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# taz.de -- Suche nach Identität: Zeitreise ins jüdische Polen
> Vor rund 100 Jahren reiste der Schriftsteller Alfred Döblin nach
> Warschau, Lublin, Krakau, Lodz. Auch auf der Suche nach seiner jüdischen
> Identität.
Bild: Warschau, Hotel Bristol, 1921: Von hier aus unternahm Alfred Döblin jede…
Mit der Bahn eine Zeitreise machen? Noch dazu ins jüdische Polen der 1920er
Jahre? Geht das? Ist da nicht seit dem Zweiten Weltkrieg alles kaputt? Ja
und nein. Vieles wurde originalgetreu oder im Stil des Realsozialismus
wiederaufgebaut. Anderes war nie zerstört. Die sogenannten „Judenstädte“
allerdings, für die sich der Berliner Arzt, Schriftsteller und Journalist
Alfred Döblin auf seiner „Reise in Polen“ 1924 ganz besonders interessiert,
sucht man heute vergeblich.
Doch mit Döblins Reiseführer in der Hand können Interessierte heute in
Geschichte und Gegenwart zugleich unterwegs sein. Die Reiseroute führt von
Warschau, Krakau, Lodz und Lublin auch ins „Jerusalem des Nordens“, wie das
heute litauische Wilna (Vilnius) oft genannt wird, und in die ehemalige
Hauptstadt von Galizien und Lodomerien, dem heute ukrainischen Lemberg
(Lviv).
Polen war 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Staat
wiedererstanden. Da hatte es 123 Jahre Besatzung durch Preußen,
Österreich-Ungarn und Russland hinter sich, zahlreiche Aufstände und
blutige Niederlagen. Auf die erste Freude 1918 folgte bald Ernüchterung,
denn alle Gesetze der letzten hundert Jahre, die gesamte Verwaltung, die
Schulen und Universitäten, selbst Straßen und Bahnlinien mussten auf den
neuen Staat, die Zweite Polnische Republik, zugeschnitten werden.
Doch die Operation „Aus drei mach eins“ brachte zunächst vor allem eins
hervor – Chaos. Zudem gab es noch ein schwieriges Problem zu lösen: die
vielen Völker, die jetzt in einem Staat zusammenleben sollten, mussten erst
noch lernen, miteinander auszukommen: Polen, Ukrainer, Juden, Deutsche,
Litauer und Belarussen. Nationalitätenkonflikte waren an der Tagesordnung.
Als Döblin auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin, dem heutigen Ostbahnhof,
auf den Nachtzug nach Warschau wartet, ist ihm mulmig zumute. Denn er will
nicht nur das neue Polen kennenlernen, sondern sich vor allem über seine
eigene Identität als Jude klarwerden. Ende 1923 hatte es im Berliner
Scheunenviertel ein Pogrom gegen die dort lebenden Juden aus Osteuropa
gegeben.
Döblin war schockiert – inwiefern betraf der immer virulenter werdende
Antisemitismus auch ihn, den deutschassimilierten Juden? Was machte
überhaupt einen echten, also nicht assimilierten Juden aus? In Polen lebten
in den 1920er Jahren die meisten Juden Europas. Doch auf dem Bahnhof kommen
Döblin plötzlich Zweifel: Wird er ohne polnische Sprachkenntnisse im
Nachbarland klarkommen?
## In Warschau
Die Sprachbarriere ist auch heute oft der Grund dafür, dass eine geplante
Reise ins östliche Nachbarland eine leichte Beklommenheit auslöst. Doch die
Weltsprache Englisch hat auch in Polen ihren Siegeszug angetreten. Also:
keine Angst! Auch an Zugverbindungen mangelt es nicht: Der
Berlin-Warschau-Express fährt mehrfach am Tag vom Berliner Hauptbahnhof ab
und kommt nach rund sechs Stunden in Warschau an. Besonders empfehlenswert:
das Bordrestaurant „Wars“.
Heutige Reisende kommen am Zentralbahnhof direkt neben dem Warschauer
Kulturpalast an. Beide Gebäude gab es zu Döblins Zeiten noch nicht. Der
gigantische „Palast der Kultur und Wissenschaft“ ist ein „Geschenk Stalins
an das Brudervolk der Polen“ und war bei den Warschauern so verhasst, dass
sie ihn nach dem Abzug der letzten Sowjetsoldaten in den 1990er Jahren
sprengen wollten. Am Ende wurde er jedoch unter Denkmalschutz gestellt, und
nun wachsen rund um ihn immer mehr Wolkenkratzer in die Höhe. So soll er
irgendwann zumindest optisch aus der Topografie Warschaus verschwinden.
Die wenigsten Reisenden werden wissen, dass der Kulturpalast genau da
steht, wo 1940 das einstige „Seuchensperrgebiet“ begann, wie die deutschen
Besatzer das Ghetto mitten im Herzen Warschaus nannten. Im Herbst 1924
besuchte Döblin hier noch die quirlige „Judenstadt“ mit ihren mondänen
Geschäftsstraßen, Parks und der liberalen Großen Synagoge einerseits und
den Gassen voll Morast, Armut und kleinen Betstuben andererseits.
Die meisten sprachen Jiddisch und – da Warschau lange Jahre im russischen
Teilungsgebiet lag – auch Russisch. Nur wenige beherrschten das Polnische
so gut, dass ihnen der Aufstieg in die polnische Elite gelang. Doch es gab
durchaus polnisch-jüdische Zeitungen, weltliche wie religiöse Knaben- und
Mädchenschulen, ein sehr reges polnisches Kulturleben, in denen Juden und
Jüdinnen ganz selbstverständlich mitwirkten – zumindest bis zur
Machtergreifung Hitlers 1933, als die deutschen Arier-Paragraphen auch in
Polen Nachahmer fanden.
1939, beim deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen, war jeder dritte
Einwohner Warschaus ein Jude oder eine Jüdin – rund 350.000 Menschen bei
einer Gesamtbevölkerung von rund 1,2 Millionen. Die meisten wohnten im
Stadtteil Wola in direkter Nachbarschaft zur historischen Altstadt und auf
der anderen Weichselseite, in Praga.
Döblin wohnte im Hotel „Bristol“, das bis heute eines der besten und
teuersten Hotels Warschaus ist. Von hier aus unternahm er jeden Tag lange
Entdeckungsspaziergänge, traf sich mit Journalisten, Politikern, Literaten,
Musikern, mit Polen und Juden – und notierte alles ganz penibel, was ihm
erwähnenswert und interessant erschien. Er ließ sich die Parteienstruktur
der jungen Republik erklären, die politische Ausrichtung der wichtigsten
Zeitungen – und stand dann fassungslos vor der geradezu gewalttätig-großen
Alexander-Newski-Kathedrale.
Sie sollte wie später der stalinistische Kulturpalast der Hauptstadt Polens
den unauslöschlichen Stempel der Vorherrschaft Moskaus aufdrücken. Doch
kaum waren die Statthalter des Zaren und ihre Soldaten weg, begannen die
Polen mit dem Abriss dieses Symbols der Russifizierung. Döblin trauert zwar
um das schöne Gotteshaus, stimmt letztlich aber den Polen und damit dem
Abriss zu. Ein paar Straßen weiter, in der „Judenstadt“, beobachtet er im
Schaufenster einer Gänseschlachterei „eine derbe kleine Frau bis an die
Ellbogen in Blut“. Sie nimmt eine Gans aus. Er registriert auch
„Tapezierer, Bäcker, Metzger, Tandgeschäfte. Ein fliegender Buchhändler mit
jiddischen Schriften. Haufen von Kindern.“
## Die Geschichte der polnischen Juden
Heute leben in Warschau noch bis zu 3.000 Juden. Anders als die Altstadt
und einige Prachtstraßen wurde nach 1945 die vollkommen zerstörte
Judenstadt nicht wieder aufgebaut. Hier boomt heute die Warschauer City mit
glitzernden Wolkenkratzern aus Glas und Stahl. Seit 2013 lädt Polin, das
Geschichtsmuseum der Juden Polens, in seine spektakuräre Ausstellung ein.
Es steht direkt gegenüber dem großen Denkmal für die Helden des
Ghettoaufstandes 1943.
Nach zwei Wochen fährt Döblin erst mit dem Nachtzug nach Wilna/Vilnius, in
die heutige Hauptstadt Litauens, danach über die ostpolnische Stadt Lublin
zunächst nach Lemberg/Lviv, das heute in der Ukraine liegt, und schließlich
in die südpolnische Kulturmetropole Krakau.
Döblin trifft sich mit zahlreichen Gelehrten, Künstlern und Publizisten,
besucht polnische und jüdische Schulen und Universitäten, geht in Kirchen
und Synagogen, lässt sich aber auch gerne treiben und macht dabei
Zufallsentdeckungen, die er mal ganz penibel, mal scharf kommentierend
festhält. Immer wieder steuert er die „Judenstädte“ an, versteht schnell,
dass „jüdische Assimilation“ anders als in Westeuropa nicht die Aufgabe der
jüdischen Nationalität bedeutet, sondern nur eine kulturelle Annäherung an
Polen, Litauer oder Ukrainer. Vielerorts bleiben die Juden aber unter sich,
bilden eine ganz eigene Kultur und Tradition aus, was für Döblin aber keine
Option ist.
Mit dem Zweiten Weltkrieg, der deutschen und sowjetischen Besatzung sowie
der Shoah wurde diese osteuropäisch-jüdische Kultur unwiederbringlich
zerstört. Viele Orte bestehen nicht einmal mehr in der Erinnerung fort.
Immerhin aber gibt es Zeitzeugnisse wie den Reisebericht von Döblin aus dem
Jahr 1925, der sich so aktuell liest, als wäre der Schriftsteller und
Journalist erst gestern aus dem Zug in Warschau, Wilna, Lemberg, Lublin
oder Krakau getreten.
## Im polnischen Manchester
Döblins letzte Station ist Lodz, das polnische Manchester, das erst im 19.
und 20. Jahrhundert groß und reich wurde. Die Textilindustrie zwang Polen,
Russen, Deutsche und Juden zu einem so engen Zusammenleben, wie es es in
keiner anderen Stadt gegeben hatte. Es gibt keine Judenstadt, sondern nur
das Armen-Viertel Ballut/Baluty, in dem neben Polen auch viele Juden leben.
Andererseits gehört der mit Abstand prächtigste Palast dem
Großindustriellen Izrael Poznanski. Neben seiner gigantischen Fabrik ließ
er Arbeiterwohnungen bauen, die gemessen am damaligen Standard
Vorbildcharakter hatten.
Lodz, die heute nach Warschau, Krakau und Breslau viertgrößte Stadt Polens,
wurde im Zweiten Weltkrieg ebenso wenig zerstört wie Krakau, aber in der
Nachkriegszeit stark vernachlässigt. Den Kommunisten waren die
konservativen Eliten in Krakau genauso ein Dorn im Auge wie die
selbstbewussten Textilarbeiterinnen in Lodz, die auch in der
Solidarnosc-Zeit lautstark gegen die Kommunistische Partei demonstrierten.
Lodz wird seit einigen Jahren Straße für Straße saniert. In einigen Jahren
wird die einst heruntergekommene Stadt eine der schönsten Polens sein.
Döblin schreibt: „Nun ade. Es gibt dieses Land. Ich weiß es herzlich.“
17 Oct 2022
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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