# taz.de -- Bernhard Esser über neuen KZ-Gedenkort: „Gedenken ist Handeln“ | |
> Bernhard Esser hat den „Ort der Verbundenheit“ der KZ-Gedenkstätte | |
> Neuengamme mit initiiert. Sein Vater, ein politischer Häftling, hat | |
> überlebt. | |
Bild: Partizipatives Gedenken: Gerüste für Plakate und Druckstöcke in der KZ… | |
taz: Herr Esser, wie soll der „Ort der Verbundenheit“ in der | |
KZ-Gedenkstätte Neuengamme aussehen, dessen Eröffnung auf November verlegt | |
wurde? | |
Bernhard Esser: Es soll ein Gedenkort von Angehörigen für Angehörige | |
einstiger Häftlinge des KZ Neuengamme sein. Konkret sind Angehörige dazu | |
eingeladen, mit einem Plakat an ihr verfolgtes Familienmitglied zu | |
erinnern. Gezeigt werden die Plakate an einer dafür geschaffenen Wand im | |
Außengelände der Gedenkstätte. Daneben wird ein Archivregal mit den | |
zugehörigen Druckstöcken stehen. | |
Warum das? | |
Damit man die Plakate, die durch Wind und Wetter verwittern werden, | |
nachdrucken und so das [1][Gedenken] immer wieder erneuern und wachhalten | |
kann. Denn Gedenken ist Handeln, und darum geht es hier. Dafür kann man | |
sich in einer kleinen Druckwerkstatt im Nebengebäude zu Workshops anmelden, | |
um eins oder mehrere Plakate nachzudrucken. Und zwar mit der gleichen | |
Technik, mit der Widerstandskämpfer im „Dritten Reich“ Flugblätter gedruc… | |
haben. Die Plakate können nicht nur in Neuengamme, sondern auch in den | |
Heimatstädten der aus ganz Europa und der Ex-Sowjetunion stammenden | |
einstigen Häftlinge aufgehängt und so in die Öffentlichkeit getragen | |
werden. | |
Wen sollen die Plakate ehren? | |
Die über 100.000 einstigen Häftlinge, die in diesem KZ litten. Und zwar | |
sowohl diejenigen, die in Neuengamme oder – nach einer Verlegung – in | |
anderen KZ starben, als auch diejenigen, die überlebten. Viele Namen finden | |
sich nirgends in der Ausstellung. Auch im „Haus des Gedenkens“ sind nur | |
22.000 der 43.900 in Neuengamme Gestorbenen aufgeführt, weil man viele | |
Namen immer noch nicht kennt. Oft suchen Angehörige vergebens danach. | |
Andere legen Blumen, Briefe oder Bilder unter den Stoffbahnen nieder, die – | |
nach Jahrgängen geordnet – die Namen der Toten aufführen. Als ehemaliger | |
Mitarbeiter des Besucherservices habe ich das oft erlebt und gedacht, für | |
diese Menschen fehlt ein noch persönlicherer Gedenkort. | |
Der „Ort der Verbundenheit“ war Ihre Idee? | |
Auch. Gemeinsam mit anderen Angehörigen von Häftlingen habe ich den Wunsch | |
nach einer aktiveren Form des Gedenkens 2015 bei der Tagung „Forum Zukunft | |
der Erinnerung“ formuliert. Wir haben dann eine AG gebildet, unterstützt | |
unter anderem vom [2][Internationalen Häftlingsverband Amicale] sowie dem | |
Freundeskreis der Gedenkstätte. Zusätzlich haben wir Studierende der | |
Hamburger Hochschule für bildende Künste angesprochen, die das Projekt mit | |
uns gemeinsam entwickelt haben. [3][Bekannt gemacht] haben wir es dann per | |
Internet. Die Resonanz ist groß. Wir haben schon 71 Plakate erhalten, unter | |
anderem aus Belgien, den Niederlanden, der Ukraine und sogar aus Südafrika. | |
Das erste Plakat haben Sie erstellt – für Ihren Vater, der das KZ | |
Neuengamme überlebte. | |
Ja, er hat Glück gehabt. Er musste nicht mit auf den Todesmarsch zur | |
[4][„Cap Arcona“] in der Lübecker Bucht, die am 3. Mai 1945, kurz vor Ende | |
des Zweiten Weltkriegs, von britischen Alliierten bombardiert wurde, sodass | |
9.000 Häftlinge starben. | |
Warum blieb Ihr Vater verschont? | |
Weil er ein noch nicht abgeurteilter „Polizeihäftling“ war und ins | |
Untersuchungsgefängnis am Hamburger Holstenglacis gebracht wurde. Dort | |
haben ihn die Engländer wenige Tage später befreit. | |
Er war politischer Häftling? | |
Ja. Die ganze Familie war politisch. Mein Großvater war KPD-Abgeordneter, | |
mein Onkel Alwin im kommunistischen Jugendverband und mein Vater – genau | |
weiß ich es nicht – wohl KPD-Mitglied. | |
Wie kam es zu seiner Verhaftung? | |
Im November 1933 – mein Großvater war schon verhaftet – kam nachts die | |
Gestapo, die damals noch „Kommando zur besonderen Verwendung“ hieß, in die | |
Wohnung der Familie. Einer von ihnen – so erzählte es mein Vater – nahm | |
einen Druckkasten aus seinem Mantel, ließ ihn in eine Wanne gleiten und | |
rief: „Hier ist es!“ Dann haben sie meinen Vater, seinen Bruder Alwin und | |
seine Schwester Luise verhaftet und ins [5][Stadthaus] gebracht. | |
In den Verhör- und Folterkeller der Hamburger Gestapo. | |
Ja. Dort hat man Alwin die Losung „Nieder mit Hitler“ auf die Stirn | |
gestempelt. Luise wurde entlassen, die Brüder ins KZ Fuhlsbüttel gebracht. | |
Mein Vater kam in Einzelhaft. Alwin haben sie schwer misshandelt, in der | |
Nacht erschlagen und es dann als Selbstmord hingestellt. Mein Vater wurde | |
am 23. 12. 1933 entlassen und betrieb dann eine Schuhmacherei in Hamburg. | |
War Ihr Vater im Widerstand? | |
Ja. Immer wieder hat er in seinem Laden jüdischen Mitbürgern Lebensmittel | |
zugesteckt – wofür er im Jahr 1999 in Israel geehrt wurde. Eine kleine | |
Initiative in der Wüste Negev hat einen Baum für ihn gepflanzt. | |
Und wie kam er ins KZ Neuengamme? | |
1944 hatte sich ein Spitzel bei ihm eingeschlichen – ein früherer | |
Kommunist, den man in der Haft umgedreht hatte. Er behauptete, er lebe | |
jetzt im Untergrund. Mein Vater gab ihm Geld, aber er kam immer wieder. Nun | |
trafen sich im Laden meines Vaters auch Genossen und Widerstandskämpfer. | |
Eines Tages organisierten sie dort ein Treffen – ohne meinen Vater zu | |
fragen, denn ich war ja ein Baby, und das wollte er nicht. Der Spitzel | |
erfuhr es und ließ alle hochgehen – auch den Gesellen meines Vaters, der im | |
Untergrund lebte. Man brachte sie ins Stadthaus und dann nach Neuengamme. | |
Wie erging es Ihrem Vater dort? | |
Er litt hat viel gelitten, wie alle anderen. Aber er hatte auch Glück: Da | |
unter den kommunistischen Häftlingen eine gewisse Solidarität herrschte, | |
sorgten sie dafür, dass er nicht in die schlimmen Arbeitskommandos am | |
Stichkanal oder in den Torfgruben kam, sondern in die Kartoffelschäl-Küche. | |
Dort hat er zwar schlimm die Ruhr bekommen. Aber da er seelisch robust war, | |
hat er es überstanden. Im Mai 1945 haben ihn die Engländer aus besagtem | |
Untersuchungsgefängnis befreit. Seine Schuhmacherei hat er auch | |
zurückbekommen. | |
Nun gedenken Sie seiner auf einem Plakat mit Foto und Brief. Ist das | |
Kapitel für Sie jetzt abgeschlossen? | |
Nein, es beginnt erst. Für mich ist es bewegend, dass irgendwann, wenn das | |
Plakat „verwelkt“ ist und auch ich nicht mehr da bin, meine Kinder und | |
Enkel für ihren Opa oder Uropa den Druckstock nutzen, um das Plakat zu | |
erneuern. Es geht hier um die Erinnerung für die Nachwelt, damit die | |
Leugner und Faktenverdreher der AfD in die Schranken gewiesen werden. Damit | |
schließe ich auch den Brief an meinen Vater auf dem Plakat: „Damit so etwas | |
nie wieder geschieht, verspreche ich dir: Wir bleiben wachsam, wir | |
schweigen nicht, wir greifen ein.“ | |
22 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Gedenken-an-den-Holocaust/!5667479&s=petra+schellen/ | |
[2] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/service/ehrenamtliche-mitarbeit/… | |
[3] https://reflections.news/de/category/ort-der-verbundenheit/ | |
[4] /Untergang-der-Cap-Arcona/!5679424&s=Neuengamme/ | |
[5] /Gedenkort-Stadthaus-in-Hamburg/!5609658&s=stadthaus/ | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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