# taz.de -- Mit dem Rad um die Ostsee: Das Meer in unserer Mitte | |
> Unser Autor ist auf dem Rad um die gesamte Ostsee gefahren, zwölf Etappen | |
> in zwanzig Jahren. Die Reise hat auch seine Vorstellung von Europa | |
> verändert. | |
Bild: An der Ostseeküste in Schleswig-Holstein, 2015 | |
Und plötzlich stand im Osten Estlands vor der russischen Grenze die Frage | |
im Raum: „Was wollt ihr dort?“ Ein Bauarbeiter hat uns das gefragt auf | |
einem halb verlassenen Industriegelände. Ungläubig schaute er auf unsere | |
Räder, vorne und hinten bepackt mit Fahrradtaschen, dazu auf dem | |
Gepäckträger Zelt und Schlafsäcke in wasserdichten Packsäcken. „Ihr wollt | |
also wirklich nach Russland?“ Als wir nickten, fügte er kopfschüttelnd | |
hinzu: „Wenn ihr die Erfahrung unbedingt machen müsst.“ | |
Dass wir mit der Strecke Tallinn–Petersburg–Wyborg–Helsinki 2008 eine | |
besondere Etappe unserer Ostseeumrundung auf Rädern vor uns hatten, war uns | |
bewusst. Allein die Strecke nach Sankt Petersburg würde uns einiges | |
abverlangen. Weil die Küstenstraße bei Sosnowy Bor wegen des Atomkraftwerks | |
„Leningrad“ für Ausländer gesperrt war, mussten wir auf die stark befahre… | |
E20 ausweichen, die in Russland M11 heißt. | |
Was wir noch nicht wussten: Der Seitenstreifen war nicht nur winzig schmal, | |
sondern auch zerfahren und bröckelig, und die Lkws dachten überhaupt nicht | |
daran, beim Überholen in die Mitte der Straße zu ziehen oder zu bremsen. | |
Ein bisschen Himmelfahrtskommando also, aber schummeln wollten wir nicht. | |
Wenn schon mit dem Fahrrad um die ganze Ostsee, dann richtig. Den | |
Finnischen Meerbusen zwischen Estland und Finnland umrunden, den | |
Bottnischen Meerbusen zwischen Finnland und Schweden ebenso, nur | |
zwischendurch, auf den Åland-Inseln zum Beispiel oder den Schären vor | |
Turku, würden wir beim Inselhopping etwas verschnaufen. | |
Und irgendwann, nach fast 10.000 Kilometern, würden wir sagen können: Wir | |
haben es geschafft. Tour de Baltic, 12 Etappen durch 9 Länder in 20 Jahren. | |
Eine Zeitreise durch den Norden und Osten Europas, der so lange durch den | |
Eisernen Vorhang getrennt war. Und, das auch, ein Lebensprojekt. Uns wurde | |
das erst klar, als uns Freunde scherzhaft fragten: Und welches Meer macht | |
ihr als nächstes? | |
Gestartet waren meine Frau und ich im Mai 2000. Damals gab es noch eine | |
Direktverbindung mit dem Interregio „Mare Balticum“ von Berlin ins | |
polnische Gdingen. Also nichts wie rein in den Zug mit den Rädern und die | |
polnische Ostseeküste über Stettin nach Deutschland zurückradeln. Noch | |
wussten wir nicht, dass die 750 Kilometer damals die erste Etappe einer | |
Europareise auf Rädern sein würden, eher war es ein zielloses, zartes | |
Herantasten. Aber schon nach unserer Rückkehr war uns klar, wir wollen | |
mehr. Mehr von diesem Meer, das uns in Polen immer wieder hinter den Dünen | |
begrüßt und einen breiten Sandstrandteppich vor uns ausgerollt hatte. | |
Bis dahin war die Ostsee für uns das Meer, an das wir von Berlin aus | |
fuhren, wenn wir Meeresluft schnuppern wollten. Auf Usedom meistens, mal | |
auf Rügen, seltener in Rerik oder Boltenhagen. Und nun hatten wir in | |
Gdingen Fähren gesehen, die fuhren nach Stockholm und Helsinki. Gdingen, | |
polnisch Gdynia, das Tor des Landes zur Welt. Für uns war es ein Tor zur | |
Ostsee, das unsere Fantasie beflügelte und uns von anderen Ostseestädten | |
träumen ließ: Sankt Petersburg, Helsinki und Stockholm. | |
Bald haben wir Karten gekauft, Routen eingezeichnet, Blogs über den | |
europäischen Radfernweg EuroVelo 10 studiert. Eine unbändige Reiselust | |
hatte uns erfasst, ein ganzes Meer würden wir mit der Umrundung in unsere | |
Mitte nehmen, alte Hansestädte neu entdecken, weiße Nächte erleben, an | |
Orten sein, von denen aus sich in die Vergangenheit und in die Zukunft | |
denken ließe. Es war, als erwache da ein Traum, zum Greifen nahe, auch wenn | |
sein Ende 10.000 Kilometer entfernt war. Was würden wir auf dieser Reise | |
alles erleben? Wie würde sich unser Bild von dem Meer verändern? Gab es | |
etwas, was die Ostsee, nun, da acht ihrer neun Anrainer zur Europäischen | |
Union gehörten, zusammenhält? Die Landschaft vielleicht, die Küche, eine | |
neue gemeinsame Ostseeerzählung? | |
Und dann standen wir, acht Jahre später, vor der estnisch-russischen | |
Grenze. Einem neuen Eisernen Vorhang in Europa, dem zwischen der EU und der | |
Russischen Föderation. Natürlich war ich nervös. Noch nie zuvor war ich in | |
Russland gewesen. Warum hatte uns der Bauarbeiter gewarnt? Auch viele | |
unserer Freunde wollten nicht glauben, dass wir mit dem Fahrrad nach Sankt | |
Petersburg fahren. | |
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne. Alles klappte: Die Visa waren in | |
Ordnung, nach zwei Stunden Warten hatten wir die europäische Außengrenze | |
überquert. Abends im Hotel, einem Plattenbau am Ufer der Luga, wurde eine | |
Hochzeit gefeiert; wir bekamen trotz fortgeschrittener Stunde noch zu essen | |
und zu trinken. Nicht einmal die Musik aus dem Tanzsaal drang auf unser | |
Zimmer. Wir hatten die EU hinter uns gelassen und waren in Russland. Nun | |
gab es kein Zurück mehr. | |
## Warum eigentlich Ostsee? | |
Natürlich hätten wir auch [1][am Mittelmeer] radeln können, vom | |
andalusischen Tarifa aus entlang der spanischen und französischen Küste, | |
den italienischen Stiefel runter und rauf, die Adria hinab bis Albanien und | |
Griechenland und weiter dann bis ans Ende der türkischen Riviera, kurz vor | |
der syrischen Küste. Weiter wären wir wegen des Bürgerkriegs ohnehin nicht | |
gekommen. Wir hätten dann ebenso viele Kilometer in den Beinen gehabt, | |
wären am Ende aber nur am Rand geblieben, am Nordrand eines Meeres, das | |
sich von seinem Süden mehr und mehr abschottet. Um die Ostsee herum würden | |
wir alle Seiten zu Gesicht bekommen, das Meer als Ganzes – als Mare | |
Nostrum Europas. | |
Aber welches Europa ist damit gemeint? Solche Fragen haben sich uns schon | |
früh gestellt. Auch die nach dem Namen. Ostsee. Warum machen wir uns die | |
deutsche Bezeichnung zu eigen, obwohl es außerhalb des deutschen, dänischen | |
und schwedischen Sprachraums überall Baltisches Meer genannt wird und in | |
Estland sogar Westsee? Ostsee, das scheint ganz nach dem Geschmack derer, | |
die wissen, wo die Mitte ist und damit auch der Rand. Dabei bringt das | |
Baltische Meer seit dem Fall der Mauer in Berlin und der Unabhängigkeit von | |
Estland, Lettland und Litauen ganz neue Maßstäbe von Distanz und Nähe | |
hervor. Von seiner imaginären Mitte aus betrachtet, ist es nach Stockholm | |
genauso weit wie nach Riga oder Rostock. Von wegen Ostsee. | |
Oder etwa doch? Schwingt da nicht immer noch dieser fremde, nicht ganz | |
geheure, vielleicht auch gefährliche Osten mit bei dieser Ost-See? Mag | |
sein, dass sich die Westdeutschen inzwischen auch an der ostdeutschen | |
Ostsee wohlfühlen, aber schon in Polen machen sich die Deutschen rar. Wir | |
haben es gemerkt, als wir bei unserer ersten Etappe im Jahr 2000 fast | |
allein auf Rädern zwischen Gdingen und Stettin unterwegs waren. Der | |
Deutschen liebste Reiseziele waren bis zur Coronapandemie noch immer | |
Spanien und Italien, die Türkei, Österreich und Griechenland, dann | |
Frankreich und Kroatien. Polen landete in der Erhebung des Deutschen | |
Reiseverbandes auf Platz acht, die baltischen Staaten schafften es gar | |
nicht erst in die Top Ten. | |
Noch mauer sieht es mit Russland aus. Nur knapp 500.000 Deutsche besuchten | |
2019 die Russische Föderation. Nach Spanien zog es nach Angaben des | |
Auswärtigen Amtes dagegen 11,3 Millionen Urlauberinnen und Urlauber aus | |
Deutschland. In Deutschland selbst war die Ostseeküste in | |
Mecklenburg-Vorpommern das beliebteste Reiseziel. Deutsche Ostsee, fremde | |
Ostsee: Zumindest touristisch scheint sie immer noch ein geteiltes Meer zu | |
sein. | |
## Sehnsucht nach Wyborg | |
Wer verstehen will, wie fragil es um das „unser“ im Mare Nostrum Europas | |
steht, muss ins russische Wyborg. Es waren finnische Touristen, die uns auf | |
der Fahrt von Sankt Petersburg nach Helsinki auf die Besonderheit der Stadt | |
aufmerksam machten. In Scharen strömten sie durch die Straßen der Altstadt | |
oder das, was davon übrig geblieben ist. Sie fotografierten die | |
abgeblätterte Farbe der Holzhäuser, freuten sich, wenn an einem russischen | |
Магазин auch der finnische Name für Laden, kauppa, stand. | |
Wyborg, auf Finnisch Viipuri, die Hauptstadt des waldreichen Karelien und | |
bis 1940 mit 85.000 Einwohnern Finnlands zweitgrößte Stadt, ist für die | |
Reisenden aus Finnland ein Sehnsuchtsort. Und ein Ort des Verlustes. | |
Nachdem Viipuri im Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion fiel, mussten | |
450.000 Finninnen und Finnen, damals ein Zehntel der finnischen | |
Bevölkerung, den Ostteil Kareliens verlassen. Mit welchem Trauma der | |
Verlust von Viipuri für die Finnen bis heute verbunden ist, zeigt ein 24 | |
Quadratmeter großes Stadtmodell der noch unzerstörten Stadt in Lappeenranta | |
im finnischen Westteil Kareliens. | |
Als ich die finnischen Touristen mit ihren suchenden Blicken durch Wyborg | |
gehen sah, fragte ich mich, ob es der gleiche Phantomschmerz war, den wir | |
bei den deutschen Heimwehtouristen in Kaliningrad beobachtet hatten. Die | |
einen suchen Viipuri, die anderen Königsberg, und beide suchen vergeblich. | |
So schärfte uns die Ostseeumrundung auch den Blick für verschiedene | |
Erfahrungen von Verlust, aber auch Vernichtung. In Danzig haben wir | |
gesehen, wie die Deutschen 1939 Vernichtung und Tod über Polen gebracht | |
haben. Im Okkupationsmuseum in Riga wurden wir mit den Deportationen von | |
Lettinnen und Letten nach Sibirien konfrontiert und auf den Straßen der | |
Stadt mit dem Gefühl der russischen Minderheit, nach der Unabhängigkeit zu | |
Bürgern zweiter Klasse gemacht worden zu sein. In Sankt Petersburg wurden | |
wir gefragt, ob die Blockade und das Aushungern der Stadt im Zweiten | |
Weltkrieg im deutschen Erinnern überhaupt eine Rolle spielt. In Karelien | |
sahen wir, wie die Finnen mit dem Bau eines Stadtmodells ihren Verlust zu | |
bewältigen versuchen. Wer um die Ostsee fährt, reist durch ein | |
traumatisiertes Europa. | |
Und nicht immer heilt die Zeit die Wunden. Wyborg ist auch die Stadt, von | |
der die Ostseepipeline Nord Stream von Russland nach Deutschland führt. In | |
Deutschland heißt es, die Pipeline diene der Sicherung der | |
Energieversorgung. In Polen, Lettland, Litauen, Estland und Finnland wird | |
sie dagegen als eine Gefährdung der europäischen Sicherheit kritisiert. | |
Dort und auch in Brüssel setzt man weniger auf russisches Gas als auf eine | |
Diversifizierung der Energieversorgung. Das Misstrauen gegen Russland ist | |
in diesen Ländern nach den Erfahrungen der Vergangenheit weiterhin groß. | |
Der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski hatte den | |
Pipelinevertrag zwei Jahre vor unserer Ankunft in Wyborg sogar mit dem | |
Hitler-Stalin-Pakt verglichen. | |
## Tervetuloa, Helsinki! | |
Tervetuloa, Helsinki – willkommen, Helsinki! Nicht ganz freiwillig wurde | |
die finnische Hauptstadt für uns zur Drehscheibe unserer Lebensreise und | |
damit zu unserer heimlichen Ostseehauptstadt. Denn ohne Helsinki und seinen | |
Hafen hätten wir die Ostsee nicht mit eigenen Rädern umrunden können. | |
Bei fünf der zwölf Etappen kamen wir mit der Fähre von Rostock-Seehafen und | |
später von Lübeck-Travemünde frühmorgens in der finnischen Hauptstadt an. | |
Selbst die Tour vom nordschwedischen Umeå nach Stockholm mussten wir 2017 | |
in Helsinki beginnen, denn im Greta-Vorzeigeland Schweden transportiert die | |
Staatsbahn keine Fahrräder. Also ging es mit dem Zug von Berlin nach Lübeck | |
und von dort nach Travemünde, rauf aufs Schiff am Abend und am übernächsten | |
Morgen Ankunft in Helsinki, dann mit dem Zug nach Vaasa und mit der Fähre | |
über die Meerenge des Kvarken nach Umeå. Vier Tage Anreise für eine nicht | |
einmal dreiwöchige Tour. Auf dem Rückweg nahmen wir dann von Stockholm den | |
Flieger, der war nicht nur schneller, sondern auch viel günstiger. | |
Als wir Helsinki 2008 auf der Etappe über Sankt Petersburg und Wyborg | |
erreichten, haben wir kaum glauben können, wie fahrradfreundlich ein Land | |
sein kann. Außerhalb der finnischen Städte und Ortschaften verlaufen die | |
straßenbegleitenden Radwege kreuzungsfrei, das heißt durch beleuchtete | |
Unterführungen. Vielleicht ist es aber nicht nur die Liebe zum Rad, die | |
Finnland keine Kosten und Mühen scheuen lässt. Auch zahlreiche Langläufer | |
sind, im Sommer mit Rollen unter den Brettern, auf den breiten Radwegen | |
unterwegs. Kommt eine Unterführung, gehen sie kurz in die Hocke und fahren | |
Schuss, danach geht es im Scherenschritt die Steigung wieder hoch. Ach, | |
wäre Langlauf doch auch in Deutschland ein Nationalsport. | |
Wenn es einmal keine Unterführung gibt, sind die Autos besonders | |
vorsichtig. Nie werden wir vergessen, wie ein Autofahrer an einer Kreuzung | |
wartete, bis wir an ihm vorbei waren. Erst dann bog er rechts ab. Dabei | |
waren wir, als er hielt, noch 100 Meter von der Kreuzung entfernt. | |
Tervetuloa, Helsinki! „Man muss es dem Zarentum lassen, dass es alles mit | |
Glanz und Größe zu umgeben weiß“: Helsinki begeisterte nicht nur uns, | |
sondern schon 1890 den Reiseschriftsteller Alexander Baumgartner. Der | |
Schweizer hatte auch Sankt Petersburg besucht, und natürlich waren ihm die | |
Ähnlichkeiten der beiden Städte ins Auge gesprungen. Beide waren auf dem | |
Reißbrett entstanden, Planstädte aus einem Guss, nur dass Glanz und Größe | |
Helsinkis 100 Jahre jünger waren als die des 1703 gegründeten Petersburg, | |
mit dem das Zarenreich sein Fenster nach Westen geöffnet hatte. | |
Wohl auch, um seinen Einflussbereich besser im Blick haben zu können. Als | |
Finnland noch unter schwedischer Herrschaft war, war Åbo, heute Turku, | |
seine Hauptstadt. Nach der Niederlage Schwedens gegen Russland im Großen | |
Nordischen Krieg gründete das Zarenreich das von ihm abhängige | |
Großfürstentum Finnland und verlegte die Hauptstadt 1812 kurzerhand in das | |
bis dahin unbedeutende Helsinki. Sein Glanz, der seitdem die Reisenden | |
beeindruckt, ist also vor allem eine Machtdemonstration. | |
Tervetuloa, Helsinki! Jedes Mal, wenn wir durch Helsinki radelten, sahen | |
wir die Stadt anders. Heute würde ich sagen, die kleine Schwester von Sankt | |
Petersburg hat ihren eigenen Weg gefunden. Ihre Abhängigkeiten hat sie | |
abgeschüttelt. Helsinki ist ganz bei sich. Und hat uns für sich gewonnen. | |
Ohne Fahrrad werden wir vielleicht im Winter einmal wiederkommen. Und dann | |
wieder ein ganz anderes Helsinki entdecken. | |
## Gibt es eine Ostseeküche? | |
Auf unserer Etappe 2010 tauchte in Turku wieder der Gedanke an das | |
Mittelmeer auf. Mit einem Duft hat er sich angeschlichen, der drang kurz in | |
die Nase, trollte sich wieder, kam ein zweites Mal. Ich war mir sicher, | |
obwohl es eigentlich nicht möglich war. An der Rezeption des Campingplatzes | |
von Turku duftete es nach frischem Espresso. | |
Die junge Frau an der Rezeption lächelte, als sie meinen fragenden Blick | |
bemerkte. So viel es in Finnland auch zu entdecken gibt, ein Kaffeeland ist | |
es nicht. Es sei denn, man verwechselt das kostenlose Nachschenken dünnen, | |
abgestandenen Filterkaffees mit Kaffeekultur. Kurz danach saßen wir | |
tatsächlich beim Espresso, und die Frau, Mitinhaberin des Campingplatzes, | |
gewährte uns auch einen Blick auf ihre Maschine. „Ich hab sie mir aus | |
Israel mitgebracht“, erzählte sie. „Wenn ich schon hier oben in der Kälte | |
lebe, brauche ich wenigstens einen Kaffee, der mich wärmt.“ | |
Plötzlich also hatte mich im Süden Finnlands eine Sehnsucht nach dem | |
Mittelmeer erwischt. Dort, so heißt es ja, sei die Küche neben dem milden | |
Klima ein Element, das die Menschen in Tel Aviv und Barcelona, in Tanger | |
und Marseille verbinde. Oliven, Fisch, Gemüse, Mittelmeerküche eben. Aber | |
gab es auch eine Ostseeküche, etwas, was nicht nur nach Filterkaffee | |
schmeckte? | |
Oder war die Frage falsch gestellt? Am Mittelmeer hat die Küche viel mit | |
Lebensgefühl zu tun, man sitzt dicht gedrängt an einer Tafel, alle reden | |
durcheinander und feiern sich und das Leben mit gutem Essen und schwerem | |
Rotwein. An der Ostsee haben wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eher die | |
Einsamkeit gefeiert. | |
Hungern mussten wir trotzdem nicht. In Polen aßen wir in den zahlreichen | |
Fischbratereien Dorsch, in Litauen Aukstā Zupa, kalte Rote-Beete-Suppe, in | |
Estland Knoblauchbrot. Das waren jedoch eher Ausnahmen. Normalerweise | |
versorgten wir uns selbst mit Brot und Käse und Tomaten. Rotwein | |
transportierten wir im Fünfliterschlauch auf dem Gepäckträger, Bier kauften | |
wir in Schweden nicht im Systembolaget, sondern – als Leichtbier – im | |
Supermarkt. | |
Einmal aber haben wir die Ostseeküche doch entdeckt. Es war an der Höga | |
Kusten, der Hohen Küste, jenem Abschnitt der schwedischen Ostseeküste | |
zwischen Härnösand und Örnsköldsvik, der uns wegen seiner zahlreichen | |
Aufstiege immer wieder aus der Puste brachte. | |
In einem Küstendorf, dessen Namen wir vergessen haben, gab es ein einfaches | |
Restaurant mit blanken Holztischen, aber einer ausgesuchten Karte, auf der | |
tatsächlich Ostseetapas standen. Es waren Fischtapas, Hering in allen | |
Variationen. | |
## Nordung des Blicks | |
Wir haben sie schon von Weitem gesehen. Gleich hinter Nidden steigt sie an | |
und will nicht mehr enden. Die Küste der Kurischen Nehrung mit der Großen | |
Düne als Blickfang hat schon [2][Karl Schmidt-Rottluff] gemalt, Thomas Mann | |
hat sie beschrieben, Volker Koepp hat sie ins Kino gebracht. Sie gehört | |
zum Bild der Ostsee, das uns schon eingeschrieben ist, bevor wir es zum | |
ersten Mal sehen. | |
Die Große Düne und die anderen Dünen an der Ostsee sind entstanden, weil | |
der Westwind im Laufe der Jahrhunderte den Sand an der Meeresseite | |
aufwehte. Man glaube, in der Sahara zu sein, schrieb Thomas Mann, nachdem | |
er 1930 sein Sommerhaus in Nidden bezogen hatte. „Alles ist weglos, nur | |
Sand, Sand und Himmel.“ | |
Im polnischen Łeba gibt es sogar einen [3][Dünennationalpark]. Wir selbst | |
haben den breiten Sandstrand verflucht, als wir in Polen unsere Räder samt | |
Gepäck acht Kilometer durch den Sand schieben mussten. | |
In Estland wäre uns das nicht passiert, denn die Ostsee der breiten | |
Sandstrände und der wandernden Dünen ist das gesüdete Bild des Baltischen | |
Meeres. Je weiter uns unsere Tour nach Norden führte, desto mehr haben wir, | |
erst unbewusst, dann umso aufmerksamer, beobachtet, wie sich das | |
Landschaftsbild langsam veränderte. Erst waren es einzelne Steine, die | |
glatt und rund aus dem Wasser ragten, dann wurden die Findlinge größer, am | |
Ende bestand die ganze Küste aus Granit. | |
Wer wissen will, wie sich die SandOstsee in die Schären-Ostsee verwandelt, | |
muss nur mit der Fähre von Travemünde nach Helsinki fahren. Es ist eine | |
Reise in den Norden, die nicht nur den Blick auf das Baltische Meer | |
verändert, sondern auch seine Entstehungsgeschichte preisgibt. | |
Die Ostsee ist im Vergleich zum Mittelmeer ein junges Meer. Im Grunde ist | |
sie ein Schmelzwassersee, den die Gletscher zum Ende der Weichseleiszeit | |
vor 13.000 Jahren auf ihrem Weg nach Norden zurückgelassen haben. Über | |
1.000 Meter dick war die Gletscherschicht, die auf die Skandinavische | |
Platte drückte und das Harz der Kiefern, die es dort vor der Eiszeit gab, | |
in Bernstein verwandelte. Als das Eis wieder weg war, war nicht nur die | |
Ostsee entstanden. Die Platte hob sich auch wieder und schenkte der Ostsee | |
die Ostseeinseln. Wie aktiv die tektonischen Bewegungen in diesem jüngsten | |
Teil Europas noch sind, zeigt sich an der estnischen Küste. Vor 50 Jahren | |
gab es dort 800 Inseln, heute sind es über 1.500. | |
Die Findlinge hat das Eis auf seinem Rückzug nach Norden zurückgelassen. | |
Die Findlings-Ostsee ist gewissermaßen die Zwischenstufe zwischen der | |
Dünen-Ostsee und der Schären-Ostsee. Im Norden des Bottnischen Meerbusens | |
haben wir aber noch eine andere Ostsee entdeckt. Dort ist das Meer | |
besonders flach, und dort könnte, folgt man dem Geobotaniker Hansjörg | |
Küster, die Landhebung den Meeresboden, der ebenso wie die Küsten aus | |
Granit besteht, in vielen tausend Jahren wieder zum Festland werden lassen. | |
Es lohnt sich, von Norden aus auf die See zu schauen. Lübeck und Stralsund | |
sind weit entfernt, der Polarkreis bei Rovaniemi dagegen ist umso näher. | |
## Keine neue Hanse | |
Die Etappe von Umeå nach Stockholm führte uns 2017 nicht nur über die | |
bergige Höga Kusten. Sie endete auch in einem majestätischen Finale. Nach | |
1.000 Kilometern auf dem Sattel hatten wir uns in den Kopf gesetzt, mit dem | |
Schiff in Stockholm einzulaufen. Von der Insel Vaxholm würden wir durch den | |
Schärengarten in die schwedische Hauptstadt gleiten. | |
Die Einfahrt in den Archipel von Stockholm hat unsere Erwartungen nicht | |
enttäuscht. Unsere kleine Fähre folgte einem der gigantischen | |
Kreuzfahrtschiffe, immer wieder blickten wir auf kleine Buchten, auf einer | |
der Inseln übte eine Yogagruppe am steinernen Ufer. Nach einer Stunde | |
tauchte Stockholm vor uns auf wie in einer Vedute gemalt. Links auf dem | |
Steilufer die Häuserfront von Södermalm, wo der Schriftsteller Stieg | |
Larsson seinen Mikael Blomkvist ermitteln ließ, rechts die Schauseite von | |
Östermalm, die mich an die ebenmäßige Bebauung am Newa-Ufer in Sankt | |
Petersburg erinnerte, und vor uns Gamla stan, die Altstadt von Stockholm | |
mit dem benachbarten königlichen Schloss. | |
Es war das Stockholm des 17. Jahrhunderts, das uns von der Seeseite aus | |
begrüßte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg herrschte Schweden nicht nur über | |
Stettin, Greifswald und Stralsund, es war zum Dominium maris baltici, zur | |
Ostseemacht schlechthin, geworden. Es ist die Wasserseite, in der sich der | |
imperiale Anspruch Stockholms manifestiert, keine Altstadt wie in den | |
mittelalterlichen Ostseestädten von Lübeck bis Danzig. | |
Endlich Stockholm. 17 Jahre hatten wir auf diesen Moment gewartet. Nach | |
Sankt Petersburg und Helsinki war Stockholm das dritte große Stadtereignis | |
unserer Tour de Baltic. | |
Erst in Stockholm konnte ich anfangen, nicht nur die Naturlandschaften und | |
historischen Traumata an der Ostsee miteinander in Beziehung zu setzen, | |
sondern auch die verschiedenen Epochen ihrer hegemonialen Kräfte und der | |
Städte, die sie hervorgebracht haben. Auf die Hanse, diese Europäische | |
Union des Mittelalters mit Lübeck als Kraftzentrum, war die schwedische | |
Herrschaft mit Stockholm gefolgt, die im 18. Jahrhundert ihrerseits dem | |
russischen Zarenreich weichen musste, das sich mit der Gründung von Sankt | |
Petersburg Europa zugewandt hatte. | |
Und heute? Als die Europäische Union 2009 eine Ostseestrategie ausrief, | |
ging es um eine Verstärkung der Zusammenarbeit in Sachen Umwelt, Wirtschaft | |
und Tourismus. Mehr als zehn Jahre später ist unübersehbar, dass zumindest | |
die wirtschaftliche Entwicklung rund um das Baltische Meer sehr | |
unterschiedlich verläuft. Zu den Gewinnerregionen zählen die städtischen | |
Ballungsräume. Helsinki boomt und bildet mit Tallinn eine wachsende Region, | |
die Öresundbrücke hat Malmö einen Entwicklungsschub gegeben. | |
Auf der anderen Seite suchen noch immer viele Menschen aus den baltischen | |
Ländern und Polen ihr Glück im Westen. Das skandinavische Wohlfahrtsmodell | |
und der osteuropäische Tigerkapitalismus nach der Wende sind also keine | |
Liaison eingegangen. Der Ost-West-Gegensatz existiert noch immer, nun | |
innerhalb der EU. Nur was das mobile Internet angeht, haben wir | |
festgestellt, dass es sowohl in Estland als auch in Finnland und Schweden | |
besser läuft als in Deutschland. | |
Und was ist mit der gemeinsamen Erzählung? Von einer „neuen Hanse“, von der | |
in den Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so oft die Rede war, hat | |
keiner von denen gesprochen, die wir trafen. Eher scheint es, als nähmen | |
die Spannungen wieder zu. Die Annexion der Krim hat in den baltischen | |
Ländern und Polen die Furcht vor Russland verstärkt und zu neuen | |
Stationierungen von Nato-Truppen geführt. Die Grenzübergänge zwischen | |
Estland und Russland, aber auch zwischen Litauen und Polen zum | |
Kaliningrader Gebiet werden wieder zu Seismografen der Spannungen im | |
Ostseeraum. | |
## Das nächste Meer | |
Ein junges Meer ist die Ostsee, doch wir sind bei ihrer Umrundung älter | |
geworden. Die 20 Jahre gingen nicht spurlos an uns vorüber. Das Fahrrad 8 | |
Kilometer durch den Sand schieben wie in Polen, das hätten wir später nicht | |
mehr gewollt. Auch werde ich wohl in Russland keine Fahrradtour mehr | |
machen, obwohl die Autofahrer im Kaliningrader Gebiet deutlich entspannter | |
waren als vor Sankt Petersburg. Und Etappen von mehr als 120 Kilometern bei | |
vollem Gepäck werden künftig eher die Ausnahme sein. | |
Die Ostseeumrundung erzählt uns auch etwas über uns selbst. Wir sind | |
anspruchsvoller geworden. Zwar hatten wir bei den späteren Etappen immer | |
noch das Zelt dabei. Aufgeschlagen haben wir es aber nur noch dort, wo uns | |
eine spektakuläre Landschaft lockte. Meistens haben wir uns auf einem | |
Campingplatz eine kleine skandinavische Hütte gemietet. Und noch etwas | |
markiert, dass Zeit vergangen ist: Die Karten, die wir uns noch auf den | |
ersten Etappen besorgt hatten, stecken längst nicht mehr in der | |
Klarsichthülle auf der Lenkertasche. Stattdessen ist da die Halterung für | |
das Handy, das uns mit der App von Komoot den Weg weist. | |
2020, am Ende des Coronasommers, war es dann so weit. Die letzte Etappe der | |
Ostseeumrundung stand vor der Tür, sie sollte uns von Lübeck bis Stettin | |
führen. Das Zelt hatten wir nicht mehr dabei. Wir hatten auch nicht vor, | |
jede Nacht an einem anderen Ort zu verbringen. Vielmehr würden wir es uns | |
fünf Tage auf Hiddensee gemütlich machen und anschließend ein paar Tage bei | |
Freunden in Ummanz auf Rügen verbringen. Deutlich spürten wir den | |
Abschiedsschmerz, und wir bekämpften ihn auf dieser Etappe nicht mit | |
Ostseevergleichen und Museumsbesuchen, sondern mit Lesen im Strandkorb, mit | |
Schwimmen und ausgedehnten Spaziergängen in den Dünen. | |
Denn noch immer stand die scherzhafte wie schmerzhafte Frage im Raum: | |
Welches Meer ist als nächstes dran? Zwischenzeitlich hatten wir uns fest | |
vorgenommen, das Schwarze Meer zu umrunden. Nicht auf dem Fahrradsattel, | |
denn nach weiteren 20 Jahren würde uns vielleicht die Kraft fehlen. Aber | |
vielleicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln? | |
Auf Hiddensee und Rügen haben wir uns die Frage nicht gestellt. Stattdessen | |
haben wir uns eine Zusatzetappe vorgenommen. In diesem Sommer geht es von | |
Berlin mit dem Fahrrad nach Sassnitz. Und von dort eine Woche nach | |
Bornholm. | |
Ach ja, Gotland fehlt uns auch noch. | |
17 Apr 2021 | |
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Ostseepipeline. Doch der Handel droht zu scheitern. | |
Europas vernachlässigtes Zentrum: Das Meer in der Mitte | |
Früher war das Mittelmeer das geistige Zentrum Europas. Heute wenden sich | |
die Menschen von ihm ab. Über ein Gewässer, das Hilfe braucht. | |
Buch über die Ostsee: Das imaginierte Meer | |
Der Galiani Verlag hat eine Anthologie mit Berichten über die Ostsee | |
herausgegeben. Und tut sich schwer, einen „blauen Faden“ für dieses Meer zu | |
finden. |