# taz.de -- Geschichte einer KZ-Gedenkstätte: Erinnerungspolitik in Buchenwald | |
> Nach der Befreiung von Buchenwald versuchte erst die DDR und dann die BRD | |
> dessen Geschichte zu instrumentalisieren. Davon profitiert die AfD. | |
Bild: Am 11. April 2020 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Buch… | |
Jede Gedenkveranstaltung ist ein politischer Akt. Hinter den scheinbar | |
immer gleichen Sonntagsreden verbergen sich konkrete politische Absichten. | |
Das zeigte sich etwa in Israel anlässlich des [1][75. Jahrestags der | |
Befreiung von Auschwitz] am 27. Januar: Der Historiker Zeev Sternhell, | |
selbst ein Überlebender des Holocaust, nahm kein Blatt vor den Mund, als er | |
am 31. Januar in der Tageszeitung Haaretz die „zynische Verbindung“ der | |
Gedenkfeier in Yad Vashem mit der Verkündung des [2][Trump-Plans für | |
Palästina] verurteilte. | |
Ein weiterer Gedenkakt – zum 75. Jahrestag der Befreiung des [3][KZ | |
Buchenwald] am 11. April 1945 – sollte eigentlich am 5. April in Weimar | |
stattfinden, musste aber wegen der Corona-Epidemie abgesagt werden. Am Ende | |
des Zweiten Weltkriegs war Buchenwald das größte Konzentrationslager im | |
Deutschen Reich. Zwischen dem 15. Juli 1937 und dem 11. April 1945 – als | |
US-Truppen auf das Lager stießen – wurden hier mindestens 56 000 Menschen | |
(die genaue Zahl ist nicht mehr rekonstruierbar) umgebracht. | |
Die Gedenkstätte liegt in Thüringen, wo die AfD bei [4][den letzten | |
Landtagswahlen] mit 23,4 Prozent der Stimmen, nach der Linken mit 31 | |
Prozent, zweitstärkste Partei wurde. Immer häufiger tauchen in Buchenwald, | |
aber auch in den Gedenkstätten Dachau, Sachsenhausen oder Ravensbrück | |
AfD-Mitglieder auf, um in provozierenden Äußerungen den Holocaust zu | |
leugnen. Am 23. Januar dieses Jahres sagte der Direktor der | |
Buchenwald-Gedenkstätte Volkhard Knigge dem Spiegel, er sehe darin „ein | |
ernst zu nehmendes Indiz, dass etwas wegbricht an Geschichtsbewusstsein“. | |
Zweifellos. Aber hat womöglich auch die Neuschreibung der Geschichte des | |
antifaschistischen Widerstands nach dem Fall der Mauer ungewollt zu diesem | |
„Wegbrechen“ beigetragen? | |
## Strom nach Buchenwald | |
Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar war eines der ersten KZs, die wie | |
kleine und quasi autarke „Städte des Terrors“ angelegt wurden. Am 15. Juli | |
1937 kamen die ersten von den Nazis politisch Verfolgten an. Anderthalb | |
Monate später waren schon 2.400 Männer in dem Lager gefangen. Nach der | |
Pogromnacht vom 9. November 1938 kamen fast 10.000 Juden hinzu, außerdem | |
Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und Kriminelle; und | |
schließlich all jene, die das NS-Regime als „Asoziale“ bezeichnete. | |
Ein Herrschaftsinstrument der SS war der Einsatz von Gefangenen als | |
Aufseher (Kapo-System). Ende 1938 waren in Buchenwald von 11.000 Insassen | |
500 Kapos, ab 1942 saßen die „Politischen“ an strategisch wichtigen | |
Positionen in der internen Lagerverwaltung: Sie teilten ihre Mitgefangenen | |
in Arbeitskommandos ein und stellten die Transporte für Vernichtungslager | |
wie Dora oder Auschwitz zusammen. Nach Kriegsbeginn kamen | |
Widerstandskämpfer aus allen von den Deutschen besetzten Ländern Europas | |
nach Buchenwald, darunter fast 26.000 Franzosen, und – nach dem Überfall | |
auf die UdSSR im Juni 1941 – zehntausende Sowjetsoldaten. | |
Ab Herbst 1944 wurden wegen des Vormarschs der Roten Armee die | |
Vernichtungslager im Osten evakuiert. Tausende Überlebende der Todesmärsche | |
strömten nach Buchenwald. Im Februar 1945 befanden sich im Stammlager und | |
seinen 88 Außenlagern 112.000 Menschen, das Stammlager war anfangs für | |
6.000 Insassen konzipiert worden. Als die US-Armee die Kontrolle übernahm, | |
fand sie 21.000 Überlebende vor. An der Spitze des Widerstands im Lager | |
standen die deutschen politischen Gefangenen, in der Mehrheit Kommunisten, | |
die die letzten SS-Männer an die Amerikaner übergaben. | |
Doch auf den Zweiten Weltkrieg folgte sogleich der Kalte Krieg: Im Oktober | |
1946 erschien das Pamphlet „Communist Atrocities At Buchenwald“ des | |
US-Soldaten und Historikers Donald Robinson. 1947 folgte die deutsche | |
Übersetzung, die vom Buchenwald-Komitee ehemaliger Häftlinge als „infame | |
Verleumdung der gesamten antifaschistischen Widerstandsbewegung“ im Lager | |
gebrandmarkt wurde. | |
## Gedenkstätte wird zum Tempel | |
Zum Standardwerk wurde hingegen das ebenfalls 1946 erschienene Buch „Der | |
SS-Staat“ des Buchenwald-Überlebenden Eugen Kogon (1903–1987). Der | |
Soziologe leugnete konfliktreiche Beziehungen zwischen den Häftlingen | |
nicht, erklärte aber, dass es vor allem die deutschen politischen | |
Gefangenen waren, die für eine gewisse Ordnung sorgten. | |
In Ostdeutschland bezog die im Oktober 1949 gegründete Deutsche | |
Demokratische Republik ihre Legitimation aus dem antifaschistischen Kampf. | |
Die Heimkehrer aus dem sowjetischen Exil verbreiteten die Heldengeschichte | |
des Widerstands gegen die Faschisten und erklärten sich zu seinen Erben. | |
Der Antifaschismus wurde zur Staatsreligion und die 1958 eingeweihte | |
Gedenkstätte Buchenwald zu ihrem Tempel. | |
Jedes Jahr wurde feierlich an den „Schwur von Buchenwald“ erinnert, in dem | |
sich die Überlebenden am 19. April 1945 verpflichtet hatten, für Frieden | |
und Freiheit zu kämpfen. Offiziell wurden sie als Helden gefeiert, aber von | |
der Macht ferngehalten, wenn sie nicht sogar Opfer der stalinistischen | |
Säuberungen wurden. | |
1958 erschien in der DDR der Roman von Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“, | |
der in dreißig Sprachen übersetzt ein Welterfolg wurde. Der Autor, selbst | |
ein Überlebender von Buchenwald, erzählt darin die Geschichte eines | |
jüdischen polnischen Jungen, der von politischen Gefangenen versteckt und | |
gerettet wird. | |
Die Verfilmung von Frank Beyer, an den historischen Schauplätzen gedreht | |
und mit mehreren Schauspielern und Statisten, die wie Apitz das KZ überlebt | |
hatten, bekam 1963 auf dem Internationalen Filmfestival Moskau den | |
Sonder-Silberpreis für die beste Regie. In Moskau erkannte ein Zuschauer | |
die Geschichte seines Neffen Stefan Jerzy Zweig, der bisher nur als „Kind | |
von Buchenwald“ bekannt war. | |
Der Roman von Bruno Apitz, in dem die Rettung des Kindes symbolisch für den | |
Humanismus der Kommunisten in den Konzentrationslagern steht, wurde in der | |
DDR zum Nationalepos, die Fiktion überschrieb die wahre Geschichte. Das | |
Museum in der Gedenkstätte ließ sich von dem Buch inspirieren und würdigte | |
die Aktion der Kommunisten. | |
Eine Religion, auch eine säkulare, mag keine Widersprüche. Die Frage der | |
Beziehungen zwischen den politischen Gefangenen und der SS sowie der | |
Gefangenen untereinander kam im ostdeutschen Narrativ nicht vor. Diese | |
„Grauzone“, über die laut einem Diktum des Auschwitz-Überlebenden Primo | |
Levi („Ist das ein Mensch?“, 1947) kein menschliches Gericht urteilen | |
dürfe, sollte erst im wiedervereinigten Deutschland ihre Richter finden. | |
## Gleichsetzung von Kommunisten und Faschisten | |
Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Gedenkstätte Buchenwald eiligst | |
umgestaltet. Eine der ersten Initiativen war die Wiederentdeckung des | |
Speziallagers Nr. 2, in dem auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone | |
(SBZ) direkt nach dem Krieg 28.000 NS-Kader, aber auch Denunzierte | |
interniert worden waren, von denen zwischen August 1945 und Februar 1950 | |
ein Viertel durch die katastrophalen Haftbedingungen starben. | |
1999 eröffnete die Landesregierung eine „überarbeitete und korrigierte“ | |
Ausstellung. Unter dem neuen Direktor Volkhard Knigge, einem westdeutschen | |
Historiker, wurden die Kommunisten zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, | |
verschwanden aber als soziale Gruppe ebenso wie die Gedenktafel zur Rettung | |
von Stefan Jerzy Zweig, einem der Jüngsten von 904 Kindern und | |
Jugendlichen, die am 11. April 1945 noch am Leben waren – dank des | |
Einsatzes der politischen Gefangenen. | |
Nach der Wiedervereinigung verfasste ein Kollektiv von Historikern ein | |
Werk, das den „Mythos des Antifaschismus“ demontieren sollte. In „Der | |
gesäuberte Antifaschismus“ entwickelten sie die These, die „roten Kapos“ | |
hätten auf Kosten der anderen überlebt und seien nur untereinander | |
solidarisch gewesen. Die Boulevardpresse stürzte sich auf die offenen | |
Fragen in der Geschichte des „Kindes von Buchenwald“ und der „roten Kapos… | |
die sie kurzerhand zu Kollaborateuren der SS erklärte. | |
Die Gleichsetzung von Kommunisten und Faschisten weckte in vielen das | |
Gefühl, vom ostdeutschen Diskurs getäuscht worden zu sein; die im | |
westdeutschen „Historikerstreit“ schon widerlegte These von Ernst Nolte, | |
der behauptet hatte, die NS-Vernichtungslager seien zur Verteidigung gegen | |
den Bolschewismus errichtet worden (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni | |
1986), gewann wieder an Boden. | |
## Wasser auf den Mühlen der AfD | |
In dem Roman „Les Jours de notre mort“(1947) hat der französische | |
Überlebende David Rousset beschrieben, mit welchen Situationen die | |
politischen Gefangenen täglich konfrontiert waren und unter welch extremen | |
Umständen sie Entscheidungen treffen mussten. Stéphane Hessel, Imre Kertész | |
und Jorge Semprun haben darüber geschrieben, dass sie auf gleiche Weise | |
gerettet wurden wie Stefan Jerzy Zweig, dessen Name von den „roten Kapos“ | |
auf einer Deportationsliste durch einen anderen ersetzt worden war. Der | |
Roman von Rousset wurde bis heute nicht ins Deutsche übersetzt; seine | |
Darstellung „Das KZ-Universum“ aus dem Jahr 1946 erschien erst Anfang 2020 | |
auf Deutsch. | |
Die auf dem Konzept des Totalitarismus beruhende Ansatz zur Interpretation | |
der Geschichte der DDR verleitet dazu, das kommunistische System und das | |
Naziregime gleichzusetzen. Die Erinnerungspolitik, die vor allem von der | |
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wird, bestätigt, | |
dass der Antikommunismus die Staatsreligion der BRD geblieben ist, wie es | |
für die DDR der Antifaschismus war. | |
Dieser Ansatz ist Wasser auf die Mühlen der AfD, diesem auf den Ruinen der | |
DDR erstarkten Produkt von Rechtsextremen aus der alten Bundesrepublik. Die | |
AfD bedient sich der dämonisierenden Darstellung der ostdeutschen Erfahrung | |
und nährt damit die Ressentiments von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, | |
die sich auf die Rolle von Opfern des kommunistischen Regimes oder von | |
Kollaborateuren einer Diktatur reduziert sehen. Langfristig kann man den | |
Holocaust-Leugnern aber nur mit einer vollständigen und differenzierten | |
Darstellung der Tatsachen das Wasser abgraben. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
11 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /75-Jahre-Auschwitz-Befreiung/!5653759 | |
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5653850 | |
[3] /Buchenwald/!t5013126/ | |
[4] /Schwerpunkt-Landtagswahl-2019-in-Thueringen/!t5016731/ | |
## AUTOREN | |
Sonia Combe | |
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