.
Aber die vielen Stasi-Mitarbeiter kamen aus der Bevölkerung.
Das stimmt. Ich bezog mich eben auf die Frühzeit der Stasi in den 1950er-
und 1960er-Jahren. In den 1970ern und 1980ern gab es in der DDR schon die
erste Generation, die dort aufgewachsen war. Fünf bis sieben Prozent der
DDR-Bürger arbeiteten in Verwaltung, Ministerien, Armee,
Parteiorganisationen, Geheimdiensten. Ihre Loyalität gegenüber dem
Staatsapparat war tendenziell größer.
Wie groß ist das Interesse an Stasi-Akten-Einsicht heute?
Es ist ungebrochen. Für viele Menschen bleibt es ein wichtiger Schritt,
wieder Souverän zu werden über die eigene Akte und die persönliche
DDR-Geschichte. Aber da liegt auch das Problem: Es bleibt für die
Einsichtnehmenden eine individuelle Geschichte. Man liest die Akte und kann
dann überlegen, ob man mit dem Nachbarn, der einen denunzierte, noch redet,
ob man ihn anzeigt oder das lieber schnell vergisst. Die Menschen werden
mit ihren Erkenntnissen alleingelassen.
Welche Erkenntnisse soll die Forschungsstelle für Zeitgeschichte unter
Ihrer Ägide generieren?
Wir wollen die jüngste Zeitgeschichte noch stärker fokussieren und
Zeitgeschichte auch als Problemgeschichte der Gegenwart begreifen. Dazu
müssen wir die Entstehungsgeschichte aktueller politischer Probleme kennen,
um Alternativen aufzeigen zu können.
Das heißt konkret?
Wir möchten zum Beispiel die Geschichte Hamburgs seit 1970 mit der anderer
inner- und außereuropäischer Metropolregionen vergleichen und fragen: Wir
funktionieren in solchen Städten Politik und Partizipation? Wie geht man
mit Migration und Diversität um – und damit, dass sich Gesellschaft nicht
mehr vorrangig als in Klassen, Schichten und Milieus unterteilt beschreiben
lässt? Und welche Strukturen können angesichts der etwa vom Soziologen
Andreas Reckwitz beschrieben „Gesellschaft der Singularitäten“ künftig
gesellschaftlichen Kitt bilden?
18 Aug 2020
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Drittes Reich
Holocaust
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sexueller Missbrauch
Zeitgeschichte
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