| # taz.de -- Untergang der „Cap Arcona“: Tod auf der Ostsee | |
| > Vor 75 Jahren versenkte die britische Luftwaffe die „Cap Arcona“ in der | |
| > Lübecker Bucht. Unter Deck waren Tausende Gefangene aus | |
| > Konzentrationslagern. | |
| Bild: Blumen im Meer: Überlebende der Cap Arcona bei einer Gedenkfahrt an die … | |
| Hamburg taz | Sam Pivnik hört einen Knall und spürt, wie der Boden unter | |
| seinen Füßen bebt. Er fällt hin. Auf allen Vieren kniend merkt er, wie das | |
| ganze Schiff zittert. Eine Fensterscheibe zerspringt und Glasscherben | |
| fliegen über ihn. Sein Herz klopft bis zum Hals. Das Schiff scheint zu | |
| hüpfen. Er versteht nicht, was geschieht. | |
| Gemeinsam mit etwa 4.600 anderen Gefangenen ist Pivnik auf dem | |
| Passagierschiff „Cap Arcona“ unter Deck eingepfercht. Viele von ihnen sind | |
| so abgemagert, dass ihre Körper an Skelette erinnern. An Bord gibt es kaum | |
| Proviant. Trinkwasser und Toiletten fehlen. | |
| Wieder kracht es. Holzsplitter fliegen durch die Luft. Schreie hallen durch | |
| Gänge und Treppenhäuser. Panik braust durch das Schiff. Dicker, schwarzer | |
| Rauch und Hitze kriechen durch die Räume, in die Augen und Nasen der | |
| Gefangenen. Langsam begreift Sam Pivnik: Die „Cap Arcona“ wird angegriffen. | |
| Pivnik sieht, wie sich eine Luke öffnet. Ein Stück grauer Himmel erscheint. | |
| Er weiß: Sein Leben hängt davon ab, ob er die Luke zum Deck erreichen kann. | |
| Vor 75 Jahren, am 3. Mai 1945, lassen britische Jagdflugzeuge Bomben auf | |
| die „Cap Arcona“ fallen. Das Schiff liegt manövrierunfähig in der Ostsee, | |
| wenige Kilometer entfernt von Neustadt in Holstein. Insgesamt drei | |
| Gefängnisschiffe ankern in der Lübecker Bucht. In der Nähe der Cap Arcona | |
| schwimmt das Frachtschiff „Thielbek“, der Dampfer „Athen“ liegt im | |
| Neustädter Hafen. Auf den Schiffen hat die SS zwischen 7.000 und 8.000 | |
| Gefangene aus verschiedenen Konzentrationslagern zusammengetrieben. | |
| Es ist ein Donnerstagnachmittag, als die Flieger der Royal Air Force | |
| angreifen. Tausende Gefangene auf der „Cap Arcon“a und der „Thielbek“ | |
| verbrennen oder ertrinken. Nur etwa 450 von ihnen [1][können sich retten]. | |
| Der Untergang der „Cap Arcona“ ist eine der verlustreichsten | |
| Schiffskatastrophen der Geschichte. Fünf Tage später wird die deutsche | |
| Wehrmacht bedingungslos kapitulieren. | |
| ## Königin des Südatlantiks | |
| 1927 hatte die „Cap Arcona“ die Hamburger Werft Blohm & Voss verlassen. | |
| Benannt wurde das Schiff nach dem Kap Arkona im Norden der Ostseeinsel | |
| Rügen, wo sich steile Kreidefelsen aus dem Wasser strecken. Regelmäßig fuhr | |
| der Luxusdampfer diejenigen, die es sich leisten konnten, von Hamburg nach | |
| Südamerika. Das Schiff legte die Strecke zwischen Hamburg und dem | |
| argentinischen Buenos Aires in nur 15 Tagen zurück. Deutsche Zeitungen | |
| nannten die „Cap Arcona“ die „Königin des Südatlantiks“ und eines der | |
| [2][schönsten Schiffe ihrer Zeit]. | |
| Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs fuhr die „Cap Arcona“ zum letzten | |
| Mal von Südamerika nach Hamburg. Danach wurde sie von der Kriegsmarine in | |
| der Ostsee eingesetzt – erst als Wohnschiff, später, um Geflüchtete von | |
| Ostpreußen nach Westen zu bringen. Die einstige „Königin des Südatlantiks�… | |
| bleibt fünf Jahre lang in der Ostsee. Sie hat den Ruf, ein „glückhaftes | |
| Schiff“ zu sein. Denn sie bleibt von feindlichen Angriffen verschont. | |
| Im Frühjahr 1945 rücken die Briten auf Hamburg vor. Hastig räumen die Nazis | |
| das KZ Neuengamme. Der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann ist der mächtigste | |
| NSDAP-Funktionär in der Stadt. Er entscheidet, die „Cap Arcona“ zu einem | |
| schwimmenden Konzentrationslager zu machen. Er zieht einen Großteil der | |
| Besatzung ab und lässt mehrere Tausend Rettungswesten an Land bringen. Das | |
| Schiff soll [3][„ausbruchsicher“] werden. | |
| ## Schwimmende Bombe | |
| Was danach folgte, ist umstritten. Einige Historiker*innen gehen von diesem | |
| Szenario aus: Die SS und die Kriegsmarine [4][manipulieren die | |
| wasserdichten Stahlwände und die Feuerlöscher]. Ihr Plan: Wenn sich Feinde | |
| nähern, soll das Schiff versenkt werden – samt menschlicher Fracht. Die | |
| leeren Tanks füllen sie mit Gas und brennbarem Material. Die Nazis | |
| bereiteten eine [5][schwimmende Bombe] vor. Diese Position vertritt zum | |
| Beispiel Wilhelm Lange, der Staatsarchivar in Neustadt. Die | |
| Historiker*innen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme interpretieren die | |
| Geschehnisse vorsichtiger. Sie [6][schreiben]: „Einen ausdrücklichen Plan, | |
| die KZ-Häftlinge durch Versenken der Schiffe zu ermorden, scheint es nicht | |
| gegeben zu haben.“ Die „Cap Arcona“ habe einfach als Ersatzlager gedient. | |
| Fest steht: SS-Chef Heinrich Himmler ordnet im April 1945 an, dass kein*e | |
| Gefangene*r lebend in die Hände der Alliierten fallen soll. | |
| Die SS verlädt die Gefangenen aus Neuengamme in Züge oder treibt sie zu Fuß | |
| nach Lübeck. Dort werden sie vom [7][Vorwerker Industriehafen] auf die „Cap | |
| Arcona“ gefahren. Auch Gefangene aus den Konzentrationslagern Stutthof und | |
| Auschwitz werden auf den Dampfer gebracht. Die SS treibt sie auf | |
| Todesmärschen aus den Lagern durch Europa. | |
| Die Besatzung der „Cap Arcona“ wehrt sich dagegen, so viele Gefangene | |
| aufzunehmen. An Bord gibt es weder genug Wasser [8][noch ausreichend | |
| Proviant]. Eine Woche lang gelingt es, die Unterbringung von Gefangenen | |
| hinauszuzögern. Dann erscheint ein SS-Kommando an Bord und [9][droht, | |
| Kapitän Heinrich Bertram zu erschießen], wenn er sich weiterhin weigere, | |
| Gefangene aufzunehmen. Bertram lässt die SS gewähren. Innerhalb weniger | |
| Tage füllt sich das Schiff mit Tausenden [10][geschundener, kranker und | |
| hungriger Menschen]. | |
| Sam Pivnik ist unter den Letzten, die auf die „Cap Arcona“ gezwungen | |
| werden. Er kommt aus dem KZ Fürstengrube, einem größeren Außenlager des KZ | |
| Auschwitz. Die SS hatte ihn und andere nach Magdeburg getrieben, von dort | |
| die Elbe runtergeschifft und nach Neustadt gebracht. In Neustadt steigt | |
| Pivnik mit anderen Gefangenen in ein Fischerboot, das ihn zur „Cap Arcona“ | |
| fährt. | |
| Die einstige „Königin des Südatlantiks“ sieht mitgenommenm aus, Rostnasen | |
| ziehen sich über den Rumpf.Über eine wackelige Strickleiter klettern Pivnik | |
| und die anderen in den Bauch der „Cap Arcona“. Er stolpert in einen dunklen | |
| Raum hinein. Dort drängen sich Körper eng aneinander. | |
| ## Deutscher Überfall am 13. Geburtstag | |
| Als Pivnik das Schiff betritt, ist er 18 Jahre alt. An seinem 13. | |
| Geburtstag hatten die Deutschen Polen überfallen, Pivnik und seine Familie | |
| lebten in der kleinen Stadt Będzin in der Nähe von Katowice. 1943 wurden | |
| sie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Die SS ermordete seine | |
| Eltern und Geschwister. | |
| Einige Tage nach Pivniks Ankunft auf der „Cap Arcona“, am 2. Mai 1945, | |
| marschieren britische Truppen in Lübeck ein. Das Internationale Rote Kreuz | |
| informiert die Briten über die Schiffe mit Gefangenen in der Lübecker | |
| Bucht. Doch die Information erreicht die Piloten der Royal Air Force nicht. | |
| Sie glauben, auf den Schiffen befänden sich SS-Leute und Soldaten, die sich | |
| über die Ostsee absetzen wollen. Historiker*innen gehen davon aus, dass es | |
| auch das Kalkül der Deutschen war: Die Alliierten sollten die schwimmenden | |
| Konzentrationslager für Truppentransporte halten. | |
| ## Mit letzter Kraft | |
| Als am 3. Mai 1945, kurz nach 15 Uhr, der Angriff beginnt, schlagen 64 | |
| Bomben auf der „Cap Arcona“ ein. Schnell brennt sie vom Bug bis zum Heck. | |
| Mit letzter Kraft versucht Sam Pivnik, die Luke zu erreichen, durch die er | |
| den grauen Himmel sehen kann. Seine Hände krallen sich in die Luft. | |
| Vergeblich. Dann spürt Pivnik, wie ein Freund aus dem KZ Fürstengrube ihn | |
| auf die Schultern hebt. | |
| Pivnik greift nach dem kalten Metall und schiebt sich aus der Luke auf das | |
| Deck. Unter ihm zittert das Schiff. Über ihm kreisen Jagdbomber. Als Pivnik | |
| seine Hand in die Luke streckt, um seinen Freund hochzuziehen, reagiert | |
| dieser nicht. | |
| Pivnik ist kein guter Schwimmer. Doch er weiß, dass er vom Schiff runter | |
| muss, um zu überleben. Er hält die Luft an und springt. Das Wasser der | |
| Ostsee ist kalt, die Temperatur liegt bei etwa [11][7 Grad Celsius]. Pivnik | |
| paddelt auf eine schwimmende Planke zu und hält sich daran fest. | |
| Die Hitze der brennenden „Cap Arcona“ spürt Pivnik auch im Wasser noch. | |
| Nach einer Weile drehen die britischen Flieger ab. Die „Cap Arcona“ | |
| explodiert mit einem lauten Knall und legt sich auf die Seite. Wer noch im | |
| Rumpf des Schiffes war, ist spätestens jetzt tot. | |
| Der Wind und die Strömung treiben Pivniks Holzplanke Richtung Küste. Am | |
| Ufer sieht er, wie zwei Polizisten auf die Brandung schießen – vermutlich | |
| auf Gefangene wie ihn. Pivnik will warten, bis es dunkel wird. Doch er | |
| kommt nicht gegen die Strömung an. In der Dämmerung kriecht er erschöpft an | |
| einen Strand bei Neustadt. Um ihn herum rollen die Wellen Leichen vor und | |
| zurück. | |
| Pivnik verbringt die Nacht am Strand. Am nächsten Tag hält ein Lieferwagen | |
| an. Er klettert drauf. Ein Fahrer mit norddeutschem Akzent bringt ihn nach | |
| Neustadt in Holstein. „Da gibt es was zu essen“, sagt er. | |
| ## Tausende Leichen | |
| Während des Sommers 1945 spült die Ostsee Tausende Leichen an die Strände. | |
| Aus Angst vor Seuchen werden Massengräber ausgehoben. Etwa 3.000 Tote | |
| liegen noch heute auf dem Grund der Ostsee. Inzwischen erinnern | |
| [12][Gedenkstätten und Museen] an die Katastrophe vor 75 Jahren. Dieses | |
| Jahr wird das Gedenken wegen der Corona-Pandemie nicht wie geplant | |
| stattfinden können. Veranstaltungen werden nur im kleinen Kreis abgehalten | |
| oder abgesagt. | |
| Sam Pivnik schrieb ein [13][Buch] über seine Erlebnisse: „ Survivor: | |
| Auschwitz, The Death March and My Fight for Freedom“. Er lebte zuletzt in | |
| London. Dort starb er 2017 mit 90 Jahren in einem jüdischen Seniorenheim. | |
| Sam Pivnik: „Der letzte Überlebende. Wie ich dem Holocaust entkam“, | |
| Übersetzung: Ulrike Strerath-Bolz, Verlag WBG Theiss, 2017, 280 S. | |
| 11 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/konzentrationslager/d… | |
| [2] http://neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha10_1_thm_2478.… | |
| [3] https://www.stadt-neustadt.de/museum_cap_arcona | |
| [4] https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article140343030/Die-Cap-A… | |
| [5] https://www.stadt-neustadt.de/museum_cap_arcona/,%20dagegen%20spricht:%20%0… | |
| [6] http://neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_4_6_5_thm_24… | |
| [7] http://neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_4_6_5_thm_24… | |
| [8] https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/52557/ssoar-dsa-1999… | |
| [9] http://neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_4_6_3_thm_24… | |
| [10] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/konzentrationslager/… | |
| [11] http://neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha7_4_6_5_thm_2… | |
| [12] https://www.stadt-neustadt.de/museum_cap_arcona/ | |
| [13] https://us.macmillan.com/books/9781250029539 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabrina Winter | |
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