Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Studie zu Missbrauch im Bistum Münster: Viele Opfer, kaum Konseque…
> Nach mehr als zwei Jahren Forschung haben Historiker*innen der
> Universität Münster ihre Studie zu Missbrauchsfällen im Bistum
> vorgestellt.
Bild: Nach der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studienergebnisse spricht Bi…
Berlin taz | Es sind immer ähnliche Worte, die fallen: Vertuschung, offenes
Geheimnis, Versetzungen. Und kaum Strafverfolgungen. Nach zwei Jahren
Forschungsarbeit haben in Münster fünf Historiker*innen eine Studie zu
Missbrauchsfällen im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 vorgestellt.
In der Studie mit dem Titel [1][„Macht und sexueller Missbrauch in der
katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum
Münster seit 1945“] stehen abermals erschütternde Zahlen: 196 beschuldigte
Kleriker, 610 Betroffene. Das allerdings sind nur die Zahlen der
Hellfeld-Studie, die die Historiker*innen durchgeführt haben. Das
Dunkelfeld schätzt die Forschungsgruppe auf bis zu zehnmal größer.
Betroffen von sexualisierter Gewalt im Bistum Münster könnten also in dem
Untersuchungszeitraum von 75 Jahren 5.000 bis 6.000 Mädchen und Jungen
sein.
Die Forschenden der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster,
Bernhard Frings, Thomas Großbölting, Klaus Große Kracht, Natalie Powroznik
und David Rüschenschmidt, wurden 2019 vom Bistum Münster beauftragt,
arbeiteten aber unabhängig. Das Bistum stellte für die Forschung 1,3
Millionen Euro zur Verfügung. Die Ergebnisse der Studie bekam der
Münsteraner Bischof Felix Glenn genau wie die Pressevertreter*innen
auch erst am Montag. Einen Tag zuvor sprachen die Historiker*innen
bereits mit Betroffenen über die Ergebnisse.
## Perspektive von Betroffenen zentral
Die Einbindung der Perspektiven von Betroffenen sei zentral in ihrer Arbeit
gewesen, berichteten die Historiker*innen bei der Vorstellung der
Studie. Mit über 60 Frauen und Männern haben sie intensiv über ihre
Erlebnisse gesprochen und zwölf Fallstudien, unterschieden nach Tattypen
und Jahrzehnten, herausgearbeitet, die „die Dimension des Missbrauchs zum
Tragen“ bringen.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, begrüßte das
Gutachten gegenüber der taz. Auch diese Studie zeige, dass der Staat die
Kirche mit der Aufarbeitung nicht alleine lassen dürfe und sich zudem
staatliche Strukturen auch mit der eigenen Rolle in der Vergangenheit
kritisch auseinandersetzen müssten. Die von der Studie aufgedeckten Fehler
im Umgang mit Missbrauchsfällen müssten nun auch Konsequenzen haben,
forderte Claus.
Die Betroffenen seien zu 75 Prozent männlich, zu ca. 25 Prozent weiblich
und meistens zwischen 10 und 14 Jahre alt gewesen. Von den beschuldigten
196 Klerikern sind die meisten inzwischen tot. Die Historiker*innen
konnten 58 ausmachen, die 2019 noch am Leben waren. Etwa 90 Prozent der
Beschuldigten aus der Studie blieben ohne strafrechtliche Konsequenzen.
Wie schon in den Missbrauchsstudien aus den [2][Bistümern München] oder
[3][Köln] berichten die Historiker*innen erneut von zahlreichen
Serientätern, die versetzt wurden und trotz konkreter Vorwürfe oder
Anzeigen weiterhin als Seelsorger tätig waren und weiteren Kindern und
Jugendlichen Gewalt antun konnten. Auch seien die Straftaten einiger
Pastoren vielen Leuten bekannt gewesen, etwa im Fall von Helmut Behrens,
der öffentlich als „Grabbel-Pastor“ beschrieben wurde, und in den 80er
Jahren in Neuscharrel im Landkreis Cloppenburg ein Kind sexuelle Gewalt
antat und versetzt wurde.
Im Gegensatz zu bereits vorliegenden Studien zum Missbrauch in der
katholischen Kirche, die einen juristischen Ansatz verfolgten, entschied
sich das Bistum Münster für eine historisch-wissenschaftliche Untersuchung.
Dies wird in der Studie auch damit begründet, dass „im retrospektiven
juristischen Blick (…) nur jene heute noch zur Rechenschaft gezogen werden
können, denen – etwa durch eine Unterschrift auf einem Schriftstück – eine
klare Pflichtverletzung nachgewiesen werden kann“.
Und weiter: „Jene, die zwar bei einer Besprechung kritischer Fälle anwesend
waren, sich im Hinblick auf die Weiterverwendung eines notorischen
Serientäters aber nur mündlich oder am Telefon äußern wollten, können heute
nicht mehr belangt werden. Die juristische Sichtweise wäscht die Schlauen
unter den Vertuschern geradezu weiß.“
Die Historiker*innen weisen nach den Ergebnissen klar die Schilderung
des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann zurück. Er sprach von
Einzelfällen sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster. Lettmann war hier von
1980 bis 2008 Bischof. In seine und in die Amtszeit seines Vorgängers
Heinrich Tenhumberg, der von 1969 bis zu seinem Tod 1979 im Amt war, fallen
die [4][schwerwiegenden Taten sexuellen Missbrauchs] des pädophilen
Priesters Heinz Pottbäcker, der in 43 Jahren 14-mal versetzt und zweimal
strafrechtlich verurteilt wurde, aber nie gänzlich aus der Kirchenarbeit
ausschied.
Pottbäcker wurde 1964 zum Priester geweiht und das erste Mal schon nach
einem Jahr versetzt. Schon in der Begründung stand, dass „der Kaplan oft
Kinder auf sein Zimmer holte“. Die Historiker*innen sprechen bei
Pottbäcker von einem Intensivtäter, bei dem zahlreiche Menschen von seiner
pädophilen Neigung wussten. Ihm machten es die Versetzungen möglich,
zahlreichen Kindern sexuelle Gewalt anzutun.
## „Erzwungene Lernprozesse“
Im Rahmen ihrer Studie bewertet die Forschungsgruppe um Thomas Großbölting
die Zusammenarbeit mit dem Bistum Münster als zufriedenstellend. Zu allen
wichtigen Dokumenten und Informationen sei ihnen kooperativ Zugang gegeben
worden. Auch gebe es seit einigen Jahren eine konsequentere Haltung und
Maßnahmen gegenüber Tätern. Die Fortschritte in der Aufklärung seien auf
den öffentlichen Druck und vor allem auf das Engagement von Betroffenen
zurückzuführen. „Erzwungene Lernprozesse“ nannten das die Historiker*inne…
Weniger positiv spricht die Forschungsgruppe über die Begegnungen der
kirchlichen Gremien mit Betroffenen. Die Opfer hätten von
retraumatisierenden und verletzenden Gesprächen berichtet. Sie erzählten
von schwerwiegenden Konsequenzen des Missbrauchs für ihr weiteres Leben,
etwa durch Schuldgefühle, Angststörungen und Suizidversuche.
## Kritik auch an Bischof Genn
Die meisten Betroffenen sprachen erst im Erwachsenenalter über ihre
Erfahrungen sexualisierter Gewalt im Bistum Münster. Ein Großteil der
untersuchten Meldungen ging auch erst ab 2010 ein. Doch von rund 100 Fällen
sexuellen Missbrauchs wusste das Bistum Münster schon vor 2000, so die
Historiker*innen. Von Einzelfällen zu sprechen sei aufgrund der Tatsache,
dass es in Münster kaum ein Dekanat gibt, wo es seit 1945 nicht zu
sexualisiertem Missbrauch gekommen ist, absurd.
Auch am derzeitigen Bischof Felix Genn üben die
Studienersteller*innen Kritik. Besonders zu Beginn seiner Amtszeit
habe Genn wenig Strenge gegenüber Missbrauchstätern gezeigt, wenn sie Reue
gezeigt hätten. Genn habe im Gespräch mit den Forschenden eingeräumt, in
diesen Fällen zu sehr als „Seelsorger“ gehandelt zu haben. Der Bischof, der
die Studie der Universität Münster erst am Montag erhalten hat, will sich
nach der Lektüre am Freitag in einer Pressekonferenz dazu äußern.
Im Rahmen ihrer Studie gehen die Historiker*innen auch auf systemische
Faktoren in der katholischen Kirche ein, die Missbrauch möglich machten.
„Bis in die 50er bis 70er Jahre gab es kein Bewusstsein für die Gewalt, die
Betroffenen passiert ist“, sagte Thomas Großbölting bei der Vorstellung.
Auch haben die Sexualvorstellungen in der katholischen Kirche Scham und
Schweigen in den Gemeinden hervorgebracht, was ein Klima für die Verbrechen
begünstigte.
Ein weiterer Punkt sei die „klerikale Pastoralmacht“, die Vorstellung von
Priestern als „heilige Männer“, die dazu geführt habe, dass der Schutz der
Institution wichtiger genommen wurde als die Unversehrtheit von Kindern und
Jugendlichen. Das führte auch zur Vertuschung von Taten durch Laien.
Mit [5][ihrer Studie] können die Historiker*innen flächendeckende
Missbrauchsfälle im Bistum Münster und jahrzehntelanges Versagen in der
Leitung aufzeigen. Doch wo ihre Arbeit beendet sei, müsse etwas in der
Kirche und in der Gesellschaft beginnen: Ihre Ergebnisse sollten Impuls
sein für weitere und konsequente Aufarbeitung, so Großbölting.
Zum Bistum Münster in Nordrhein-Westfalen zählt auch ein Teil des
Oldenburger Landes in Niedersachsen. Hier leben in rund 40 Pfarreien rund
265.000 Katholik*innen.
13 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/wwu/journalisten/macht_und_s…
[2] /Missbrauch-in-der-katholischen-Kirche/!5829198
[3] /Gutachten-zu-Missbrauchsfaellen-in-Koeln/!5755032
[4] /Sexuelle-Gewalt-in-der-Kirche/!5577880
[5] http://xn--der%20Alle-gegen-die-AfD-Effekt,-b28rgb
## AUTOREN
Linda Gerner
## TAGS
sexueller Missbrauch
Katholische Kirche
Münster
Historiker
Katholische Kirche
Kirchentag 2025
sexueller Missbrauch
Katholische Kirche
Katholische Priester
Drittes Reich
## ARTIKEL ZUM THEMA
Deutsche Bischofskonferenz: Rufe nach Reformen werden lauter
Der Limburger Bischof Georg Bätzing will die Forderungen des synodalen Wegs
ernst nehmen. Initiativen verlangen schnellere Veränderungen.
Missbrauch im Bistum Münster: „Menschlich und moralisch versagt“
Vier Tage nach Veröffentlichung einer Missbrauchsstudie äußert sich
Münsters Bischof Genn. Er gesteht Fehler ein, lehnt einen Rücktritt aber
ab.
Missbrauchsstudie im Bistum Münster: Die schuldigen Hirten
Die wissenschaftliche Untersuchung zum Bistum Münster setzt neue Maßstäbe:
Die vom Klerus konstruierte Angst vor Sexualität wirkt sich verheerend aus.
Mitgliederschwund bei den Kirchen: Dem Untergang geweiht
Erstmals seit Jahrhunderten sind weniger als die Hälfte der Menschen in
Deutschland Kirchenmitglied. Ist das der Beginn von etwas Neuem?
Priester über Segnungsaktion: „Die Kirche hinkt hinterher“
Die Segnungsaktion #liebegewinnt hat unter katholischen Geistlichen für
Ärger gesorgt. Priester Wolfgang Rothe sieht die Mächtigen an ihre Grenzen
stoßen.
Historiker über Kirche in der NS-Zeit: „Da lief vieles zusammen“
Thomas Großbölting, Chef von Hamburgs Forschungsstelle für Zeitgeschichte,
erforscht die NS-Zeit, die Rolle der Kirchen und Repression in der DDR.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.