# taz.de -- Grenzüberschreitender Bahnverkehr: Auf Lenins Spuren | |
> Mehr als drei Jahrzehnte lang war kein Zugverkehr zwischen Schweden und | |
> Finnland mehr möglich. Jetzt ändert sich das endlich wieder. | |
Bild: Wird noch saniert: Eisenbahnbrücke über den Fluss Torne an der schwedis… | |
STOCKHOLM taz | 1917 machte ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow eine | |
historische Bahnfahrt – von Zürich mit einem plombierten Waggon quer durch | |
Deutschland und weiter über Schweden und Finnland nach St. Petersburg. Aber | |
mal auf Lenins – so das besser bekannte Alias des Reisenden – Spuren diese | |
Tour wiederholen? Das war die vergangenen drei Jahrzehnte nicht mehr | |
möglich. Zwischen Finnland und Schweden gab es nämlich keinen | |
Personenzugverkehr. [1][Europäische Nachbarländer ohne Bahnverbindung gibt | |
es nur wenige], ausgerechnet die beiden nordischen Staaten gehören dazu. | |
In diesem Frühjahr wurde nun der entscheidende Schritt getan, das zu | |
ändern. Schweden nahm den 1992 eingestellten Personenzugverkehr auf der 160 | |
Kilometer langen Strecke von Boden zum Grenzort Haparanda wieder auf. Jetzt | |
sei es endlich wieder möglich, die 1.283 Kilometer von Schwedens | |
südlichster Stadt Trelleborg zum nordöstlichsten Punkt des Landes auf der | |
Schiene zurückzulegen, freute sich Göran Wigren von der Gemeinde Haparanda | |
bei der Wiedereinweihung der Verbindung. | |
Und immer wieder war die Rede davon, dass ganz Nordskandinavien damit ein | |
Stück enger zusammenrücken werde. Sieben Jahre Bauzeit hat es bis zur | |
Neueröffnung des Verkehrs gedauert. Die Strecke wurde teils aufgerüstet, | |
teils musste sie neu gebaut und elektrifiziert werden. Zunächst gibt es | |
dreimal täglich Personenzugverkehr in beide Richtungen, der Betrieb soll | |
aber bald auf fünf Doppeltouren aufgestockt werden. | |
Endstation ist vorläufig erst einmal der schöne alte Bahnhof von Haparanda, | |
das 600 Meter vom Grenzfluss Torne entfernt liegt, an dessem anderem Ufer | |
die finnische Schwesterstadt Tornio zu finden ist. Das 80 Meter lange | |
mehrstöckige Bahnhofsgebäude ist für einen Ort mit gerade einmal 6.500 | |
EinwohnerInnen reichlich überdimensioniert. | |
## Enttäuschte Erwartungen | |
Als es 1915 gebaut wurde, war Finnland russisch. Schwedens Staatsbahn hatte | |
hohe Erwartungen, was die künftige Bedeutung dieses einzigen Grenzübergangs | |
zwischen Westeuropa und Russland anging, und entsprechend großzügig | |
geplant. Doch ausgerechnet Lenin, der am Abend des 15. April 1917 in | |
Haparanda ankam, erkannte Finnland ein paar Monate später als souveränen | |
Staat an. Die Erwartungen, Haparanda würde sich zum Dreh- und Angelpunkt | |
eines umfangreichen künftigen Personen- und Güterverkehrs entwickeln, | |
wurden enttäuscht. | |
Der Verkehr war im Gegenteil eher spärlich, einen Aufschwung gab es erst | |
wieder im zweiten Weltkrieg. Weil die Bahnlinie die einzige in ein nicht | |
kriegführendes Land war, wurde sie wichtig für die Versorgung Finnlands. | |
Auch ein Teil des schwedischen Warenverkehrs wurde über die Haparandabahn | |
und weiter mit Lastautos zum damaligen finnischen Eismeerhafen Petsamo | |
abgewickelt. Außerdem erlaubte das neutrale Schweden der deutschen | |
Wehrmacht nicht nur Truppentransporte über Schweden ins besetzte Norwegen, | |
sondern auch den Transit über Haparanda nach Finnland. | |
Seit den 1970er Jahren wurde die Bahnstrecke zunehmend vernachlässigt, der | |
Personen- und Güterverkehr verlagerte sich immer mehr auf die Straße. Eine | |
Wiederaufrüstung kam [2][zusammen mit anderen | |
Bahninfrastrukturinvestitionen in Nordschweden] dann erst wieder vor | |
eineinhalb Jahrzehnten in Gang. | |
## Das letzte Stück noch zu Fuß | |
Das letzte Detail zu einer wiederaufgenommenen grenzüberschreitenden | |
Zugverbindung zwischen Schweden und Finnland fehlt noch. Auf dem | |
Bahngelände von Haparanda liegen zwar auf der Südseite des Bahnhofs die | |
Schienen mit Normalspur und auf der Nordseite die der russischen Breitspur, | |
die auch in Finnland genutzt wird. | |
Aber bevor auf den Breitspurgleisen die Anschlusszüge für die Weiterfahrt | |
nach Tornio und ins restliche Finnland bereitstehen können, soll erst noch | |
die Eisenbahnbrücke über den Torne-Fluss renoviert werden. Sie ist mit | |
ihrem Vierschienengleis, bei dem ein Breitspurgleis und eines für die | |
Normalspur ineinander verschränkt sind, ein populäres Fotoobjekt für | |
Eisenbahnfans. | |
Anfang Juni gab Helsinki in einem Zusatzhaushalt grünes Licht, die noch | |
fehlende Elektrifizierungslücke der Bahnstrecke bis Tornio zu schließen. | |
Wer seine Zugreise nach dem Trip durch das gesamte Schweden weiter in die | |
finnische Hauptstadt fortsetzen will, kann das aber auch schon jetzt tun. | |
Mehrmals die Woche hält in Tornio-Ost (Tornio-Itäinen) der Nachtzug von | |
Kolari nach Helsinki. Um den zu erreichen, muss man sich allerdings von | |
Haparanda aus zu Fuß oder mit dem Lokalbus hinüber nach Tornio bewegen. | |
Aber auch damit befindet man sich durchaus noch auf Lenins Spuren. Der | |
russische Revolutionär konnte vor 104 Jahren in Haparanda auch nicht | |
einfach von einem Zug in den anderen umsteigen. Er musste mit seiner | |
Begleitung einen Fußmarsch über den zugefrorenen Torne hinlegen, bevor er | |
schließlich in Tornio seine Bahnfahrt nach St. Petersburg fortsetzen | |
konnte. Die Eisenbahnbrücke über den Grenzfluss wurde nämlich erst 1919 | |
fertig. | |
24 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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