Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Missbrauch in der katholischen Kirche: Die Omertà des Klerus
> Matthias Katschs Autobiografie blickt auf die Aufdeckung des Missbrauchs
> am Canisius-Kolleg zurück. Der Autor beschreibt ein mafia-ähnliches
> System.
Bild: In seinem Buch zeichnet Katsch die dunkelsten Seiten des Canisius-Kollegs…
Rückblickend betrachtet, habe er einfach Pech gehabt – zur falschen Zeit am
falschen Ort, stellt Matthias Katsch fest. Nur seines besten Freundes wegen
landete er 1973 am Canisius-Kolleg, dem vom Jesuitenorden betriebenen
Privatgymnasium am Berliner Tiergarten. Dort hielten sich Lehrer- und
Schülerschaft für etwas ganz Besonderes: Man war eine
katholisch-altsprachliche Bastion im sozialdemokratischen Westberlin, eine
verschworene Gemeinschaft, untergebracht in der ehemaligen
Firmenrepräsentanz des Krupp-Konzerns – das „letzte Kolleg vor Moskau“.
Teil dieser Gemeinschaft war das nachmittägliche Gruppenangebot im
Nebengebäude. Der geistliche Leiter, Pater R., bestellte die Fünftklässler
einzeln zum Beichtunterricht ein. Stets lenkte er das Gespräch auf Sex,
forderte intime Bekenntnisse zu Masturbationsverhalten und -fantasien der
Schüler. Sein Angebot: Onanieren unter kundiger geistlicher Aufsicht – er,
der Pater, werde anleiten und sich dann um die Absolution kümmern.
Matthias Katsch war 13, als er in die Fänge von Pater R. geriet. Und obwohl
er sich entziehen konnte, bevor der Mann Hand anlegte, wie bei vielen
anderen Schülern vor und nach ihm, lebt Katsch bis heute mit den Folgen.
Denn als er, verwirrt vom psychischen und geistlichen Missbrauch, in der
Schule strauchelte, vertraute man ihn dem Pater S. an. Dieser kriege, so
hieß es, auch schwierige Fälle wieder hin. Allerdings verlangte er dafür
einen Preis – er lebte einen sexualisierten Prügelfetischismus an seinen
Schützlingen aus.
Katsch beschreibt, wie er nach der Gewaltorgie, die der Musiklehrer am
Klavier begleitete, vom Pater persönlich nach Hause gefahren wurde. Während
der Täter mit den Eltern plauderte, zog sich sein Opfer im Badezimmer die
blutigen Unterhosen aus – und erzählte den Eltern nichts davon. Pater S.
wurde später versetzt, trotzdem hielt er Kontakt zu dem Jungen, schrieb ihm
Briefe. „Ich konnte nicht Nein sagen, war wie gefangen in dem Netz aus
falschem Freundschaftsversprechen, schlechtem Gewissen, Scham und
Enttäuschung, das der Pater kunstvoll gewebt hatte“, schreibt Katsch in
seinem Buch „Damit es aufhört“. Die Versuche, die Tat im Musiksaal zu
wiederholen, hat er abwehren können.
Dass Katsch so ins Detail geht, mag manche LeserInnen verstören. Doch sein
direkter Fokus ist die große Stärke dieses Buchs, das weit mehr ist als ein
Betroffenenbericht. Matthias Katsch hat das Opfersein hinter sich gelassen.
Aus dem beschämten Kind wurde ein zorniger Mann, der als Mitgründer des
„Eckigen Tischs“ mit kirchlichen Missbrauchsbetroffenen aus aller Welt
vernetzt ist. Katsch hat den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu seiner
Lebensaufgabe gemacht. Er war einer der Betroffenen, die 2010 die
Aufdeckung der [1][Fälle am Canisius-Kolleg] ins Rollen brachten, indem sie
sich an den damaligen Schulleiter Klaus Mertes wandten. Als die Betroffenen
die Presse einschalteten, folgte ein nationaler Aufschrei der Empörung und
eine Reihe von Enthüllungen in anderen Institutionen, vom Kloster Ettal bis
zur reformpädagogischen Odenwaldschule, von den Wandervögeln bis zum
Kinderschutzbund.
„Damit es aufhört“ rekonstruiert diesen Urknall der Aufklärung und
versucht, Muster und Strukturen des gesellschaftlichen Sprechens über
sexuelle Gewalt herauszuarbeiten. Katsch beschreibt seinen eigenen
Fluchtmechanismus: riskantes Trinkverhalten, depressive Episoden, ein
ziellos mäanderndes Privat- und Berufsleben. Ebenso ausführlich beschreibt
er das Fluchtverhalten der Täter, die sich nach Chile absetzten (und dort
weiter Übergriffe begingen) – und die völlige Verweigerung der
Verantwortung durch den Jesuitenorden und [2][die katholische Kirche].
„Welche andere Institution schützt ihre Täter, indem sie noch nach
Jahrzehnten die Akten, die Auskunft über die Verbrechen geben könnten, in
einem exterritorialen Gebiet sicher vor jeder Einsichtnahme aufbewahrt?“
und vergleicht das gegenseitige Loyalitätsversprechen zwischen Bischof und
Priester mit der Omertà der Mafia.
Er zeichnet das David-gegen Goliath-artige Setting nach, in dem die
Betroffenen in Gremien wie dem runden Tisch und in der Öffentlichkeit
ehrenamtlich und bis zur Erschöpfung versuchten, ihre Ansprüche auf
Entschädigung und Aufarbeitung gegenüber der Kirche durchzusetzen – und
verloren. „Wir hatten 2010 die Dimension des Problems grandios
unterschätzt“, stellt Katsch rückblickend fest. „Nicht nur die Bischöfe
ließen uns abtropfen. Öffentlichkeit und Politik waren letztlich auch nicht
bereit, Partei zu ergreifen.“
Katsch erzählt aber nicht nur vom Scheitern, sondern auch von
Selbstermächtigung: von einem Demonstrationszug von 150 Betroffenen, die
mitten durch Rom laufen und ihre Wut und ihre Forderungen herausschreien –
obwohl der im inneren Zirkel des Vatikans tagende „Missbrauchsgipfel“ ihren
Auftritt gern verhindert hätte. Er erzählt von seinem Termin im
Hauptquartier der UN, wo man ihn als Menschenrechtsaktivisten wahrnimmt und
nicht als Bittsteller. Am Ende bleibt der dringende Wunsch, das Verhältnis
von Kirche und Staat auf den Prüfstand zu stellen: Flächendeckende
Akteneinsicht in kirchliche Personalunterlagen, eine staatliche Kontrolle
von Schulen und Heimen in kirchlicher Trägerschaft – und nicht zuletzt die
Forderung nach einer [3][Reform der kirchlichen Sexualmoral], die das
Decken von Missbrauchstätern ermöglicht.
20 Feb 2020
## LINKS
[1] /Zehn-Jahre-nach-Missbrauchskandal/!5657062
[2] /Aufhebung-des-paepstlichen-Geheimnisses/!5641863
[3] /Reformbestrebungen-in-der-Kirche/!5657748
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Katholische Kirche
Kindesmissbrauch
Canisius-Kolleg
Vatikan
Kirchentag 2025
sexueller Missbrauch
Drittes Reich
Schwerpunkt Coronavirus
Katholische Kirche
Katholische Kirche
Missbrauchsbeauftragter
Papst Franziskus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Psychologe hat Erwartungen an Leo XIV.: „Die Struktur muss sich ändern“
Psychologe Hans Zollner kämpft für die Prävention von sexualisierter
Gewalt. Er fordert einen Umbau der päpstlichen Kommission zum Schutz von
Minderjährigen.
Interview mit Jesuitenpater Klaus Mertes: „Männlich geprägte Loyalitätskar…
Pater Klaus Mertes im Gespräch. Über die Folgen des Missbrauchsskandals,
Sexualität und warum die katholische Kirche ein Global Player bleibt.
Betroffener über Missbrauchsprävention: „Die Kirche hat Angst“
Der Betroffenenbeirat der evangelischen Kirche zur Missbrauchsaufarbeitung
ist gescheitert. Mitglied Henning Stein zweifelt am echten
Aufklärungswillen der EKD.
Historiker über Kirche in der NS-Zeit: „Da lief vieles zusammen“
Thomas Großbölting, Chef von Hamburgs Forschungsstelle für Zeitgeschichte,
erforscht die NS-Zeit, die Rolle der Kirchen und Repression in der DDR.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Das hört nicht einfach auf
Missbrauch ist ein Massenphänomen. Einen Anlass für mehr Prävention bieten
die Ausgangsbeschränkungen.
Neue Missbrauchsvorwürfe in Bayern: Kirche nur schwer erziehbar
Prostitution im katholischen Jugendheim? Ein Gerichtsprozess hat Vorwürfe
gegen ein früheres Erziehungsheim bei München ans Tageslicht gebracht.
Reformbestrebungen in der Kirche: Auch Katholiken haben eine APO
Auf der Synodalversammlung kämpften feministische Katholikinnen,
Transmenschen und Missbrauchsopfer um Inklusion und Entschädigung.
Zehn Jahre nach Missbrauchskandal: Kritische Bilanz
Keine klaren Ziele oder verbindlichen Maßnahmen: Der Beauftragte der
Bundesregierung für Missbrauchsfragen mahnt ein entschiedeneres Vorgehen
an.
Katholische Kirche und Kindesmissbrauch: Nichts soll mehr vertuscht werden
Papst Franziskus schafft das „pontifikale Geheimnis“ ab. Damit wurden
Missbrauchsvorwürfe bislang vertraulich behandelt und Täter geschützt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.