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# taz.de -- Vorstand über abgesagte Gedenkfeier: „Die Wehmut war spürbar“
> Die wegen Corona abgesagte Gedenkfeier der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zum
> 75. Jahrestag der Befreiung wäre für einige Überlebende die letzte
> gewesen.
Bild: Zu zweit kann man sie noch besuchen: die KZ-Gedenkstätte in Hamburg-Neue…
taz: Herr Garbe, wie geht die KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit der
Corona-Situation um?
Detlef Garbe: Wie andere Kultureinrichtungen sind wir von der Dynamik der
Ereignisse überrascht worden, mussten Veranstaltungen absagen und unsere
Ausstellungen schließen. Solange keine Ausgangssperre besteht, können
Besucher – in Zweiergruppen – aber auf unser Gelände, das frei zugänglich
ist. Auch im Freien haben wir viele Informationsangebote – neben 70
Informationstafeln auch eine umfangreiche Gelände-App für mobile Geräte.
Abgesehen davon sind große Teile unserer Ausstellungen im Internet präsent,
unter anderem durch virtuelle Rundgänge, auf der Website der Hamburger
Gedenkstätten. Die Verfügbarkeit von Informationen ist also nicht unser
Hauptproblem.
Sondern?
Die Absage der Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung vom
Nationalsozialismus. Geplant waren sie vom 30. April bis zum 3. Mai.
Wie viele Überlebende hatten Sie zu diesen Gedenkveranstaltungen erwartet?
Von den etwas über 300 Überlebenden, zu denen wir noch in Kontakt stehen,
hatten 16 zugesagt – jeweils mit Begleitperson. Die meisten sind mindestens
90 Jahre alt und kommen praktisch aus der ganzen Welt: aus Israel, den USA,
Schweden, Polen, Frankreich, Belgien, den Niederlanden.
Sie waren also als Jugendliche im KZ Neuengamme.
Ja, die Jüngsten kamen im Alter von 14 Jahren hierher. Neuengamme war ein
KZ, in dem die Arbeitskraft der Häftlinge für die Kriegswirtschaft genutzt
werden sollte. Da gab es keine strikte Altersgrenze. Bei der Selektion
derer, die etwa im [1][KZ Auschwitz-Birkenau] für die Arbeit in Neuengamme
eingeteilt wurden, war die Arbeitsfähigkeit ausschlaggebend. Die meisten
waren jung, zumeist im jungen Erwachsenenalter.
Welchen Opfergruppen entstammen die Menschen, die Sie geladen hatten?
Es ist ein Querschnitt aller Häftlinge, die im Lager waren. Alle Nationen,
alle Gruppen sind vertreten. Die meisten Häftlinge im KZ Neuengamme – knapp
über 100.000 Menschen – waren aus vier Gründen im Lager: Die einen, weil
sie Widerstand in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten
geleistet hatten. Andere, weil sie – von den Deutschen zur
[2][Zwangsarbeit] ins damalige Reichsgebiet verschleppt – Fluchtversuche
unternommen hatten oder der „Arbeitsbummelei“ bezichtigt wurden. Dann gab
es die Repressalien-Opfer: Menschen, die im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen
inhaftiert wurden. Allein aus der niederländischen Gemeinde Putten bei
Zwolle wurden 588 Männer nach Neuengamme verschleppt. Es war die Vergeltung
dafür, dass es einen Anschlag des niederländischen Widerstands gegeben
hatte, bei dem ein Wehrmachtssoldat gestorben war.
Und die vierte Gruppe?
Die vierte Gruppe waren Juden, Sinti, Roma, politische Häftlinge,
Homosexuelle. Dazu kamen Menschen, die aufgrund unterstellter
[3][„Asozialität“] inhaftiert wurden: Obdachlose, aber auch Menschen, die
Zwangsarbeitern geholfen oder – streng verbotene – Beziehungen mit ihnen
unterhalten hatten. Im letzteren Fall wurde der beteiligte Zwangsarbeiter
in der Regel hingerichtet, der beziehungsweise die Deutsche kam ins KZ.
Aber Neuengamme war kein reines Vernichtungslager wie Sobibór oder
Treblinka.
Nein. Allerdings lautete die Vorgabe der SS in Neuengamme – wie in
Buchenwald, Dachau und vielen anderen Lagern: „Vernichtung durch Arbeit“.
Das implizierte die Ausbeutung der Arbeitskraft unter Bedingungen, die den
Tod der Häftlinge in Kauf nahmen oder sogar anstrebten. Infolgedessen haben
von den 100.000 Neuengammer Häftlingen ungefähr 42.900 nicht überlebt.
Kamen die Überlebenden, die Sie für 2020 geladen hatten, alljährlich zu den
Gedenkfeiern?
Nein. Zu diesem besonderen Jahrestag hatten wir erstmals alle eingeladen,
die in unserer Kartei stehen. In den Vorjahren hatten wir jeweils 20 bis 30
Überlebende eingeladen – möglichst Menschen, die bislang noch nicht hier
waren und den Wunsch geäußert hatten, an einer Feier teilzunehmen. Fast
alle, die wir dieses Jahr erwarteten, waren schon einmal hier.
Was hätte die diesjährige Feier den Überlebenden bedeutet? War ihnen klar,
dass es vielleicht die letzte ihres Lebens gewesen wäre?
Natürlich wissen sie, dass die Spanne, die ihnen noch bleibt, kurz ist.
Viele feiern übrigens auch den Tag ihrer individuellen Befreiung seit
Jahrzehnten als zweiten Geburtstag. Viele befanden sich auf „Todesmärschen“
oder in den Außenlagern, daher sind die Daten verschieden. Vielen von ihnen
ist aber darüber hinaus die Teilnahme an den Gedenkfeiern wichtig zum
„offiziellen“ Datum am 3. Mai – gleichzeitig der Tag der Bombardierung der
KZ-Schiffe wie der Befreiung Hamburgs. Wir haben oft gehört: „Soweit ich es
gesundheitlich kann, werde ich mit meinen Kindern oder Enkeln kommen, damit
sie eine Ahnung von meinen Erfahrungen an diesem Ort bekommen.“ Diese
transgenerationelle Weitergabe ist ein zentrales Motiv, noch einmal
herzukommen.
Geht es vielen auch darum, Abschied von KameradInnen zu nehmen, die sie in
Neuengamme sterben sahen?
Ja, aber nicht speziell dieses Jahr. Das haben die Menschen meist schon bei
früheren Besuchen getan. Wichtig ist inzwischen vor allem die Familie.
Etliche kommen mit sechs, acht Angehörigen her, um ihren Nachkommen zu
zeigen, was nie wieder passieren darf.
Wie tragisch ist es dann, dass die Feier jetzt ausfällt?
Ziemlich. Wir planen zwar, die im kommenden Jahr, zum 76. Jahrestag,
nachzuholen, aber dann werden sicher einige der dieses Jahr Geladenen nicht
kommen können – sei es aus gesundheitlichen Gründen, sei es, weil sie
verstorben sind. Diese Wehmut haben wir bei unseren Absagen deutlich
gespürt – besonders, wenn sich Menschen nach längerem Zögern durchgerungen
hatten, ein letztes Mal zu kommen.
Wird es einen Ersatz geben oder fällt der 75. Jahrestag einfach aus?
Nein. Wir beabsichtigen, Video-Botschaften sowohl der geladenen Redner als
auch von Überlebenden und ihren Angehörigen ins Netz zu stellen, aus denen
hervorgeht, was dieser Jahrestag für sie bedeutet.
27 Mar 2020
## LINKS
[1] /Gedenken-in-Auschwitz/!5656670&s=auschwitz-birkenau/
[2] /Wanderausstellung-Zwangsarbeit-in-Deutschland/!5246147&s=petra+schellen+zw…
[3] /Anerkennung-fuer-NS-Opfergruppen/!5659844&s=Asoziale+KZ/
## AUTOREN
Petra Schellen
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