Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Immer Bereit: Ameisen in Venedig
> Unsere Autorin war in Venedig und ist darüber erschrocken, was
> ungebremster Tourismus aus einer Stadt machen kann. Nun sorgt sie sich um
> Berlin.
Bild: Ja, sie ist schön, die Piazza San Marco in Venedig. Aber es gibt dort ke…
Ich mache mir Sorgen um Berlin. Vor zwei Wochen waren Paul und ich in
Venedig, jener Stadt, die so irrsinnig schön ist, dass ich beim ersten
Hingucken fast weinen musste. Renaissance, Freunde. Das macht was mit
einem. Diese Symmetrie geht durch, vom Verstand ins Herz in den Unterleib.
Kein Wunder, dass Dan Brown angefangen hat, seine komischen
Verschwörungskrimis zu schreiben. Wer so was bauen kann, denkt man, der hat
die Ordnung in der Welt gefunden.
Das Problem in Venedig sind die Touristen. Wie Ameisen fallen sie über die
Stadt her, mit ihren Rucksäcken vor den Bäuchen und ihren Computerbrettern
vor den Köpfen, die sie hoch in die Luft halten, von dem Bezaubernden um
sie herum nur den winzigen Ausschnitt betrachtend, den sie als Abbildung
mit nach Hause nehmen. Sie sehen die Stadt genauso, wie sie sie eh schon
kennen, als Film oder Foto. Nur dass diese Bilder von ihnen selbst gemacht
sind.
Tourismus in Berlin funktioniert anders, das ist mir schon klar. Berlin ist
auch bei Weitem nicht so schön. War es nie, wird es nie. Es sind auch
sicher keine Ameisenhorden, die Tag für Tag in Berlin einfallen und
außerdem ist es 20 Mal so groß, auch wenn es mehr Brücken hat. Ja, ja. Aber
Touristen kommen trotzdem. Reisen ist so billig geworden, dass unser Trip
nach Venedig samt schrottiger Unterkunft genauso viel gekostet hat, als
wären wir in ein ordentliches Hotel im Spreewald gefahren. Das ist doch
pervers!
## Restaurants, Restaurants
Venedig ist der wahrgewordene Alptraum jedes Städters. Auf der zentralen
Insel San Marco gibt es gar keine Venezianer mehr. Die Wohnungen sind alle
verkauft an reiche Amerikaner, die einmal im Jahr kommen und die Fenster
öffnen, ansonsten stehen die Wohnungen leer oder sind zu Pensionen
umgebaut. Es gibt auch keine Schuster mehr in Venedig, kein Krankenhaus,
nicht mal mehr niedergelassene Ärzte. Taschenläden gibt es, Schmuckläden,
Maskenbauer. Vor allem gibt es Restaurants, Restaurants, Restaurants.
Man kann dort nicht mehr leben. Nur Urlaub machen. Ich habe mich so
geschämt, eine der Ameisen zu sein. Ich habe versucht, mich anzupassen, hab
meine schönsten Sachen angezogen und meinen Café an der Bar getrunken. Aber
natürlich habe ich es genossen. Und natürlich möchte ich gerne wieder hin.
Aber es hat mir auch Angst gemacht, was ungebremster Tourismus aus einer
Stadt machen kann.
Das wird Berlin nicht passieren. Dafür ist es zu groß und zu hässlich. Aber
auch hier wird der Tourismus weiter gefördert, dank eines Kultursenators,
der keine Ahnung von Theater hat und eines Regierenden Bürgermeisters, der
sich schlicht nicht dafür interessiert. Aber das Gewühl auf der
Rialtobrücke über den Canal Grande hat mich schon an die Warschauer Brücke
in Berlin am Wochenende erinnert. Nur dass dort die Großeltern derer
rüberlaufen, die sich in Berlin besaufen und drei Tage durchfeiern. Aber
alle werden von Billigfliegern dorthin transportiert, wo sie hinwollen, wo
sie in alle Ritzen kriechen, alles leer fressen und vollkotzen und sich
dann wieder vom Acker machen.
Venedig ist eine Lagunenstadt. Es ist auf Wasser gebaut. An unserem letzten
Abend dort haben wir erlebt, wie die „Queen Mary 2“ in die Lagune einlief,
das viertgrößte Kreuzfahrtschiff der Welt. Es war, als würden wir zusehen,
wie ein riesengroßer beleuchteter Penis diese wunderschöne Stadt
vergewaltigt.
Ich mache mir wirklich Sorgen um Berlin.
23 Oct 2016
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Venedig
Tourismus
Kolumne Immer bereit
Tourismus
Kolumne Immer bereit
Bucerius Kunst Forum
Kolumne Immer bereit
Kolumne Immer bereit
Fahrrad
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urlaub auf Hiddensee: „Können Sie bitte Platz machen!“
Einerseits muss man ja irgendwo hin im Urlaub. Aber die Angst, dass
Hiddensee wie Sylt wird, reich, satt, alt und hässlich, ist allgegenwärtig.
Touristischer Overkill: Auf Wachstum getrimmt
Tourismus ist ein Entwicklungsmotor und wir brauchen mehr davon, so das
Motto von Städten, Regionen, Ländern und der WTO – doch vor Ort entsteht
Widerstand.
Kolumne Immer bereit: Nettigkeit kennt keine Grenzen!
Solidarität oder Hilfsbereitschaft oder Empathie oder Nächstenliebe – nenn
es, wie du willst! Sicher ist: Es bringt dich voran.
Ausstellung im Bucerius Kunst Forum: Venedig war immer das andere
Seit Jahrhunderten arbeiten Künstler daran mit, Venedig zu einem
vermarktbaren Gesamtkunstwerk zu machen. Das hat etwas von Selbstvergottung
Kolumne Immer bereit: Duschplaylist und dumme Fragen
Ein Besuch in der Mucki-Bude zeigt: Auch Erwachsene können distanzlos sein.
Kolumne Immer bereit: Nie wieder weggucken
Berlin ist überall, selbst in der schwedischen Provinz.
Kolumne Immer bereit: Ferien auf dem Fahrradsattel
Radeln ist toll – wenn man mal die Anfangsjahre voller Pannen, Kratzer und
Schadenfreude hinter sich gebracht hat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.