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# taz.de -- Mit dem Zug durch Osteuropa: Vor allem wilde Natur
> Mit dem Zug von Montenegro nach Serbien zu fahren, ist eine spannende
> Reise. Sie führt über hohe Brücken und tiefe Schluchten.
Bild: Bahnstrecke von Serbien nach Montenegro
Wer beim Reisen noch nach Unvorhersehbarem sucht, sollte auf dem Balkan in
den Zug steigen. Etwa auf der berüchtigten Strecke vom montenegrinischen
Bar in die serbische Hauptstadt Belgrad. Es lohnt sich, statt den Nachtzug
die Tagesverbindung zu nehmen, denn die Fahrt soll spektakulär sein. Das
will man nicht verschlafen.
So weit zumindest der Plan. In Montenegro angekommen, stellt sich heraus:
Der Tageszug verkehrt seit der Coronapandemie nur in den Sommermonaten.
Schon bevor die Reise beginnen kann, zeigt sich: Wer auf dem Balkan mit dem
Zug unterwegs ist, muss improvisieren können.
Also wird der lange ausgetüftelte Plan umgeworfen. In Montenegros
Hauptstadt Podgorica, einer Zwischenstation der Bar-Belgrad-Verbindung,
werde ich nachmittags in den Regionalzug steigen, um abends am Grenzbahnhof
Bijelo Polje den Nachtzug zu nehmen. So bekommt man den eindrucksvollsten
Part in Montenegro doch noch bei Tageslicht zu sehen.
Der Bahnhof von Podgorica versteckt sich etwas verschämt hinter dem
Busbahnhof, den die meisten Reisenden ansteuern. Der Bus ist das bevorzugte
Reisemittel der Region. Am niedrigen, kantigen Gebäude mit brutalistischen
Details verrät keine Aufschrift, dass hier der Bahnhof steht. Das lassen
nur ein paar verrostete Waggons auf den Gleisen vermuten. Das Streckennetz
ist auf dem Balkan spärlich, die Gefährte sind oft veraltet. Doch für die
geplante Strecke lohnt es sich, die Strapazen auf sich zu nehmen.
Zuallererst wird der Schalter angesteuert, denn das Ticket lässt sich
tatsächlich nicht online buchen. Am besten erledigt man das ein paar Tage
zuvor. Oder man vertraut darauf, dass noch Betten frei sind. Um das
herauszufinden, nimmt eine Angestellte auf der anderen Seite der
Glasscheibe das Telefon in ihre Hand mit langen pinken Fingernägeln.
Offensichtlich hat auch sie kein Online-Tool für Buchungen. Drei Anrufe
später teilt sie mit, dass nur noch ein Bett im Sechser-Abteil verfügbar
ist.
Auf den überschaubaren Bahnsteig – es gibt nur drei Gleise – haben sich ein
paar Tourist*innen mit überdimensionalen Rucksäcken verirrt. Sie fahren
nach Bar, einer Küstenstadt mit Wohnblöcken und Hotelanlagen. Die
Einheimischen hingegen warten an Gleis 3: Familien mit Kindern, Grüppchen
von Jugendlichen mit Rollkoffern. Sie steigen mit mir in den
rot-orangefarbenen Zug, der soeben anrollt und aussieht, als hätte er
gerade die 70er verlassen.
Drinnen füllen sich die Abteile schnell – dem Rest bleibt nur der Gang. Das
aber stellt sich als Glücksfall heraus. Die Fenster lassen sich nach unten
schieben, der Kopf so in den Fahrtwind halten. Durch die Scheiben im Abteil
würde man sowieso kaum etwas sehen, so vergilt sind sie.
Der Zug, innen mit hellbraunem Holzfurnier ausgekleidet, hat seine besten
Jahre in den 70ern gelassen. Zumindest die roten Samtpolster der Sitze
scheinen zwischendurch neu bezogen worden zu sein.
## Ein ambitioniertes Eisenbahnprojekt
Kaum hat der Zug Podgorica hinter sich gelassen, kommen die Berge zum
Vorschein. Wir schlängeln uns entlang eines türkisen Flusses, der Morača,
und der neu gebauten Autobahn, für die sich das Land bei China verschuldet
hat. Dass das Mittelmeer nah ist, sieht man an den Zypressen und
Feigenbäumen. Bald werden die Berge schroffer, nur noch wenige Bäume
wachsen auf ihnen. Die Felswände geben bis zu 1.000 Meter tiefe Schluchten
frei, unten immer wieder das türkise Wasser. Bis Belgrad werden wir durch
254 Tunnel und über 243 Brücken drei Gebirgszüge überqueren.
Als die Strecke 1976 eröffnet wurde, galt sie als eine der größten
europäischen Eisenbahnprojekte des 20. Jahrhunderts – vor allem wegen der
komplizierten Trassenführung, die als eine der schwierigsten des Kontinents
gilt. Für die damalige Republik Jugoslawien stellte sie ein kostspieliges
und umstrittenes Prestigeobjekt dar, das einige der isoliertesten Regionen
Jugoslawiens verbinden sollte. Ob weiter Blick in die Ebene oder eine
steile Felswand direkt vor dem Zugfenster: Streckenweise ist nichts als
wilde Natur zu sehen. Kein Haus, keine Straße. Montenegro gilt auch heute
als eine der am dünnsten besiedelten Regionen Europas.
Manchmal bleibt der Zug trotzdem stehen, mitten am Hang. Wer soll hier
bitte ein- oder aussteigen? So liegt der Bahnhof Lutovo teilweise im Tunnel
und auf zwei Hangbrücken. Nur das Bahnhofshäuschen hat festen Boden unter
sich. Mit einer Steigung von bis zu 25 Promille ist hier einer der
heikelsten Abschnitte der Strecke.
Nur die Čuvari pruge sieht man regelmäßig. Vor kleinen Hütten tauchen sie
mit ihren leuchtend roten Mützen aus dem Nichts auf. Die
Streckenwärter*innen gehen die ihnen zugeteilten Abschnitte der
Strecke jeden Tag zu Fuß ab. Beobachten sie Murenabgänge oder Steinschläge,
sprühen sie Farbmarkierungen auf die Gleise, um die Lokführer*innen zu
warnen. Die Strecke ist nicht ungefährlich. Dauerte es bei der Eröffnung
der Strecke sieben Stunden, um von Bar nach Belgrad zu gelangen, muss man
heute mindestens elf Stunden einplanen. Wegen des Streckenzustands tuckeln
wir nur langsam die Schluchten entlang.
## Die höchste Eisenbahnbrücke Europas
Mit diesem Wissen wird mir beim Anblick des Mala-Rijeka-Viadukts schon
etwas mulmig zumute. Im Schneckentempo überqueren wir 198 Meter über dem
Boden das Tal. Es ist die höchste Eisenbahnbrücke Europas. Da heben auch
die meisten der anderen Passagiere endlich ihre Köpfe, die sie bisher
desinteressiert auf ihr Handy gerichtet hatten, während ich, ganz
aufgeregte Touristin, meinen Kopf ständig aus dem Fenster hänge.
Nach einem endlosen Tunnel ist plötzlich Herbst. Die Luft kühlt schlagartig
zehn Grad herunter, die bewaldeten Hügel leuchten in Rot, Orange, Gelb. Der
Urwald des Nationalparks Biogradska Gora ist mit seinen Wäldern und Seen
ein empfehlenswertes Wandergebiet. Langsam setzt die Dämmerung ein, die
Berge werden zu schwarzen Schatten. Bevor die Dunkelheit sich über alles
legt, kommt wieder ein türkiser Fluss zum Vorschein – diesmal der Lim.
Gegen 19 Uhr halten wir in Bijelo Polje, kurz vor der serbischen Grenze.
Wer die Strecke nach Belgrad nicht am Stück fährt, kann dort noch gemütlich
zu Abend essen. Neben dem verlassenen Bahnhofsgebäude, das gerade mit
EU-Mitteln renoviert wird – Montenegro ist seit 2010 Beitrittskandidat –,
steht ein kleines Lokal. Eine Frau und ein Mann hängen am Spielautomaten
herum. Drei Polizisten bestellen am Nebentisch Schnaps. Auf der Speisekarte
findet sich natürlich auch Ćevapčići. Wer später nicht hungrig zu Bett
gehen will, sollte zugreifen, denn das Bordbistro hat meist nur Bier oder
Kaffee zu bieten oder fällt ganz aus. Schade, denn zu Zeiten Jugoslawiens
soll dort das Schnitzel noch frisch geklopft worden sein.
## Allein am Bahnsteig
Zurück am Bahnhof hilft mir ein Herr zu klären, ob ich hier auch richtig
bin. Dass hier sonst keine Menschenseele ist, kommt mir etwas komisch vor.
Er ist sichtlich bemüht, mir mein schlechtes Gefühl zu nehmen, bringt mich
sogar zum Bahnsteig. Der Zug lässt auf sich warten. Dass er selten
pünktlich ist, scheinen die anderen Passagiere zu wissen. Sie trudeln erst
nach der offiziellen Abfahrtszeit ein. Ich treffe auch die Polizisten aus
dem Lokal wieder: Mit Taschenlampen streifen sie zwischen den Waggons
umher, um kurz vor der Grenze Schmuggelware aufzuspüren. Feierabendschnäpse
waren das vorhin also nicht.
Die Strecke Bar–Belgrad ist eine der wenigen internationalen
Direktverbindungen der Region. Andere wurden in den letzten Jahren
eingestellt, etwa jene von Zagreb nach Sarajevo 2016 oder von Sarajevo nach
Belgrad 2009. Wegen politischer Spannungen konnten sich die
Jugoslawien-Nachfolgestaaten auf keinen Kompromiss bei der Finanzierung
einigen.
Mit metallenem Scheppern und Quietschen kommt der Zug mit 50 Minuten
Verspätung vor uns zum Stehen. Der richtige, mit Graffiti übersäte Waggon
ist schnell gefunden, der Schaffner weist den Weg zum Abteil. Dort treffe
ich auf die ersten Tourist*innen seit Podgorica: In meinem Abteil dösen
schon zwei Deutsche vor sich hin. Das Gespräch fällt entsprechend knapp
aus.
Auf dem Gang bietet ein Mann noch zu später Stunde piva (Bier), voda
(Wasser) und sok (Saft) aus seiner großen Tüte an. Mit Englisch kommt man
hier übrigens nicht sehr weit. Ein paar Brocken Serbisch helfen, etwa:
dolazak (Ankunft), krevetni čaršav (Bettlaken) oder laku noć (Gute Nacht).
Nach zwei Passkontrollen auf beiden Seiten der Grenze lasse ich mich in das
nach süßlichem Waschmittel riechende Kissen fallen und ziehe die schwere
Wolldecke zur Nase hoch. Gegen 6 Uhr morgens sehe ich durchs Fenster Hügel
und Häuser im rosa Morgenlicht. Der Schaffner schiebt die Tür auf: Beograd
Centar? – Da. – Pet minuta.
10 Oct 2022
## AUTOREN
Jana Lapper
## TAGS
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Schwerpunkt Klimawandel
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