# taz.de -- Buch „Die Rache ist Mein allein“: Vergiftete Brote für die SS | |
> Dina Porat beschreibt erstmals umfassend den Versuch überlebender | |
> Jüdinnen und Juden, nach der Schoa möglichst viele Deutsche umzubringen. | |
Bild: Partisanengruppe in Polen, in der Mitte Abba Kovner, rechts seine Frau Vi… | |
Vor etwa sieben Jahren traf ich in einem Tel Aviver Altersheim Yehuda | |
Maymon, der 1924 unter dem Namen Leopold Wassermann in Polen geboren wurde. | |
Der freundliche alte Herr erzählte, er habe nach seiner Flucht von einem | |
der Todesmärsche aus Auschwitz zusammen mit einer Gruppe geplant, Deutsche | |
umzubringen. | |
Er berichtete von ihrer Absicht, das Brot in einem US-Gefangenenlager für | |
SS-Männer zu vergiften. Als ich ihn fragte, ob wir uns bei Gelegenheit zu | |
einem längeren Gespräch treffen könnten, winkte Maymon ab. Er habe doch | |
schon alles dazu Dina Porat gesagt. | |
Nun hat die emeritierte Tel Aviver Professorin nach langwierigen Recherchen | |
ihre Monografie zu diesem nahezu unbekannten Kapitel am Ende des Zweiten | |
Weltkriegs vorgelegt: Porats Buch trägt den Titel „Die Rache ist Mein | |
allein“. | |
Es geht dabei um eine Gruppe junger jüdischer Überlebender um den | |
[1][litauischen Dichter Abba Kovner], die umfassende Pläne dazu anstellte, | |
den Massenmord an den Juden gegenüber den Deutschen zu vergelten. Letztlich | |
scheiterten diese Vorbereitungen, und nur wenige Eingeweihte erfuhren | |
darüber mehr als ein paar Schlagworte. | |
## Die wenigen, die überlebt haben | |
Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende zuneigte, als mehr und mehr Städte | |
im Osten und Westen Europas befreit wurden, war das auch gleichbedeutend | |
mit dem Ende des Martyriums der wenigen Juden, die die Schoa überlebt | |
hatten. Besonders in Osteuropa hatten einige von ihnen, selbstständig oder | |
in Zusammenarbeit mit der Roten Armee, als Guerillakämpfer in den Wäldern | |
gegen die Deutschen gekämpft. | |
Viele Überlebende waren nach dem Angriff der Wehrmacht in den Osten der | |
Sowjetunion geflüchtet und hatten dort den Krieg überstanden. Wenige | |
überlebten als Zwangsarbeiter in Arbeitslagern und KZs, noch weniger im | |
Versteck. | |
Nahezu allen aber stellte sich die Frage, ob die Taten der Nazis und ihrer | |
Helfer ungesühnt bleiben sollten. Schon bei der Befreiung von Lagern kam es | |
vereinzelt zu Aktionen gegen die Wachmannschaften. Rachemotive in den | |
besetzten Ländern gegen die deutschen Besatzer waren reichlich vorhanden, | |
und es kam von vielen Seiten zu solchen Aktionen, etwa bei der Vertreibung | |
der Deutschen aus den Ostprovinzen. | |
Doch gab es im Chaos Nachkriegseuropas nur sehr vereinzelt Tötungen | |
vonseiten jüdischer Überlebender an ihren Peinigern – mit einer großen | |
Ausnahme, der Porat detailliert nachgeht. | |
## Nakam – Hebräisch für Rache | |
Abba Kovner hatte als Partisanenkämpfer überlebt. Nach der Befreiung kam | |
der charismatische Redner ins polnische Lublin, wo er rasch eine Gruppe um | |
sich sammelte, nur gut fünfzig junge Frauen und Männer, die aber zu allem | |
entschlossen waren. Lublin, das war auch der Ort des | |
[2][Konzentrationslagers Majdanek.] | |
Diese Gruppe „Nakam“ (Hebräisch für Rache) verfolgte drei Ziele. Als | |
überzeugte Zionisten wollten ihre Mitglieder den gestrandeten Jüdinnen und | |
Juden dabei helfen, nach Erez Israel auszuwandern. Als Lehre aus den | |
Geschehnissen waren ihre Mitglieder zudem der Überzeugung, dass ein | |
gemeinsames Agieren der Überlebenden jenseits der starken Fraktionierungen | |
innerhalb des Zionismus notwendig war. Und schließlich stand auf ihrem | |
Programm ein Hauptziel: die Rache an den Deutschen. | |
Dina Porat begleitet die Wege dieser klandestinen Vereinigung: ihre | |
Vorbereitungen in Bukarest, die Unterstützung der Auswanderung, „Bricha“ | |
genannt, und das erste Zusammentreffen mit der jüdischen Brigade, einem | |
Verband innerhalb der britischen Armee, der vor allem palästinensische | |
Juden umfasste, in Norditalien kurz nach dem Waffenstillstand. | |
Einzelne Soldaten dieser Brigade hatten da ihrerseits, selbstverständlich | |
ohne Wissen ihrer britischen Kommandeure, damit begonnen, in den Alpen | |
lebende SS-Männer zu jagen und umzubringen. Die Vorstellungen der | |
Kovner-Gruppe stießen bei ihnen durchaus auf Sympathie, doch unterblieb | |
eine Kooperation. | |
## Land der Täter | |
Ganz anders verhielt es sich mit den Rettungsaktionen für die Juden | |
Osteuropas. Hier spannten die Soldaten zusammen mit Freiwilligen aus Erez | |
Israel und den Überlebenden selbst ein umfassendes Netzwerk, das die | |
Überlebenden auf illegalen Wegen und über mehrere Grenzen hinweg | |
ausgerechnet nach Deutschland und Österreich führte. | |
Dort, insbesondere in der US-Zone, galten die Chancen für eine spätere | |
Überfahrt als günstig. So erreichten tatsächlich weit mehr als 100.000 | |
Juden nach dem Krieg das Land der Täter – quasi als Transitstation. | |
Abba Kovners Vorstellungen über eine Rache an den Deutschen stießen | |
hingegen bei den führenden Zionisten im damaligen britischen Mandatsgebiet | |
Palästina auf strikte Ablehnung. Dort bereitete man sich auf eine | |
Staatsgründung vor, jegliche Aktivitäten, die von den Alliierten abgelehnt | |
wurden und das Image des Zionismus beschädigen könnten, galten da als | |
unpassend. Auch die Idee einer überparteilichen Überlebendenorganisation | |
löste Befremden aus. | |
Nun gingen Kovners Vorstellungen tatsächlich weit über den Mord an | |
einzelnen verantwortlichen SS-Männern hinaus. In einem „Plan A“ sahen sie | |
die Tötung von sechs Millionen Deutschen vor, etwa durch eine Vergiftung | |
des Trinkwassers. Sollte diese Absicht nicht zu verwirklichen sein, | |
beabsichtigte ein „Plan B“ die Tötung einer möglichst großen Anzahl von | |
Nazis. | |
## Der „Plan A“ | |
Porat beschreibt anhand von unzähligen Dokumenten und Interviews mit | |
Beteiligten detailliert, warum dieser „Plan A“ schon im Ansatz scheitern | |
musste. Die zionistische Führung lehnte den geplanten Massenmord von Beginn | |
an strikt ab, auch aus moralischen Gründen. Kovner, unter der Tarnung als | |
Soldat der jüdischen Brigade nach Palästina einbestellt, fand dort nur | |
geringe Unterstützung. | |
Es gelang ihm allerdings, Gift zu besorgen und auf seiner Rückreise nach | |
Marseille mitzunehmen. Doch dort angekommen flog seine Tarnung auf, das | |
Gift landete im Mittelmeer, Kovner im Gefängnis. Damit war „Nakam“ ihres | |
Kopfes beraubt. Doch ihre Mitglieder machten weiter, verzehrt vom Hass auf | |
die Deutschen. Porat gelingt es in ihrem Buch, diese Motive verständlich zu | |
machen, wichtig, gerade weil diese so gar nicht ins Bild der heutigen | |
deutsch-israelischen Verständigung passen mögen. | |
Damals waren sie sehr passend. „Berührt sie nicht, ignoriert sie. Es ist | |
nicht unsere Aufgabe, ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu vergelten.“ | |
So äußerte sich Rabbiner Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem Ghetto | |
Theresienstadt, als einige Mithäftlinge Rache an ihren Peinigern übten. | |
Rache gehöre Gott allein. Auch andere Autoritäten der jüdischen Welt | |
lehnten solche Aktionen ab. Angesichts der grauenhaften Geschehnisse stellt | |
sich freilich nicht die Frage, warum es vereinzelt zu jüdischen | |
Revanche-Aktionen gekommen ist, sondern warum es so wenige waren, die daran | |
teilnahmen. | |
## Arsen für die SS-Männer | |
Diese wenigen hatten sich inzwischen in Deutschland aufgeteilt, getarnt als | |
ehemalige Zwangsarbeiter. Die Zentrale der Organisation „Nakam“ befand sich | |
in Paris, so wie auch das Hauptquartier der Rettungsaktion „Bricha“. Beide | |
operierten jenseits der Gesetze – aber durchaus getrennt. | |
Wiederholt machten die „Bricha“-Verantwortlichen, die mit direkter | |
Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina arbeiteten, den nach | |
Rache dürstenden „Nakam“-Leuten klar, dass ein Massenmord an Deutschen | |
nicht infrage käme. Anders verhielt es sich mit einer gezielten Aktion | |
gegen SS-Männer. Eine solches Vorgehen, so die Signale, könne man sich | |
durchaus vorstellen. | |
Und so kam es, dass in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1946 drei Juden | |
in einer Nürnberger Bäckerei Tausende Brote mit Arsen bestrichen. Das Brot | |
war für ein großes US-Gefangenenlager für SS-Angehörige im Stadtteil | |
Langwasser bestimmt, das Gift kam aus Paris und musste vor der Anwendung | |
verdünnt werden. | |
An den folgenden Tagen litten Hunderte SS-Männer unter heftigen | |
Bauchschmerzen. Mehr geschah nicht. Kein einziger der Nazis war gestorben. | |
Weshalb das Arsen nicht seine gewünschte tödliche Wirkung gezeigt hatte, ob | |
es zu stark verdünnt oder unzureichend umgerührt worden war, ob die | |
„Bricha“-Leute damit etwas zu tun hatten – dieses Detail konnte auch Dina | |
Porat nicht mehr ganz aufklären. | |
## Die unvorstellbare Aussöhnung | |
Die Frauen und Männer der Organisation „Nakam“ wurden kurz darauf unter | |
tätiger Mithilfe der „Bricha“ auf klandestinen Wegen nach Palästina | |
verbracht. Manche machten Karriere, andere gingen in Kibbuzim. Zu | |
besonderen Anlässen traf man sich. | |
Yehuda Maymon, der Mann im Tel Aviver Altersheim, sagte mir bei unserer | |
Begegnung, heute begrüße er [3][die Aussöhnung zwischen Israelis und | |
Deutschen], die er sich damals nicht habe vorstellen können. Seine | |
persönlichen Worte sind so ziemlich das einzige Detail, das nicht in Dina | |
Porats enorm materialreicher Studie auftaucht. | |
Ihr Buch ist nicht nur wichtig, weil es ein nahezu unberührtes Thema der | |
Geschichte umfassend aufklärt. Es hilft auch zu verstehen, was das | |
Menschheitsverbrechen Holocaust angesichts des Mordes an ihren Kindern, | |
Eltern und Verwandten mit den Überlebenden gemacht hat. Michael Brenner | |
nennt die Pläne von „Nakam“ im Vorwort zu Recht „verbrecherisch“. Doch… | |
waren das Ergebnis eines noch viel größeren Verbrechens. | |
21 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.yadvashem.org/search.html?val=Abba%20Kovner&lang=en#gsc.tab… | |
[2] https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/60/Staatliches-Museum-in-Ma… | |
[3] /Gedenken-und-Luftwaffe/!5706524 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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