# taz.de -- Fahrradfahren in Estland: Die Ostsee in Sichtweite | |
> In Estland ist Fahrradurlaub noch ein echtes Abenteuer. Für die Strapazen | |
> entschädigt der baltische Kleinstaat mit den Ostsee-Inseln Saaremaa und | |
> Hiiumaa. | |
Bild: Die Saarema-Insel zur Sommerzeit | |
Aus den verschrammten Lautsprechern dröhnen die Hits des Sommers. Drake | |
singt „In my feeling“, Selena Gomez röhrt „Back to you“. Es ist | |
Samstagmorgen, und auf der Fähre von Helsinki nach Tallinn herrscht | |
Partystimmung. Junge Finninnen und Finnen nutzen das Wochenende zu einem | |
Trip über die Ostsee in die rund 80 Kilometer entfernte estnische | |
Hauptstadt mit den günstigen Alkoholpreisen. Auf dem Achterdeck glühen sie | |
schon mal vor mit Bier aus Dosen und Mixgetränken. Einige lehnen lässig an | |
der Reling und kiffen. | |
Tallinn, das eine eigene Reise wert wäre, ist der Startpunkt für unsere | |
zweiwöchige Radtour entlang der estnischen Ostseeküste und über die größten | |
Inseln. Wir verlassen die Stadt in Richtung Westen. Nach rund 30 Kilometern | |
erinnert ein Denkmal an das frühere Konzentrationslager Klooga. Es wurde im | |
September 1943 als eines von rund 20 Außenlagern des KZ Vaivara errichtet. | |
Etwa 3.000 Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, waren hier inhaftiert. | |
Am 19. September 1944, die Rote Armee war auf dem Vormarsch und näherte | |
sich Tallinn, mussten 300 Gefangene einen Kilometer vom Lager entfernt | |
Scheiterhaufen errichten. Gegen 17 Uhr begann der Massenmord: Jeweils etwa | |
50 Menschen mussten sich auf die Holzstapel legen, wurden mit Benzin | |
übergossen und angezündet. Die erste Lage der Verbrannten wurde wieder mit | |
Holzscheiten bedeckt, darauf wurden die nächsten Gefangenen getrieben. Wer | |
flüchtete, wurde erschossen. Nur etwa 100 Häftlinge aus Klooga sollen das | |
Morden überlebt haben. | |
Am Abend erreichen wir Paldiski. Die Kleinstadt verströmt Atmosphäre wie | |
aus einem Endzeitfilm. Heruntergekommene Plattenbauten, lange Straßen aus | |
rissigem Beton, auf denen kein Mensch zu sehen ist, halb verfallene Mauern, | |
am Hafen rostige Absperrungen und viel Stacheldraht. | |
In Paldiski waren Teile der sowjetischen Atom-U-Boot-Flotte stationiert. In | |
einem Trainingszentrum übten angehende Marineoffiziere an einem | |
Atomreaktor. Bis 1990 lebten hier 15.000 russische Soldaten und ihre | |
Familien, der übrigen Bevölkerung war der Zugang in die abgesperrte Stadt | |
streng verboten. Mit der Unabhängigkeit Estlands gab die Rote Armee den | |
Standort auf, die meisten Militärs verließen Hals über Kopf die Stadt. | |
Die beiden Reaktoren schalteten sie noch ab, einen Großteil des nuklearen | |
Schrotts ließen sie zurück. Verarmt und isoliert leben die verbliebenen | |
rund 4.000 Russen unter sich. Wir kommen in einer abgewrackten Pension | |
unter, der Wirt spricht in dem selben Tonfall und sieht auch aus wie der | |
russische Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow. | |
Bäume. Überall Bäume. Kiefern vor allem und Birken, dazwischen mal eine | |
Lärche oder eine Pappel. Rund 50 Prozent der Fläche Estlands sind von Wald | |
bedeckt – auch auf den Inseln. Davon gibt es rund 2.000, aber nur 20 sind | |
bewohnt und noch weniger mit Fähren oder über Dämme zu erreichen. | |
Lediglich Hiiumaa, Saaremaa und Muhu – die drei größten – verfügen über | |
eine leidliche Infrastruktur. Dafür gibt es eine vielfältige Flora und | |
Fauna. Auf Saaremaa wachsen besonders viele der im Land vorkommenden | |
Orchideenarten, darunter auch endemische Arten, die nirgendwo sonst auf der | |
Welt zu finden sind, wie der Saaremaa-Klappertopf. | |
Mehr als 370 Vogelarten lassen sich in dem Land beobachten. Auch Wölfe, | |
Braunbären und Luchse, Elche und Hirsche sollen durch Estlands Wälder | |
streifen. Wanderern wird empfohlen, ein Glöckchen zu tragen, damit zum | |
Beispiel Bären sie schon von Weitem hören und sich zurückziehen können. Wir | |
bekamen allerdings keines der Raubtiere zu Gesicht. | |
Das an der Westküste gelegene Haapsalu markiert einen Gegensatz zu | |
Paldiski. Die Stadt ist reich an Jugendstilvillen. Über die weitläufige | |
Promenade, lesen wir, soll im 19. Jahrhundert schon der Komponist Pjotr | |
Iljitsch Tschaikowski geschlendert sein. Im kleinen städtischen Museum | |
steht das angeblich älteste noch erhaltene Denkmal für Friedrich Schiller. | |
Ob der Dichter in der Stadt einst ein- und ausging, ist allerdings nicht zu | |
erfahren. In Haapsalu verlassen wir das Festland und setzen mit der Fähre | |
auf die Inseln über. | |
Weiß und wuchtig ragt er in den Himmel: Die Halbinsel Köpu im Westen der | |
Insel Hiiumaa beherbergt den drittältesten Leuchtturm der Welt. Die Hanse | |
ließ ihn zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichten. An der äußersten Spitze | |
Köpis, die nur auf sandigen Wegen zu erreichen ist, empfängt uns | |
Karibik-Feeling. Blau, grün und türkis schimmert die Ostsee, der Strand ist | |
schneeweiß, in einer aus Holzbalken zusammengezimmerten Kneipe dröhnt | |
Reggae-Musik. Dahinter ein Zeltlager. Hiiumaa wurde übrigens von einer | |
Meteoritenexplosion geformt, sie ist eine der ältesten Inseln der Welt. | |
Wie im Brennglas spiegelt sich auf Saaremaa, der benachbarten größten Insel | |
Estlands, die wechselvolle Geschichte des Landes seit dem 13. Jahrhundert. | |
Zunächst herrschten hier die Ritter und Kaufleute des Deutschen Ordens, | |
danach Dänen, Schweden und Russen in ständigem Wechsel. 1917 wurde die | |
Insel von den Deutschen erobert, die nach dem Waffenstillstand von 1918 | |
wieder abzogen – mit der im selben Jahr proklamierten ersten Unabhängigkeit | |
Estlands wurde die Insel Teil des neuen Staates. | |
## Wenig Rad-Infrastruktur | |
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel erneut von Deutschen besetzt, | |
zahlreiche Bewohner wurden 1944 deportiert. In der Nachkriegszeit blieb | |
Saaremaa nahezu isoliert vom Festland. Als Außenposten der Sowjetmacht | |
waren fast alle Inseln Sperrgebiet: Fluchtgefahr. Erst mit der zweiten | |
estnischen Unabhängigkeit konnte sich die Insel langsam entwickeln. | |
Die Ostsee ist meist in Sichtweite, mit dem Rad zu erreichen ist sie nur | |
selten. Von der Straße abzweigende Wege enden oft im Nichts. Es gibt nur | |
wenige erschlossene Strände. Auch hat die Ostsee hier eher den Charakter | |
eines großen Teiches: Kaum Wellen, seichtes Wasser. | |
Ohnehin ist das Land auf Fahrradtouristen noch nicht recht eingestellt. | |
Nicht nur aufgrund der fehlenden separaten Radwege – das ist wegen des | |
abseits weniger Hauptstraßen kaum vorhandenen motorisierten Verkehrs kein | |
Problem. Auch eine durchgängige Rad-Beschilderung gibt es nicht. Trotz | |
„Bikeline“-Karte und Navi haben wir uns mehrfach verfahren. Ausgewiesene | |
Strecken wie die EuroVelo-Route 10, der Ostseeküsten-Radweg, endeten im | |
Nichts oder waren plötzlich versperrt. | |
Auch ein Café oder einen Laden suchten wir an manchen Tagen vergebens. | |
Abseits der größeren Städte – und davon gibt es nicht gerade viele – sind | |
auch die Übernachtungsmöglichkeiten rar. Wildes Campen ist aber erlaubt | |
beziehungsweise wird geduldet. Wer nicht zeltet, ist oft auf Holzhütten auf | |
Campingplätzen mit ganz niedrigem Standard angewiesen. | |
Das Seebad Pärnu gilt wegen seiner schönen Strände als Sommer-Hauptstadt | |
Estlands. Schon 1838 öffnete hier die erste Ostsee-Badeanstalt, und ab 1890 | |
stand der Ort auf der Liste der russischen Kaiserbäder. Die Altstadt mit | |
ihren Sehenswürdigkeiten wie dem Historischen Rathaus, der Katharinen- und | |
der Elisabethkirche und dem früheren Gefängnisturm mit seinem roten Dach | |
ist schnell erkundet. Zum Sonnenuntergang-Gucken geht’s in eine der | |
zahlreichen Strandkneipen. Der Blick über die Rigaer Bucht ist eine Wucht. | |
16 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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