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# taz.de -- Überlebende über den Holocaust: „Kindheit und Jugend verloren“
> Die Hamburger Holocaust-Überlebenden Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal
> sprechen über Hunger, Loyalität und Schuld.
Bild: Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal: „Wir hatten ja immerhin überlebt…
taz: Herr Buterfas-Frankenthal, wie sehr verfolgt Sie [1][die Erinnerung an
die NS-Zeit]?
Ivar Buterfas-Frankenthal: Ich wache jede Nacht davon auf. Ein
Hauptalbtraum ist: Ich wurde 1938 in der Schule am Rhiemsweg eingeschult.
Als ich sechs Wochen da war, gab es eine große Versammlung auf dem
Schulhof. Es waren ungefähr 500 Schüler und Schülerinnen angetreten, die
größeren hatten schon ihre Hitlerjugend- und BDM-Uniformen an. Dann haben
wir unter der Hitler-Fahne das Horst-Wessel-Lied gesungen, dann war alles
stumm, der Schulleiter stand auf der Freitreppe – die gibt es heute noch.
Er rief: „Buterfas, tritt’ hervor. Du weißt, warum du hervortreten musst?
Dein Vater ist Jude, pack’ deine Sachen, verschwinde und lass dich nie
wieder sehen!“ Die anderen Kinder guckten, dann ging es los: „Jude, Jude“.
Sie haben mir mit einer Zigarette ein Loch ins Bein gebrannt. Ich wusste
nicht mal, was ein Jude ist.
Ihr Vater war nicht religiös?
Nie im Leben. Und er war ja schon 1934 weg im Lager in Börgermohr. Und
unsere Mutter hat uns nichts davon erzählt, dadurch konnten wir nichts
weiterplappern.
Wann haben Sie angefangen, über Ihre Erinnerungen zu sprechen?
Es war schon nach Kriegsende klar: Ich will darüber reden. Wir hatten ja
immerhin überlebt, aber wie.
Dagmar Buterfas-Frankenthal: Wir mussten erst einmal Geld verdienen. Wir
hatten nichts zu essen und haben erst einmal [2][die Firma aufgebaut].
Ivar Buterfas-Frankenthal: Ich will es mal chronologisch aufbauen. Ich war
bis 1945 nicht wieder in einer Schule, ich hatte einen Horror, wieder mit
einer Menge Kinder zusammen zu sein. Ich bin dann doch wieder gegangen, mit
meiner anderthalb Jahre älteren Schwester, Felicitas, in Hamburg-Billstedt.
Das war schrecklich.
Warum?
Eine Klasse bestand damals aus 60 Schülerinnen und Schülern und viele von
deren Eltern waren belastet als Ortsgruppenführer, hohe Offiziere.
Natürlich hatten sie alle nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun und
jeder hatte eine oder zwei jüdische Familien versteckt. Sie hatten sich
Persilscheine besorgt.
Und wie erging es Ihnen mit den MitschülerInnen?
Es sprach sich in Windeseile rum: Zwei jüdische Kinder, die überlebt haben,
sind hier bei uns. Viele hatten Angst, dass wir uns aus Rache über sie oder
ihre Eltern hermachen. Einige kamen auf mich zu und sagten: Pass’ mal auf,
das, was wir mit den Juden gemacht haben sollen, das haben die Engländer
schon viel früher im Burenkrieg gemacht, das hat mein Vater mir erzählt.
Ich war froh, dass ich in der achten Klasse abgehen konnte. Die Not in der
Familie war nach wie vor groß.
Wie hatten Sie den Nazis entkommen können?
Die letzten anderthalb Jahre haben wir in einem Kellerloch gelebt, in der
Ruine eines Hauses mit heilem Keller. Eine Nachbarin, die meine Mutter von
früher kannte, hat uns Decken und manchmal etwas zu essen gebracht. Mit
meinem Bruder Rolf bin ich nachts raus, dann sind wir in die zerstörten
Häuser gegangen, um nach etwas zum Essen zu suchen. Die anderen waren dafür
nicht so geeignet.
Da mussten Sie eine Menge organisieren.
Wenn da ein Stück Brot lag, und wir wussten, unsere Mutter hatte noch
nichts gehabt, sagten wir: „Da Mama, das ist für dich“, dann sagte sie:
„Ich hatte schon was, teilt euch das mal.“ Diese Frau war einzigartig.
Ich habe mit Überraschung gelesen, dass ausgerechnet ein Gestapo-Mann Ihre
Familie gewarnt hat.
Mein Vater hatte vor dem Krieg einen engen Freund, der bei der Gestapo war.
Die Freundschaft hat sich gehalten, obwohl er ein strenger Nazi war. Er hat
meine Mutter immer gewarnt, wenn eine neue Aktion geplant wurde. Für uns
war es bis 1942 einigermaßen lebbar, in einem sogenannten Judenhaus, einer
halb verfallenen Kate, obwohl wir keinen Luftschutzkeller benutzen durften.
Mein Vater wurde immer wieder abgeholt, schließlich landete er im Lager
Sachsenhausen und kam erst 1945 wieder.
Sie stammen aus einer ungewöhnlichen Familie – Ihre Eltern waren Artisten.
Waren Sie das auch noch mit neun Kindern?
Mein Vater stammte aus einer reichen Fabrikantenfamilie in Dresden, die
meine Mutter als Christin nicht akzeptiert hatten – die waren auch
verbohrt. Aber sie haben uns unterstützt. Bis 1931 haben meine Eltern als
Step-Artisten gearbeitet.
Wie lange ging Ihr Leben im Versteck gut?
Der Gestapo-Mann hat zu meiner Mutter gesagt: Ihr sollt abgeholt werden,
ihr müsst verschwinden. Dann fiel in unmittelbarer Nähe eine Luftmine, und
mein Bruder Rolf wurde schwer verletzt. Als wir mit ihm zu Arzt gingen,
sagte der: „Ich darf Sie nicht behandeln.“ Schluss.
Dagmar Buterfas-Frankenthal: Der Bruder ist mit 38 Jahren an Gehirnschlag
gestorben.
Ivar Buterfas-Frankenthal: Der Blockwart hat im Luftschutzkeller vor uns
die Tür zugemacht. Dann hat unsere Mutter uns genommen und gesagt: „Wir
müssen eine längeren Spaziergang machen.“ 14 Tage später waren wir hinter
Danzig, dort hat uns ein Gutsbesitzer versteckt. Eigentlich ging es uns
ganz gut, bis wir eines Tages vom Beerensammeln kamen und da der Bescheid
war.
Ein Bescheid wofür?
Ein Bescheid der Kommandantur, hinter jedem Namen der Kinder stand J für
Jude, nur hinter dem meiner Mutter nicht, die war ja der christliche Teil.
Da hat unsere Mutter gesagt: Da gehen wir nicht hin, das ist eine Falle.
Sie hat uns geschnappt und ist mit uns zurück nach Hamburg gegangen. An
einem Tag, als wir vom Organisieren zurückkamen, war da die Gestapo und
wollte uns zur Schule am Bullenhuser Damm bringen.
Die ist berüchtigt als Außenlager, in dem kurz vor Kriegsende 20 jüdische
Kinder ermordet wurden.
Sie wollten neun Kinder, es waren aber nur sieben da. „Sehen Sie, dass
morgen alle da sind.“ Was hat unsere Mutter gemacht? Zwei Stunden später
waren wir in einem anderen Kellerloch. Und am 8. Mai 1945 war ich der
erste, der aus dem Keller lief und den britischen Panzern entgegen. Aber
das schlimme Kapitel für uns begann noch mal richtig nach 1946.
Warum?
Als mein Vater aus Sachsenhausen zurückkam, war er fertig. Meine Mutter war
es auch. Mein Vater hat sich eine andere Frau gesucht, wir waren wieder
ohne Vater. Ich verlor meine Schule, meine Kindheit und meine Jugend.
Dagmar Buterfas-Frankenthal: Aber gefunden hast du mich.
Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht wie Ihr Mann?
Das Foto meines Vaters steht dort oben. Den haben sie 1938 in Buchenwald
umgebracht. Erzähl’ du das mal.
Ivar Buterfas-Frankenthal: 1938 ist ihr Vater nach Amerika gegangen zu
einem medizinischen Kongress. Was er nicht wusste: Seine Frau hat die Zeit
genutzt und ließ sich scheiden. Der Vater war der jüdische Teil, sie der
christliche. Wir haben uns gestern noch darüber unterhalten: Wie konnte das
sein? Sie musste doch wissen, 1938, es gab die Pogrome. Der Vater kam
zurück, wurde sofort verhaftet, kam nach Buchenwald als Arzt in die
Krankenbaracke und war sechs Monate später tot. Als wir unsere diamantene
Hochzeit hatten, wollte meine Frau ihren Namen Frankenthal annehmen. Da hab
ich gesagt: Das mach’ ich auch.
War es für Sie nach 1945 klar, in Deutschland zu bleiben?
Ivar Buterfas-Frankenthal: Du oder ich?
Dagmar Buterfas-Frankenthal: Die zweitälteste Schwester meines Mannes ist
mit ihrem jüdischen Verlobten nach Amerika ausgewandert. Die anderen sind
alle hier geblieben, haben sich selbständig gemacht, sind dem Staat nicht
zur Last gefallen.
Ivar Buter-Frankenthal: Aber warum sind wir geblieben? Der Alte hat sich
scheiden lassen. Für alle meine Geschwister und mich gab es eine
Patenschaft in Amerika, nur für unsere Mutter nicht. Und meinen Sie, wir
verlassen unsere Mutter? Die alten Drecknazis sind wieder in die alten
Positionen geschlüpft. Der Verbrecher, der uns 1942 die Staatsangehörigkeit
genommen hat, war wieder dafür verantwortlich, dass wir sie wiederkriegen
sollten. Uns wissen Sie, wann ich sie bekommen habe? 1964. Unsere Kinder
sind noch als Staatenlose geboren. Und trotzdem: vergeben haben wir beiden
längst. Aber vergessen…
Sie haben sich an mehreren Stellen gegen das Vergessen aufgebäumt: unter
anderem beim ehemaligen KZ Sandbostel.
Der Kulturdezernent von Rotenburg-Wümme fragte mich bei einer
Veranstaltung: Kennen Sie Sandbostel? Nein, kannte ich nicht. Er sagte: Das
ist ein ehemaliges KZ und Gefangenen-Straflager, schrecklich. Könnten Sie
sich das vielleicht angucken und uns ein paar Tipps geben, Sie haben doch
Erfahrung über die Arbeit für St. Nikolai? Es ist das einzige Lager in
Europa, das noch über 30 Baracken verfügt. Das hat mich doch interessiert.
Vor allem hat mich interessiert, dass er sagte: Als das Lager Neuengamme
geräumt wurde, mussten 10.000 KZ-Häftlinge auf den Todesmarsch von
Bergen-Belsen nach Sandbostel, darunter 4.000 Juden. Das hat mich noch
wacher gemacht, weil eigentlich entweder die Schule Bullenhuser Damm oder
Neuengamme für uns gedacht waren.
Sie sind gefahren?
Ich bin eher hingefahren als ich eigentlich wollte. Man hat mich in Empfang
genommen und gesagt: Hier sind über 60.000 Menschen ermordet worden, an
Hunger, Typhus gestorben. Jetzt ist alles aufgeteilt, der Kreis hat sich
davon befreit und einen Gewerbepark daraus gemacht. Bis vor kurzem war in
zwei Baracken ein Puff. Da hinten ist ein Holzhändler, das Gelände hat man
einfach aus dem Denkmalschutz rausgenommen. Und es gab einen
Militariahändler.
Wie passend.
Man sagte mir: die Grenzen nach Osteuropa sind offen, die Menschen kommen
aus aller Welt, die hier ihren Onkel, Bruder, Vater verloren haben. Wenn
sie dorthinkamen, um Blumen niederzulegen, bekamen sie was mit dem Knüppel,
die haben hier nichts zu suchen. Ich sage: Ich komme wieder.
Und dann?
Es gab eine Gruppe, alles gute Leute, die sich um das Lager gekümmert
hatte, vergeblich. Ich bekam einen Brief von Christian Wulff, ob ich in
Bremervörde eine Veranstaltung machen und dort auch über Sandbostel reden
würde. Der Oberbürgermeister würde sich sehr freuen. Dann bekomme ich einen
Anruf von meinem Freund aus der Sandbostel-Gruppe: „Tu' mir einen Gefallen,
fahr nicht nach Bremervörde. Ich les dir die Titelseite der Bremervörder
Zeitung vor: Ivar Buterfas wurde mit 5 zu 4 Stimmen zur Persona non grata
erklärt. Er darf das Rathaus von Bremervörde nicht betreten“.
Das hat Sie vermutlich nicht beeindruckt.
Es gab eine Kirche vier Kilometer weiter, deren Pastor war mit im
Förderkreis von Sandbostel. Der stellte mir sein Gemeindehaus zur
Verfügung. Drei Tage später der erste Telefonanruf: „Hör zu, du Judensau.
Wir haben gerade eine Kiste gebastelt, da haben wir ein Schwein, 85 Kilo,
sechs Minuten gedauert. Wir warnen dich“. Noch ein paar, noch ein paar.
Zwei Tage später klingelt es am Tor: Herr Buterfas, lassen Sie uns mal
rein. Wir sind vom Verfassungsschutz. Wir müssen Sie eindringlich bitten,
diese Veranstaltung nicht durchzuführen. Ich sage: ich lass micht nicht
verbiegen, nicht von so einer Horde ehemaliger Nazis, das läuft nicht. Dann
sind sie hier Streife gelaufen, haben Auflagen gemacht, Fenster mit
Panzerglas zu versehen, solche Lichtquellen. Das ist wie Fort Knox hier.
Wie war die Veranstaltung?
Es ist riesig gelaufen, phantastisch. Dieses Lager ist heute nicht
wiederzuerkennen, es ist ein Lernort geworden. Es ist gelaufen wie die
Feuerwehr.
Sie sind auch gelaufen wie die Feuerwehr.
Sie können es als mein Lebenswerk betrachten.
26 Jan 2020
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[1] /!s=&Thesaurus=HI0302/
[2] http://www.buterfas.de/
## AUTOREN
Friederike Gräff
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Gedenkstätte. Von der war die Bevölkerung anfangs nicht begeistert.
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