# taz.de -- Jiddische Autorin Rosenfarb: Mit Worten die Angst überwinden | |
> Die auf Jiddisch schreibende Autorin Chava Rosenfarb ist eine | |
> literarische Entdeckung. Eine Anthologie von ihr ist nun auf Deutsch | |
> erschienen. | |
Bild: Chava Rosenfarb – hier auf einem Foto aus dem Jahr 2006 in Toronto – … | |
Auch in ihrer neuen Heimat Kanada schrieb Chava Rosenfarb fast | |
ausschließlich in ihrer Muttersprache Jiddisch. „Den Großteil meiner | |
Kindheit war es die einzige Sprache, die ich kannte, da wir keinerlei | |
Kontakt zu Polen hatten“, schreibt sie in einem ausnahmsweise auf Englisch | |
verfassten autobiografischen Essay. | |
Geboren 1923, wuchs Chava Rosenfarb auf im polnischen Łódź. 1940 musste die | |
17-Jährige mit ihren Eltern und der kleinen Schwester in das von den Nazis | |
eingerichtete jüdische Ghetto der Stadt ziehen. „Dort lebten wir | |
fortwährend dem Hungertod nah und arbeiteten für die Deutschen, in | |
ständiger Angst vor der Deportation in die Vernichtungslager.“ Die | |
viereinhalb Jahre, die sie im Ghetto von Łódź gefangen war und während | |
derer sie die für ihr Leben wichtigste künstlerische Prägung erfuhr, hat | |
Rosenfarb in ihrer Romantrilogie „Der boym fun lebn“ (dt. „Der Baum des | |
Lebens“) verarbeitet, die 1972 auf Jiddisch erschien. | |
Seine Autorin bekam mehrere Literaturpreise dafür, darunter den | |
Manger-Preis, Israels höchste Auszeichnung für jiddische Literatur, wie | |
Rosenfarbs Tochter Goldie Morgenthaler in ihrem Vorwort zur ersten | |
deutschsprachigen Anthologie von Texten ihrer Mutter berichtet. Erschienen | |
ist dieses „Lesebuch“ im Erlanger Homunculus Verlag, der sich schon | |
mehrfach um die (Neu-)Entdeckung von Literatur mit jüdischer Thematik | |
verdient gemacht hat. | |
Auch ein Auszug aus „Der Baum des Lebens“ ist im Band enthalten, ein | |
Kapitel, das von einer jungen Frau (eine autobiografisch geprägte Figur) | |
handelt, die in einer [1][illegalen Schule im Ghetto] minderjährige | |
Zwangsarbeiter einer Metallwerkstatt unterrichtet. Es macht neugierig auf | |
den großen Rest des dreibändigen Romans, der aus den wechselnden | |
Perspektiven von zehn sehr unterschiedlichen Personen erzählt ist, um das | |
Leben im Ghetto von Łódź möglichst umfassend einzufangen. | |
## Das jiddische Wort „khurbn“ | |
Doch auch wenn man es spontan bedauern mag, nicht mehr von Rosenfarbs | |
wahrscheinlich wichtigstem Werk zu lesen zu bekommen als diesen kurzen | |
Auszug von zehn Seiten, ist es doch eine gute Entscheidung, für eine erste | |
deutschsprachige Veröffentlichung, die Form der Anthologie zu wählen. Auf | |
diese Weise wird das weite Spektrum von Rosenfarbs Schaffen deutlich; und | |
ebenso deutlich wird, dass auch der weite zeitliche Horizont, der sich über | |
all diesen Texten spannt, und die geografische Entfernung von den einstigen | |
Orten des Schreckens nichts daran ändern, dass dieses Schaffen von der | |
Erfahrung der Shoah grundiert wird. (Wir lernen auch das jiddische Wort | |
dafür: khurbn.) Das Trauma aber erscheint in diesen Texten zu Literatur | |
verwandelt, zu künstlerisch durchwirktem Leben. | |
Die Gedichte, die die junge Autorin im Ghetto von Łódź schrieb, konnte sie | |
auf ihrem anschließenden Weg durch mehrere Konzentrationslager nicht | |
retten; der Rucksack, in dem sie waren, wurde ihr bei der Ankunft in | |
Auschwitz weggenommen. Später rekonstruierte sie viele Gedichte aus dem | |
Gedächtnis. | |
Etwas Lyrik ist auch in diesem Band enthalten; eines der Gedichte war | |
erstmals in Rosenfarbs erstem veröffentlichtem Lyrikband wenige Jahre nach | |
dem Krieg erschienen. | |
Der früheste Prosatext der vorliegenden Anthologie ist ein Auszug aus einem | |
Tagebuch, das Chava Rosenfarb nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen | |
führte, als sie, langsam vom Typhus genesend, in der Krankenbaracke lag. | |
Der Wille, Zeugnis abzulegen, ist ein starker Antrieb beim Schreiben, dem | |
in der Zeit der Verfolgung enorme Bedeutung zuwuchs, wie Rosenfarb in ihren | |
Erinnerungen an die Zeit im Ghetto formuliert: „Der Drang zu schreiben war | |
ebenso stark wie der Hunger. […] Jeder Schreibende hatte die Hoffnung, dass | |
ihre oder seine Stimme gehört würde. Es war der Drang, sich durch die | |
magische Kraft des geschriebenen Wortes über die Angst zu erheben […] | |
Selbst in den Konzentrationslagern, selbst angesichts der Flammen des | |
Krematoriums gab es jene, die schrieben.“ | |
Auch zwei in späteren Jahren entstandene, abgeschlossene Erzählungen | |
enthält der Band. „Der 19. April“ spielt in Israel während einer | |
Shoah-Gedenkveranstaltung und evoziert sehr berührend den Geist einer | |
ermordeten Geliebten. „In der Serengeti“ spielt in den 70er Jahren [2][in | |
Afrika während einer Safari], auf der ein amerikanischer Psychiater | |
gleichsam gegen seinen eigenen Willen einen tief in ihm verborgenen, | |
verdrängten jüdischen Kern erkennt. | |
## Das Leben in einem fiktiven Shtetl | |
Dass Chava Rosenfarb zeitlebens – sie starb 2011 – dem Jiddischen als | |
literarischem Ausdrucksmittel treu blieb, zeigt die kulturelle Stärke | |
dieses jüdischen Kerns in ihr selbst. In ihrem Roman „Bociany“ („Die | |
Störche“), der vom Leben in einem fiktiven Shtetl erzählt, lässt sie jene | |
Vorkriegswelt wieder aufleben, in der das Jiddische als Kultursprache | |
gepflegt wurde und die durch die deutschen Faschisten auf immer zerstört | |
worden ist. Durch dieses Lesebuch, das durch das Engagement der | |
Übersetzerin Sandra Israel-Niang zustandekam, können wir Nachgeborenen nun | |
immerhin ausschnittsweise einen kleinen Blick in jene Welt werfen. Und | |
vielleicht, hoffentlich, gibt es ja irgendwann auch einen ganzen Roman von | |
Chava Rosenfarb auf Deutsch zu lesen. | |
8 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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