# taz.de -- EU-Politikerin über Jahr der Schiene: „Infrastruktur unzureichen… | |
> Die Schiene muss besser werden, sagt die grüne EU-Abgeordnete Anna | |
> Deparnay-Grunenberg. Sie setzt sich für ein europäisches Eisenbahnnetz | |
> ein. | |
Bild: Im Nachtzug von Paris nach Nizza, Mai 2021 | |
taz: Frau Deparnay-Grunenberg, das EU-Parlament und die Europäische | |
Kommission haben 2021 zum europäischen Jahr der Schiene erklärt. Warum? | |
Anna Deparnay-Grunenberg: Wir wollen ein Jahr lang das Thema Bahnfahren | |
seitens aller EU-Institutionen nach vorne stellen und dazu alle Stakeholder | |
ins Boot holen. Es geht darum zu reflektieren, welche Bedeutung die Schiene | |
für Europa hat, und um die Themen Klimaschutz, Green Deal und | |
Verkehrswende. In den Schienenverkehr muss mehr investiert, die | |
Elektrifizierung und die Digitalisierung müssen vorangetrieben werden. Es | |
müssen mehr Güter auf die Schiene verlagert werden, damit diese | |
Lkw-Kolonnen nicht mehr durch Europa fahren. Das Jahr der Schiene ist dazu | |
da, diesen paneuropäischen Diskurs zu pflegen. Soll das Bahnfahren billiger | |
werden? Mit mehr Unterstützung der öffentlichen Hand? | |
Gibt es konkrete Projekte? | |
Kern des Jahres der Schiene ist, konkrete Verbesserungen anzustoßen. Dafür | |
stehen 8 Millionen Euro als Fördermittel für kleine Projekte zur Verfügung. | |
Es gibt viele Bewerber, etwa ein Projekt zum nachhaltigen Tourismus mit | |
Rundumpaket für Urlaub in Sizilien, wo man mit dem Zug und der Fähre | |
anreist und sich vor Ort mit E-Shuttle oder Rad bewegt. Wir müssen | |
europaweit das Thema nachhaltiger Tourismus vor Ort und Anreise auf der | |
Schiene mehr in den Blick nehmen. | |
Wie könnte das gehen? | |
Die EU könnte einen Standard festlegen, was nachhaltiger Tourismus ist. Das | |
macht sie aber nicht. Es gibt sehr viele Widerstände, etwa von Betreibern | |
von Bauprojekten oder Vertretern von Küstenregionen, die nicht als | |
nachhaltig dargestellt würden. Dabei hätten wir jetzt die Chance, etwas | |
Neues zu beginnen. Vielen Beschäftigten und Unternehmen im Tourismus geht | |
es durch die Pandemie sehr schlecht. Aber das Wiederauflebenwollen dieses | |
Sektors, wie er vorher war, ist sehr groß. Die EU packt das nicht an, auch | |
weil die nationalen Regierungen das nicht wollen. Sie sagt nicht: Lasst uns | |
das Jahr der Schiene und die Krise und die große Aufgabe, das Klima zu | |
retten, zusammen mit dem Tourismus denken. Sie versäumt die Gelegenheit. | |
NGOs sagen, dass das europäische Jahr der Schiene vor allem eine | |
Marketingveranstaltung ist. Die haben recht, oder? | |
Marketing für eine gute Sache ist ja auch das Wesen vieler NGOs. Es ist | |
nicht verkehrt, die Aufmerksamkeit auf das System Bahn zu lenken und die | |
Frage zu stellen, wie Digitalisierung und Ökostrom, guter Service und eine | |
gute App uns auf eine nächste Stufe der Mobilität in Europa bringen können. | |
Wenn wir uns nicht als Gemeinschaft, als Bürgerinnen und Bürger dafür | |
einsetzen, kann es passieren, dass immer mehr in die Straße, etwa ins | |
autonome Fahren, investiert wird, oder die Oberleitung für Laster kommt | |
statt mehr Schienenverkehr. | |
Das europäische Jahr der Schiene hat nicht gut angefangen. Gerade hat die | |
EU die [1][Rechte für Bahnkund:innen] erheblich zurückgedreht. Bei | |
Verspätung wegen höherer Gewalt wie extremen Witterungsbedingungen entfällt | |
künftig die Entschädigung. Wird Bahnfahren in Europa womöglich schlechter | |
als besser? | |
Es stimmt, dass es gewisse Dissonanzen gibt. Die EU-Institutionen sehen | |
nicht das Signal, das sie gesendet haben und mit dem sie das europäische | |
Jahr der Schiene schwächen. Der Hintergrund war, dass die unterschiedlichen | |
Passagierrechte im Flug- und Bahnverkehr angeglichen werden sollten. Das | |
alles hat sich ewig lang gezogen. Zum Schluss ist etwas herausgekommen, von | |
dem ich sage: Es gibt zwar kleine Verbesserungen bei den | |
Bahnpassagierrechten, aber eben auch eine Kröte – das mit der | |
Entschädigung. | |
Welche kleinen Verbesserungen gibt es? | |
Zum Beispiel, dass man als Mensch mit Gehbehinderung oder mit | |
Mobilitätseinschränkung nicht mehr 48 Stunden vorher dem Bahnunternehmen | |
Bescheid geben muss, wenn man Hilfe haben will. Das ist reduziert worden | |
auf 24 Stunden. Es gibt auch Verbesserungen beim Thema Radmitnahme. Alle | |
neuen Züge, die renoviert oder neu gebaut werden, müssen in Zukunft mit | |
vier Plätzen für Fahrräder ausgestattet werden. | |
Heute ist es extrem schwer, grenzüberschreitende Tickets zu kaufen, wenn | |
man quer durch Europa fahren will. Gibt es auf europäischer Ebene | |
Initiativen, das zu verbessern? | |
Es gibt viele Initiativen von NGOs. Bei der Reform der Fahrgastrechte hätte | |
die EU das Recht für Bahnfahrer verankern müssen, ein durchgehendes Ticket | |
von A nach B in Europa buchen zu können und die Fahrgastrechte mitnehmen zu | |
können. Aber die Mitgliedsstaaten haben sich gegen die Empfehlung des | |
Parlaments und der Kommission gesträubt und das nicht akzeptiert. Es gibt | |
keine Durchgangstickets, weil einige der Akteure im europäischen Bahnsektor | |
als ehemalige Staatsbahnen sehr national geprägt sind. Sie verstehen sich | |
nicht als Teil eines europäischen Systems. Wir müssen daran arbeiten, das | |
zu verändern. | |
Wie könnte das gehen? | |
Wir müssen die Bahnunternehmen in der EU zwingen, ihre Daten herauszugeben. | |
Damit könnten wir eine App speisen, die wirklich alles enthält, was es an | |
Angeboten gibt. Heute ist es doch so: Ich suche eine Fahrt von Stuttgart | |
nach Brest in der DB-App und bekomme andere Preise und Zeiten als bei der | |
Suche im Angebot der französischen Bahn SNCF. Das kann ja nicht sein, das | |
Angebot ist ja das Gleiche. Wenn alle Bahnunternehmen ihre Daten geschützt | |
an die öffentliche Hand geben, kann der Kunde in einer App sehen, was für | |
ihn am günstigsten ist. Will er nicht besonders schnell, aber günstig, | |
lieber mit Flixtrain fahren, oder will er ganz schnell ans Ziel kommen, und | |
der Preis ist egal? Die EU-Kommission hat schon mehrmals einen | |
entsprechenden Vorschlag gemacht. Es sind die Mitgliedsstaaten, die | |
bremsen. | |
Was ist das Problem? | |
Die Frage, [2][wer ist Schuld und muss etwa bei Verspätungen zahlen,] | |
verhindert, dass die Bahnbranche selbst das Thema voranbringt. Die | |
Unternehmen fürchten, ihr Geld nicht zurückzubekommen, wenn sie Fahrgästen | |
einen Teil des Ticketpreises erstatten müssen, obwohl sie selbst nicht | |
verantwortlich für die Verspätung sind. Wenn die Bahnbranche das nicht | |
hinbekommt, muss die öffentliche Hand mit einer eigenen Lösung kommen. | |
Einzelne Unternehmen haben durch ihre ehemalige Monopolstellung die Nase so | |
vorn, dass sie nicht an einer Kooperation mit anderen Bahngesellschaften | |
interessiert sind. | |
[3][Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat angekündigt, dass ein | |
Europatakt kommen soll,] also regelmäßige Verbindungen zwischen Metropolen | |
mit guten Anschlüssen in die Region. Ist das mehr als ein leeres | |
Versprechen? | |
Es bleibt ein leeres Versprechen, wenn man nicht wenigstens das macht, was | |
jetzt gemacht werden könnte. Wenn man erstens nicht bereit ist, die | |
Fahrgastrechte durchgehend über die Grenzen hinweg dem Fahrgast mitzugeben, | |
dann ist es lächerlich, darüber zu reden, dass man einen Europatakt will. | |
Zweitens ist die Infrastruktur nach wie vor unzureichend, etwa die | |
Digitalisierung der Züge und der Schaltzentralen. Da wird viel zu wenig | |
investiert. | |
Was könnte denn sofort gemacht werden, abgesehen von den Fahrgastrechten? | |
Wir könnten sofort die echte Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen | |
Transportmöglichkeiten herstellen. Die Straße wird immer noch viel mehr | |
subventioniert als die Schiene. Wir haben keine Maut für die Straße. Aber | |
die Züge müssen sich für jeden Kilometer einbuchen und einen Trassenpreis | |
zahlen. Das ist nicht fair. Im grenzüberschreitenden Verkehr haben wir bei | |
der Bahn eine Mehrwertsteuer, der Flug ist davon befreit. Man könnte eine | |
[4][Kerosinsteuer] einführen. Möglich wäre für Lkw und Pkw eine faire | |
CO2-Bemautung. Aber in dieser Frage gibt es keine Offenheit der | |
EU-Mitgliedsstaaten. | |
Bahnreisen werden Flüge nur ersetzen, wenn es gute Nachtzugverbindungen | |
gibt. Aber die Deutsche Bahn ist aus dem Schlafwagengeschäft ausgestiegen | |
und schafft keine neuen Schlafwagen an, obwohl der Bundesverkehrsminister | |
eine Renaissance der Nachtzüge angekündigt hat. | |
Es ist wirklich schade, dass die Deutsche Bahn nicht wieder einsteigt. Sie | |
lässt zwar ICE über Nacht fahren, aber ein echter Wiedereinstieg und | |
[5][Belebung des Marktes in Richtung Nachtzug ist das nicht]. Dabei spielt | |
Deutschland als Land, das mitten in Europa ist, hier eine wichtige Rolle. | |
Die Deutsche Bahn setzt zwar auf eine Partnerschaft mit den | |
Österreichischen Bundesbahnen, die sich auf Schlafwagen spezialisiert | |
haben. Aber das löst das riesige Problem nicht, das wir mit dem rollenden | |
Material haben. | |
Es gibt tolle Prototypen für Schlafwagen mit individuellen Kabinen, in | |
denen man wie im Hotel übernachten kann. Aber die Industrie wird so etwas | |
in größerem Maße nur produzieren, wenn sie auch die Signale von wichtigen | |
Playern wie der Deutschen Bahn hört. Ohne diese Signale bekommen wir nicht | |
die Wucht in den Markt, die wir brauchen. Der Bau dauert einige Jahre. | |
Irgendwann muss man anfangen, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen. | |
Immer mehr private Unternehmen wollen die bestehende Lücke im europäischen | |
Bahnverkehr füllen, etwa von Belgien oder Skandinavien aus. Sie klagen, | |
dass ihnen viele Steine in den Weg gelegt werden. Zu Recht? | |
Leider ja. Lokführer müssen zum Beispiel die Sprache der verschiedenen | |
Länder sprechen, durch die sie fahren. Die Schienen sind nicht angepasst, | |
die Loks müssen beim Grenzübergang gewechselt werden. Das alles müssen wir | |
harmonisieren. Die Mitgliedsstaaten würden gerne alle ein bisschen mehr in | |
Schiene machen, aber sie wollen nichts dafür tun. Der Kern des Problems: | |
Wir müssen aufhören, bestimmte Sachen etwa im Straßenbau zu machen, um | |
Planungskapazitäten, Gelder und administrative Kapazitäten vor Ort zu | |
haben, damit die Schiene besser wird. | |
12 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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