| # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Nettigkeit kennt keine Grenzen! | |
| > Solidarität oder Hilfsbereitschaft oder Empathie oder Nächstenliebe – | |
| > nenn es, wie du willst! Sicher ist: Es bringt dich voran. | |
| Bild: Sieht entspannt aus – ist es aber nur, wenn der Sitznachtbar mitspielt | |
| Frieda und ich gehen ins Kino. Wir machen das manchmal, immer nur trinken | |
| ist ja auch keine Option. Sie wohnt in Treptow, ich in Pankow, meistens | |
| treffen wir uns am Hackeschen Markt, weil Mitte in dem Fall mal wirklich | |
| die Mitte ist. | |
| In den Kinos in den Hackeschen Höfen herrscht freie Platzwahl. Das führt | |
| immer wieder zu Konflikten. Diese ätzenden halbvergreisten Mittehipster | |
| haben nämlich dank ihrer ganzen antiautoritären Erziehung vor lauter | |
| Neoliberalismus nie gelernt, was Solidarität bedeutet oder | |
| Hilfsbereitschaft oder Empathie oder Nächstenliebe. Nenn es, wie du willst! | |
| Da setzt sich ein Pärchen, ohne rot zu werden, einfach auf die mittleren | |
| von vier freien Plätzchen, türmt auf den Sitzen links und rechts von sich | |
| seine Mäntel und Taschen auf und echauffiert sich dann lautstark, wenn | |
| jemand sich traut zu fragen, ob die Plätze links und rechts noch frei | |
| wären, wenn der ganze Kinosaal besetzt ist. | |
| Zum Glück leiden weder Frieda noch ich an ausgeprägter Schüchternheit oder | |
| Zurückhaltung. | |
| „Entschuldigung, ist der Platz da noch frei?“, zwitschert meine Freundin. | |
| „Ja prima, wenn Sie vielleicht weiterrutschen würden, dann könnten wir | |
| zusammensitzen.“ | |
| Die Frau von dem Pärchen ist verschnupft. „Wir haben uns eigentlich extra | |
| hier so hingesetzt.“ | |
| Mir schwillt die Hauptschlagader. „Aber Sie sehen doch, dass überall anders | |
| besetzt ist“, murmle ich. | |
| Frieda übt sich in Diplomatie: „Ja“, flötet sie bedauernd, „dann setzen… | |
| uns links und rechts von Ihnen hin. Es stört Sie doch sicher nicht, wenn | |
| wir uns den ganzen Film über ihre Köpfe hinweg unterhalten? Mögen Sie | |
| Knoblauch?“ | |
| Das Pärchen rückt murrend einen Sitz weiter. Mit Freundlichkeit kommt man | |
| doch immer am weitesten. Und meine Freundin Frieda kann auf äußerst | |
| furchterregende Weise freundlich sein. Auf eine sehr mütterliche Art. | |
| Frieda kann machen, dass man sich sehr dumm fühlt. Sie muss einfach nur | |
| meinen Namen sagen: „Na ja, Lea, die Welt ist kein Ponyhof!“, sagt Frieda | |
| und ich schäme mich sofort in Grund und Boden, obwohl ich gar keine Ponys | |
| mag. | |
| Frieda ist jedenfalls nicht antiautoritär. Gar nicht. Und ich glaube, genau | |
| deshalb gehört Frieda zu den netteren Menschen. Echt mal. Diese ganze | |
| antiautoritäre Erziehungskacke führt doch nur dazu, dass niemand mehr | |
| bereit ist, auch nur ein Krümelchen seines eigenen Vorteils abzugeben, | |
| damit andere es ein bisschen besser haben. Weil niemand bereit ist, sich an | |
| gemeinsame Regeln zu halten. Die antiautoritäre Idee kommt aus dem | |
| Widerstand gegen faschistoide Unterdrückungsmethoden, führt aber heute nur | |
| dazu, dass erwachsene Menschen sich aufführen wie kleine Kinder. Ich, ich, | |
| ich. | |
| Das Haus, in dem meine Tante Erna wohnt, besteht nur aus | |
| Eigentumswohnungen. Ein gutes Dutzend davon. In jeder Wohnung wohnen | |
| mindestens zwei Menschen. Und zwei Mietparteien haben es sich zum Hobby | |
| gemacht, im Sommer jeden Abend im Hinterhof zu grillen. Jeden einzelnen | |
| Abend. | |
| An diesen Hinterhof grenzen aber noch vier andere Häuser, in denen die | |
| meisten Schlafzimmer zum Hof rausgehen. Nur leider kann nun niemand im | |
| gesamten Wohnblock mehr bei offenem Fenster schlafen bei dem Gestank. Und | |
| dem Lärm. Denn ein Hinterhof ist ein hervorragender Schalltrichter. Da | |
| reicht es, wenn ein Mensch leise telefoniert, dass keiner mehr schlafen | |
| kann. | |
| Und wenn Tante Erna sich beschweren will und mit anderen Bewohnern aus dem | |
| Haus anregt, man könne doch mal eine Hausordnung schreiben, an die sich | |
| dann alle zu halten hätten, wird sie von dem grillenden Yuppiearsch und ein | |
| paar Althippies überstimmt mit der Begründung, „das könne man doch unter | |
| sich ausmachen“, dabei sehen diese Leute nur einfach nicht ein, etwas | |
| anderem als ihrem eigenen Bauchgefühl zu folgen. | |
| Das ist der heutige Geist der Rebellion. Da bäumt sich niemand mehr von | |
| unten gegen ein Diktat von oben auf. Es ist schlicht die Weigerung einer | |
| kleinen Elite, sich um irgendetwas anderes als den eigenen Vorteil zu | |
| kümmern. | |
| 8 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Immer bereit | |
| Gentrifizierung | |
| Athen | |
| Regen | |
| Schweden | |
| Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
| Fahrrad | |
| Zivilgesellschaft | |
| Weihnachten | |
| Venedig | |
| Kolumne Immer bereit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Immer bereit: Katze in Antik | |
| Urlaub als Berliner Paar in Athen – das ist einfach schön! Über Gyros und | |
| Katzen, Hundescheiße und Katzenpisse, ach ja, und über Wolfgang Schäuble!? | |
| Kolumne Immer bereit: Der blanke Horror | |
| Brennnesseln und Farne überwuchern alles. Engelstrompeten verspeisen | |
| Fischreiher: Der andauernde Regen macht einen ja kirre. | |
| Kolumne „Immer bereit“: Berlin ist wie eine Zimtschnecke | |
| Besuch ist immer gut. Denn es ist irrsinnig spannend, mit Touristen in | |
| seiner Heimatstadt unterwegs zu sein – weil die Berlin mit anderen Augen | |
| sehen. | |
| Politik und Gefühle: Meister der Empathie | |
| Alle reden von Empathie. Sich in andere einzufühlen gilt als moralisch gut. | |
| Ist das so? Und ist es ratsam, sich in der Politik auf Gefühle zu beziehen? | |
| Kolumne Immer Bereit: Einfach plattgemacht | |
| Letzte Woche wurde mein Fahrrad überfahren. An der Laterne vor unserem | |
| Haus. Ich war nicht dabei. Eine Wintergeschichte. | |
| Debatte Links gegen Rechts: Was kann uns noch retten? | |
| Viele Menschen hoffen auf die demokratische Zivilgesellschaft. Doch die | |
| gibt es erst dann, wenn wir sie schaffen. | |
| Kommentar Immer Bereit: Winterschlaf wär ’ne Option | |
| Unsere Autorin mag die Adventszeit. Und Weihnachtsfilme. Wäre da nur nicht | |
| die Sache mit der Schildkröte – und dem Meerschweinchen. | |
| Kolumne Immer Bereit: Ameisen in Venedig | |
| Unsere Autorin war in Venedig und ist darüber erschrocken, was ungebremster | |
| Tourismus aus einer Stadt machen kann. Nun sorgt sie sich um Berlin. | |
| Kolumne Immer bereit: Tanzvorbereitungen beim Inder | |
| Zwischen Manchester und DDR – und irgendwie geschmackvoll: Ein Besuch beim | |
| Mini-Inder. |