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# taz.de -- Urlaub auf Hiddensee: „Können Sie bitte Platz machen!“
> Einerseits muss man ja irgendwo hin im Urlaub. Aber die Angst, dass
> Hiddensee wie Sylt wird, reich, satt, alt und hässlich, ist
> allgegenwärtig.
Bild: Das ist keine Werbung für Hiddensee. Da ist es eh schon zu voll
Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee schon seit Jahren nicht
mehr. Graue Geisterbüsche säumen die Dünen, die kahlen Spitzen sind mit
feiner Gaze überzogen. Wie Spinnweben. Pilze, Motten, Schädlingsbefall.
Irgendwie so was. Sanddornschnaps wird trotzdem verkauft und Sanddorntorte
und Sanddorneis, das so herrlich pelzig, sandig, sauer und nur an der
Ostsee lecker schmeckt. Wie Tomatensaft nur im Flugzeug mundet.
Seit zwölf Jahren fahren wir jeden Sommer auf die Insel, und eigentlich
will ich gar nicht drüber schreiben, denn wenn ich schwärme, wird die Insel
noch voller, und wenn ich schimpfe, krieg ich womöglich Inselverbot.
„Es ist jetzt schon zu voll“, sagen alle Insulaner, mit denen ich mich
unterhalten habe. Es gibt nur eine Straße über die autofreie Insel, und da
rollen in der Hauptsaison jetzt schon täglich Massen an Feriengästen wie
wir und Tagesgästen, die mit der Fähre nur für ein paar Stunden kommen, mit
Fahrrädern und Kutschen den Pferden und Fußgängern über die Hufe.
An unserem ersten Urlaubstag hatten mein Sohn und ich einen Fahrradunfall,
weil der Dreijährige einem Riesenhaufen Pferdekacke so plötzlich auswich,
dass ich ihm in die Seite fuhr und das Gleichgewicht verlor.
Vor Schreck saß ich drei Minuten unter meinem Rad und weinte, während der
Fahrradstau um uns herum immer länger wurde und der Dreijährige versuchte,
mich zu trösten: „’tschuldigung, Mami!“ – „Nicht so schlimm, mein Sc…
du kannst nichts dafür, ich hab nicht aufgepasst. Ich bin nur so müde und
hungrig, dass ich weinen muss.“ – „Komm, Mami“, der 15-Kilo-Mensch
versuchte mich hochzuziehen, „wir gehen essen!“
„Entschuldigung, können Sie mal Platz machen!“ Zwei Elektroradler in voller
Montur drängelten sich an uns und den Umstehenden vorbei.
„Scheiß Tagestouristen“, brüllte jemand hinter ihnen her. „Rügen und
Hiddensee an einem Tag! Fliegt doch gleich mit dem Hubschrauber!“
Die Angst, dass Hiddensee wie Sylt wird, reich, satt, alt und hässlich, ist
allgegenwärtig. Aber zumindest der Hiddenseer Ferienwohnungsstandard bleibt
sich treu.
Das Haus, das wir diesmal gemietet hatten, das teuerste ever, roch nach
alten Socken. Hier hatte offensichtlich acht Monate lang niemand gelüftet.
Im Bad blühte der Schimmel aus allen Fugen, die Spülmaschine war kaputt,
und in den Betten feierten die Milben ein Volksfest, sodass ich die erste
Nacht keine Luft bekam und kaum schlafen konnte. Am zweiten Tag zogen wir
um in die Dachkammer. Der Mann und ich schliefen auf einem einen Meter
vierzig breiten Holzbett unter der Dachschräge, das Kind auf der anderen
Seite der Kammer auf einer Klappliege.
„Diese Hiddenseer!“, schimpfte Tante Erna über Messenger. „Vermieten echt
jedes Loch. War damals in den Siebzigern schon so. Da hatten Klaus und ich
ein Zimmer direkt überm Pferdestall, war sauteuer, und nachts hat man die
Pferde pinkeln hören. Sehr romantisch!“
Doch wir waren schon so entspannt, dass uns selbst der Schimmel egal war.
„Wir mieten ja auch jedes Loch“, schrieben wir zurück. „Einfach nur, um
hier sein zu dürfen.“
Die Luft duftete nach Holunder, Wildrosen und Pferdekacke. Das Wasser war
badewarm, der Sand rieselfein. Nichts Hässliches störte das Auge, nichts
Lautes das Ohr.
Auf dem Grundstück nebenan war ein Yogaresort, wo man für tausend Euro die
Woche nichts essen durfte. Die Teilnehmer liefen morgens schon mit
hängenden Armen im Kreis durch den Garten, während wir unsere Toastscheiben
aus dem kaputten Toaster popelten.
Keine Ahnung, ob wir bei Insulanern gemietet hatten oder ob unser Geld in
Wirklichkeit einem reichen Berliner in die Tasche fließt, dem schon halb
Prenzlauer Berg gehört.
Es ist doch überall dasselbe. [1][Berlin,] [2][Venedig,] Hiddensee. Geld
will zu Geld, und bei Immobilien hört die Liebe auf.
Auf dem Spielplatz fanden wir Flyer zur Gründung einer Bürgerinitiative
gegen den Ausbau des Hafens in Vitte, dem Hauptort der Insel. Ein riesiger
Seglerhafen soll entstehen, eine Anlegestelle für Flusskreuzfahrtschiffe,
dazu Filetieranlagen, Freilichtbühne, Salzwasseraufbereitungsanlage (völlig
sinnlos in der Ostsee).
Ich traue mich nicht einzutreten. Ich komm mir so schon vor wie eine
invasive Pflanze.
4 Jul 2021
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## AUTOREN
Lea Streisand
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