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# taz.de -- Mitgliederschwund bei den Kirchen: Dem Untergang geweiht
> Erstmals seit Jahrhunderten sind weniger als die Hälfte der Menschen in
> Deutschland Kirchenmitglied. Ist das der Beginn von etwas Neuem?
Bild: Den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon – doch der große Sinneswandel…
Die Osternacht beginnt in katholischen und evangelischen Gemeinden mit dem
Exsultet. „Freue dich, Mutter Kirche“, heißt es in dem Hymnus aus dem
vierten Jahrhundert, „umkleidet von Licht und herrlichem Glanze!“ Doch
Grund zur Freude gibt es gerade nicht für die Kirche. Auch von herrlichem
Glanz ist kein Schimmer zu sehen.
Vergangene Woche wurde bekannt, dass der Missbrauchsbeauftragte der
Deutschen Bischofskonferenz, [1][Stephan Ackermann], vor rund 40
Mitarbeiter*innen bewusst den Klarnamen einer betroffenen Angestellten
seines Bistums genannt hat. Dabei fürchten Betroffene sexualisierter Gewalt
oft die Öffentlichkeit. Aus Angst vor der Reaktion der Kolleg*innen, vor
Anfeindungen.
Ackermann hat eine Unterlassungserklärung abgegeben und sich bei der Person
entschuldigt. Doch dass nicht einmal der Experte unter den deutschen
Bischöfen – zwölf Jahre ist Ackermann schon beauftragt – angemessen mit d…
Opfern der Kirche umzugehen weiß, spricht Bände.
## So viele Gründe für den Austritt
Die [2][sexualisierte Gewalt in der katholischen] und [3][der evangelischen
Kirche], die [4][Versäumnisse bei ihrer Aufarbeitung]. [5][Queer- und
frauenfeindliche Strukturen]. [6][Fehlende Antworten auf Klima],
[7][Corona] und Krieg. Das Steuergeld, das andernorts vielleicht besser
aufgehoben ist. Das alles sind gute Gründe, um nach Ostern aus der Kirche
auszutreten – wenn man denn überhaupt (noch) Mitglied ist und einen der
begehrten Austrittstermine ergattert.
Mutter Kirche kann es nicht erfreuen, was diese Woche ausgehend von
kirchlichen Angaben hochgerechnet wurde: Erstmals seit Jahrhunderten sind
[8][mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland weder
römisch-katholisch noch evangelisch]. Im vergangenen Jahr waren es noch 51
Prozent, im Jahr 1990 lag der Anteil bei 72 Prozent.
Für den Sozialwissenschaftler Carsten Frerk ist klar: „Es ist eine
historische Zäsur“. Die Abwärtsbewegung habe sich in den vergangenen sechs
Jahren stärker beschleunigt als zuvor angenommen. Frerk koordiniert die
[9][Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland], die von der
humanistisch-religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen
wurde.
Jene aber, die jetzt freudig das Ende des Christentums nahen sehen, sollten
genau hinschauen. Denn es leben auch um die zwei Millionen orthodoxe
Christen in Deutschland. Und längst nicht alle wenden sich von den
„Volkskirchen“ ab, um säkular durchs Leben zu gehen.
[10][Freie Kirchen mit ergreifendem Sound und knackig-rigider Moral]
empfangen gern alle, denen die „Normalkirchen“ zu lau sind. Beispiel: das
Gospel Forum in Stuttgart. Die Wandlung der „Volkskirchen“ zur Minderheit,
das Wachstum radikal-christlicher Start-ups, die im Ganzen pluralisierte
religiöse Landschaft in Deutschlands und eine konfessionslose
Bevölkerungsgruppe von 40 Prozent, sie verlangen nach Entscheidungen.
## Keine Privilegien, aber bitte keine Symbolverbote
Die politischen Entscheidungen sollten dabei nicht dem „französischen“
Laizismus folgen. Staatliche Neutralität beispielsweise lässt sich nicht
durch ausgrenzende Symbolverbote herstellen. Nicht bei Lehrer*innen, nicht
bei Richter*innen. Religiöse wie andere Motivationen auch sollten – nicht
nur – in der Ausbildung von Staatsdiener*innen artikuliert und in
Hinblick auf die berufliche Rolle reflektiert werden können.
Auch für den American Way – religiöse Gemeinschaften einfach ihr Ding
machen lassen – sollte sich die Gesamtgesellschaft nicht entscheiden. Es
braucht allgemeines Wissen darüber, welche Gruppen mit welchen Motiven
agieren. Es braucht Debatten darüber, wie religiöse Traditionen und Texte
zu deuten sind, persönlich und in Bezug auf das Gemeinwesen.
All dies sollte unter anderem an den Hochschulen stattfinden. Dort
allerdings, wie an vielen Stellen, müssen zunächst die kirchlichen
Privilegien abgebaut werden.
Die Vielzahl und Ausstattung der theologischen Fakultäten an staatlichen
Unis gründet heute nicht mehr auf den Studierendenzahlen, sondern nur noch
auf dem Reichskonkordat von 1933. Die katholischen und evangelischen
Fakultäten sollten in Zukunft nach Synergien schauen und frei gewordene
Ressourcen abgeben, damit auch die anderen Religionsgemeinschaften in
Deutschland an den Universitäten öffentliches Wissen produzieren und ihre
Glaubensbestände kritisch reflektieren können.
Die katholischen Bischöfe wiederum sollten ihren Einfluss zumindest an den
staatlichen Unis abgeben. Denn: noch immer entscheiden sie mit, wenn ein
katholisch-theologischer Lehrstuhl besetzt wird. Kriterium ist dabei, ob
die vorgeschlagene Person kirchenkonform lehrt und lebt. Offen queeren
Theolog*innen oder Geschiedenen kann die Lehrerlaubnis nicht gewährt
oder auch wieder entzogen werden. Das stellt nicht nur ein Problem für die
Wissenschaftsfreiheit dar, sondern auch ein arbeitsrechtliches.
## Es geht auch anders
„Es darf im kirchlichen Arbeitsrecht keine Sanktionen mehr geben, die wegen
der sexuellen Orientierung oder dem Familienstand von Mitarbeitenden
ergriffen werden.“ So hieß es im Februar einsichtig vom Bistum Münster. Die
anderen Diözesen täten gut daran, zu folgen.
Zur Erinnerung, wie weit das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen noch geht:
2014 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass ein katholisches
Krankenhaus in Düsseldorf seinem Chefarzt kündigen durfte, weil er nach
einer Scheidung zum zweiten Mal geheiratet hatte.
Auch mit den Reparationszahlungen muss jetzt Schluss sein. Mehr als 200
Jahre sind vergangen, seit der Staat in der Säkularisation kirchlichen
Besitz enteignet hat. Ausgleich wird bis heute bezahlt, zuletzt 590
Millionen. In manchen Bistümern macht der staatliche Zuschuss fast ein
Drittel des Budgets aus. Doch wie soll es ohne solches Geld mit den
katholischen und evangelischen Gemeinden überhaupt weitergehen?
Vielleicht so ähnlich wie in Duisburg-Serm. Dort waren die
Katholik*innen nicht damit einverstanden, dass ihre Dorfkirche aus
Schrumpfungsgründen geschlossen wird, und betreiben sie jetzt selbst – als
Förderverein. Ziele: Jugendarbeit, Ökumene, Entwicklung der
Dorfgemeinschaft. Nichtkatholik*innen herzlich willkommen. Manchmal
laden sich die Sermer*innen auch einen Priester oder eine Theologin
von der Universität ein – weil sie Freude daran haben.
15 Apr 2022
## LINKS
[1] /Gendersprache-in-der-katholischen-Kirche/!5822020
[2] /Sexualisierte-Gewalt-in-der-Kirche/!5839622
[3] /Sexualisierte-Gewalt-in-der-Kirche/!5811639
[4] /Missbrauch-in-der-katholischen-Kirche/!5827347
[5] /Offener-Brief-nach-Outinchurch/!5835764
[6] /Klimaschaedliche-Kirchen-Dienstwagen/!5812533
[7] /Corona-und-die-katholische-Kirche/!5824218
[8] /Zahl-der-Kirchenmitglieder-nimmt-ab/!5845317
[9] https://fowid.de/
[10] /Evangelikale-Glaubensformen/!5752772
## AUTOREN
Stefan Hunglinger
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