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# taz.de -- Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische …
> Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von
> NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere
> Migrationsbewegungen.
Bild: Ganz normale Wirtschaftsmigration: Italiensche Arbeiter am Hamburger Hafe…
taz: Frau Apel, was macht Hamburgs „Werkstatt der Erinnerung“ einzigartig?
Linde Apel: Ihre Entstehungsgeschichte, die auf einer politischen
Entscheidung der Stadt Hamburg basiert. Keine andere Stadt in Deutschland
leistet sich seit 30 Jahren eine staatlich finanzierte Interview-Sammlung,
die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich
ist. Dabei war der Gründungsimpuls zwar, die Stimmen der NS-Verfolgten zu
sammeln. Aber es ging immer auch um Gegenwärtiges: um Gespräche mit
Nachfahren von Überlebenden und andere Kontexte wie Migration, Alltag von
Frauen, Bedingungen von Arbeit, die Entwicklung politischer und sozialer
Bewegungen.
Konkurrieren Sie da nicht mit den Geschichtswerkstätten, die Oral History
schon seit den 1980ern betrieben?
Ich finde, nein. Zum einen, weil die erste Leiterin der „Werkstatt der
Erinnerung“ direkt aus der Geschichtswerkstätten-Bewegung kam. Zum anderen
ist die „Werkstatt der Erinnerung“ als Abteilung der [1][Forschungsstelle
für Zeitgeschichte] Teil eines wissenschaftlichen Instituts. Für die
Geschichtswerkstätten sind wir also eher ein Ort, wo sie sich Expertise
holen und ihre Interviews archivieren lassen können – wofür sie selbst oft
weder die Technik noch das Geld haben.
Auch den Gedenkstätten kommen Sie nicht ins Gehege?
Im Gegenteil. Wir haben eine Reihe von Interviews mit der
[2][KZ-Gedenkstätte Neuengamme] gemeinsam geführt, die hier wie dort
archiviert sind. Im aktuellen Kooperationsprojekt geht es um Menschen, die
sich für die Entstehung der Gedenkstätte eingesetzt haben. Um Akteure der
Erinnerungskultur.
Führen Sie alle Interviews selbst?
Inzwischen schaffen wir das nicht mehr. Anfangs war die „Werkstatt der
Erinnerung“ gut ausgestattet, aber heute haben wir nur noch 1,5 Stellen.
Deshalb begleiten wir Interviewprojekte, die an uns herangetragen werden,
und archivieren die Ergebnisse. Vor Jahren haben wir zum Beispiel in
Kooperation mit Psychoanalytikern und -therapeuten vom Universitätsklinikum
Eppendorf (UKE) Menschen interviewt, die die Bombenangriffe auf Hamburg
1943 – den „Feuersturm“ – erlebt hatten. Befragt wurden auch ihre Kinder
und Enkel. Einige der Interviews sind heute in der Dauerausstellung des
[3][Mahnmals St. Nikolai,] der Ruine einer im „Feuersturm“ zerstörten
Kirche, zu hören.
Und wie definieren Sie Ihre Rolle als Interviewerin: Psychologin,
Beichtmutter, Forscherin?
Alles das ist wichtig. In erster Linie verstehe ich mich aber als
Wissenschaftlerin. Grundsätzlich muss man sich klarmachen, dass jedes
Interview eine Kommunikationssituation ist. Das klingt banal, ist aber
wichtig, denn kein Interview lässt sich wiederholen. Deshalb nutzen wir ein
auch in der Soziologie verwandtes Konzept, das aus vier Phasen besteht:
Zunächst bittet man den Interviewpartner, seine Lebensgeschichte zu
erzählen. So kann er alles berichten, was ihm wichtig ist. Das ist für
viele stressig, weil sie merken: Mir werden gar keine Fragen gestellt, ich
soll ins Blaue erzählen. Als nächstes fragen wir zu dieser
Eingangserzählung alles, was unklar blieb, nochmal ab.
Mehr nicht?
Doch. In Phase drei kommt unser spezifisches Erkenntnisinteresse zum Tragen
und wir fragen nach Aspekten, die noch nicht angesprochen wurden. Die
vierte und letzte Phase ist die sogenannte Streitphase. Ob man sie machen
soll, ist umstritten. Denn es kann sein, dass der Interviewpartner Dinge
erzählt, die man vollkommen absurd findet, die man nicht nachvollziehen
kann, die man vielleicht moralisch oder politisch verwerflich findet. Ob
man sich das einfach anhört oder ob man dem Interviewpartner sagt, was man
davon hält, wird in der Oral History kritisch diskutiert.
Wie gehen Sie damit um?
Da es kein psychologisches Interview ist, höre ich es mir nur an und
betrachte es als Teil der ganz persönlichen Verarbeitungsgeschichte dieses
Menschen.
Die „Werkstatt der Erinnerung“ befasst sich auch mit Migration. Wer wurde
befragt?
Einerseits natürlich jüdische Verfolgte, ehemalige Zwangsarbeiter und DPs,
die unter Zwangsmigration litten. Zum Thema „Gastarbeiter“ bzw. der
Anwerbung von Arbeitskräften in den 1960er-, 1970er-Jahren haben wir mit
Menschen aus Italien und der Türkei gesprochen. Unsere aktuellsten
Interviews über Migration sind diejenigen mit Russlanddeutschen aus den
2000ern.
Wie steht es mit den Flüchtlingen von 2015?
Sie möchte ich sehr gern befragen. Ich glaube aber, dafür ist es noch zu
früh. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass man mit Menschen, die
biographisch im Stress sind, schwer solche „zurückgelehnten“ Interviews
führen kann. Und diese Geflüchteten haben – obwohl sie teilweise seit fünf
Jahren hier sind – derzeit noch andere Probleme: Sie müssen ankommen,
brauchen einen Job, grundlegende Lebenssicherheit, müssen ihre Zukunft
bauen.
Wie bewerten die bisher Befragten ihre Migration?
Das ist sehr facettenreich, denn die Befragten reichen von der türkischen
[4][Arbeitsmigrantin] über den Handwerker auf der Walz, das
Au-pair-Mädchen, den kommunistischen Spanien-Kämpfer bis zur Deutschen, die
in Lateinamerika eine Kaffee-Finca betreibt. Generell versuchen wir,
Migration als Mobilität zu begreifen und weniger den Opferaspekt als den
der Selbstbestimmung hervorzuheben. Derzeit – und besonders seit 2015 –
wird Migration vor allem als Problem dargestellt. Wir dagegen wollen
zeigen, dass Migration eher der Normalfall ist. Dass sie vielschichtig und
komplex auftritt und eine Grundbedingung menschlicher Existenz darstellt.
Auch „Wirtschaftsmigration“ gab es zu allen Zeiten.
Wirtschaftliche Gründe waren immer zentrales Movens für Migration. Schauen
Sie sich die Geschichte der Deutschen an. Als sie 1845 in diversen
Auswanderungswellen in die USA gingen, hatten sie fast nur ökonomische
Gründe. Deshalb ärgert es mich, dass wirtschaftliche Gründe in der
öffentlichen Debatte hierzulande einen so schlechten Leumund haben. Wir
brauchen nur auf unsere eigene Geschichte und die unserer Nachbarn zu
schauen. Interviews zum Thema kann sich hier jeder anhören.
Apropos: Wer interessiert sich heute noch für Ihr Interview-Archiv?
Neben Nachfahren von NS-Verfolgten, Schulklassen und Studenten haben sich
in den letzten Jahren immer mehr Historiker mit unseren Interviews befasst.
Dabei galten sie in der Geschichtswissenschaft lange als „Schmuddelkinder,
die man zu unwissenschaftlich und subjektiv fand. Inzwischen ist anerkannt,
dass Interviews wertvolle historische Quellen sind. Das hat dazu geführt,
dass sich jetzt einige Projekte mit deren Sekundärauswertung befassen.
Das heißt?
Man schaut sich Interviews an, die in den 1980ern, 1990ern, 2000ern
entstanden sind und fragt: Wofür sind sie heute relevant? Was wollten die
Interviewer damals wissen, was nicht? Bei biographischen Interviews mit
jüdischen Verfolgten aus den 1990er Jahren etwa fällt auf: Die Interviewer
haben ausschließlich nach der Hamburger Zeit gefragt. Was die
Interviewpartner danach erlebten – Deportation, Exil, eventuelle Rückkehr –
spielte keine große Rolle. Das lag daran, dass die Forschung damals noch
wenig wusste über die NS-Zeit in Hamburg und den Fokus also darauf legte.
Auch die Interviewsituation selbst ist also schon zur historischen Quelle
geworden.
20 Aug 2020
## LINKS
[1] /Historiker-ueber-Kirche-in-der-NS-Zeit/!5707099&s=gro%C3%9Fb%C3%B6lting/
[2] /Bernhard-Esser-ueber-neuen-KZ-Gedenkort/!5695642&s=neuengamme/
[3] https://www.mahnmal-st-nikolai.de/
[4] /Gesetz-zur-Arbeitsmigration/!5664073&s=Gastarbeiter/
## AUTOREN
Petra Schellen
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