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# taz.de -- Gedenken an die Shoah in Weißrussland: So dunkel der Wald
> Die Gedenkstätte Trostinez ist eine Zäsur. Über die Massenmorde an Juden
> wurde dort lange geschwiegen. Doch Belehrungen sind unpassend.
Bild: Nicht länger schweigen: Ein Chor singt zur Eröffnung der Gedenkstätte …
Minsk taz | Zwischen Hochhäusern sozialistischer Prägung eingeklemmt liegt
nahe der Innenstadt von Minsk eine unscheinbare Senke im Boden, die von
Bäumen beschattet wird. „Jama“ (Grube) wird dieses Gelände genannt, das
sich zu Zeiten der deutschen Besatzung am Rande des jüdischen Ghettos
befand. In diese Grube warfen SS-Männer und ihre Helfer am 2. und 3. März
1942 die Leichen von etwa 5.000 zuvor ermordeten russischen Juden. Es war
nur eine Aktion unter vielen, denen die jüdische Bevölkerung der
weißrussischen Hauptstadt zum Opfer fiel.
Im Jahr 1946, zwei Jahre nach der Befreiung, errichteten jüdische
Überlebende in der Grube einen kleinen Obelisk zur Erinnerung an den
Holocaust. Er blieb über Jahrzehnte hinweg der einzige Gedenkplatz, der an
den Judenmord in Minsk erinnerte. Juden [1][durften in der Sowjetunion]
nicht explizit als Opfergruppe genannt und geehrt werden, sie wurden
eingemeindet in das Gedenken an die „heldenhaften Kämpfer“ im „Großen
Vaterländischen Krieg“ gegen den Faschismus. Und dabei blieb es auch nach
dem Ende der UdSSR und der Unabhängigkeit Weißrusslands. Geschichte und
Gedenken, das waren Instrumente im Kampf für den Sozialismus und die
Einheit des Vielvölkerstaats. Jüdisches Gedenken blieb verboten. An
Gedenktagen sorgte aus Polizeiwagen laut gespielte Schlagermusik dafür,
dass niemand in der „Jama“ an den Massenmord erinnern konnte.
Am letzten Freitag eröffnete im Beisein von Weißrusslands Präsident
Alexander Lukaschenko, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und
Österreichs Präsident Alexander Van der Bellen vor den Toren von Minsk die
Gedenkstätte Trostinez. Die Anwesenheit gleich dreier Staatsoberhäupter
verdeutlichte den Rang, dem dieses Ereignis zukommt. Umgeben vom Wald von
Blagowschtschina sind dort 34 Massengräber durch Schottersteine
gekennzeichnet, Grabplatten ohne Namen wurden darauf eingelassen. Schlichte
Holzstelen stehen am Rande, ein Gedenkstein erinnert auch an die
Zehntausenden Juden aus Österreich, Deutschland, Tschechien und Polen, die
in diesem Wald erschossen oder in Lastwagen vergast wurden.
Die von dem Architekten Leonid Lewin entworfene Stätte entspricht nicht den
bombastischen sowjetischen Monumenten zur Erinnerung an den Krieg. Und die
Tatsache, dass Lukaschenko in seiner Rede auf das Schicksal der ermordeten
Juden einging, markiert eine Zäsur.
## 7.000 Juden wurden im Herbst 1941 hierher deportiert
Nicht nur Staatenlenker und ihr Gefolge waren zu der Eröffnungsfeier
geladen, sondern auch Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen aus
Weißrussland, Deutschland und Österreich, deren Engagement es vor allem zu
verdanken ist, dass das Wort Trostinez künftig hoffentlich in einer Reihe
stehen wird mit Mordstätten wie Sobibor, Majdanek oder Treblinka. Es kamen
auch Überlebende, so wie Kurt Marx, der 1939 mit einem Kindertransport
gerettet werden konnte. „Meine Eltern blieben in Köln“, erinnerte er sich.
„Mein Vater und meine Mutter wurden am 20. Juli 1942 nach Minsk
transportiert und bald nach der Ankunft ermordet.“
Rund 7.000 deutsche, österreichische und tschechische Juden wurden im
Herbst 1941 nach Minsk deportiert. Sie mussten in einem „Sonderghetto“
dahinvegetieren. Wer als Arbeitskraft nicht mehr von Nutzen war, kam nach
Trostinez und in den Tod. 16.000 weitere Juden, vor allem aus Wien, fuhren
im Sommer 1942 direkt nach Trostinez zu den Erschießungsstätten im Wald und
den Gaswagen, getarnt mit der Aufschrift „Kaiser’s Kaffee“. Ihre Körper
verschwanden in Massengräbern.
Emma Spira, geboren am 5. August 1897, deportiert aus Wien am 17. August
1942, zählt zu ihnen, ebenso wie Rudolf Bryk, Jahrgang 1876, der am 6. Mai
des gleichen Jahres aus Wien verschleppt wurde. Rund 400 gelbe Tafeln,
angebracht an den Bäumen des Waldes, erinnern an einzelne Schicksale.
Von den westeuropäischen Opfern existieren Namenslisten der Gestapo. Aber
niemand kennt all die Namen der Zehntausenden weißrussischen Juden, der
Partisanen und sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Komplex Trostinez ihr
Ende fanden. Die Zahl der Toten wird zwischen 60.000 und mehr als 200.000
vermutet.
## Ein weißer Fleck
Kurz vor der Befreiung von Minsk ließ die SS die Leichen der Opfer
exhumieren und verbrennen. Doch bei den Vorarbeiten zur Einrichtung der
Gedenkstätte barg ein Archäologe Parfumflaschen aus Wien, Dosen mit
deutscher Aufschrift und Knochenreste. Letztere sind vor einigen Tagen
feierlich beerdigt worden.
73 Jahre nach dem Ende des Weltkriegs kann der Ort Trostinez zusammen mit
dem Wald Blagowschtschina als eine der mörderischsten Stätten in der
Topographie des NS-Terrors nachgetragen werden. Die ersten Gedenkfahrten
von Schülern aus Deutschland werden derzeit geplant. Ein „weißer Fleck auf
der Landkarte der Erinnerung“ (Van der Bellen), er scheint getilgt.
Ist nun also alles erledigt, hat die europäische Erinnerungskultur die
staatlich verordnete Geschichte endlich verdrängt? Daran bestehen
erhebliche Zweifel, und das gilt nicht nur für Weißrussland und Trostinez,
aber eben auch.
## Zur früheren Geschichte von Trostinez schweigt man
Auf einer Hinweistafel in der Gedenkstätte ist die Rückkehr von nationalen
Narrativen zu erkennen, wenn verallgemeinernd von „ermordeten Zivilisten“
die Rede ist. Am Rand der Feierlichkeiten zur Einweihung stand unter jeder
von 17 Stelen nahe den Massengräbern ein Soldat stundenlang unbeweglich,
ausgestattet mit einem Gewehr, an dem ein langes Messer in der Sonne
blitzte. Da war sie wieder, die alte Sowjetzeit mit ihrer Heldenverehrung.
Gar kein Thema darf in Weißrussland die frühere Geschichte von Trostinez
sein: Es wird vermutet, dass hier auch die Gebeine Tausender Stalin-Opfer
aus den 1930er Jahren ruhen. Und peinlich geschwiegen wurde über die
Müllhalde, die in sowjetischen Zeiten am Rand der Massengräber entstand.
Verschwiegen werden sollte dabei aber auch nicht, dass derweil die
Erinnerung an die Kriegsgräuel in Weißrussland in der Bundesrepublik gnädig
hinter dem Eisernen Vorhang im Kalten Krieg verschwand.
Bundespräsident Steinmeier sprach auf einer Tagung des Internationalen
Bildungs- und Begegnungswerks in Minsk auch die „rückläufigen Prozesse“ in
manchen europäischen Staaten an, ohne dabei Namen zu nennen. Die
Re-Nationalisierung von Geschichte, sie hat längst die EU erreicht,
namentlich in Polen. Der Rückzug zur nationalen Identität ist freilich auch
ein bequemes historisches Deutungsmuster, an dem sich die AfD versucht.
## Belehrungen wären fehl am Platze
Andererseits, darauf machte die Historikerin Ulrike Jureit aufmerksam,
stellt sich die Frage, ob die Opfernationen der Nationalsozialisten nun, 75
Jahre später, von den Nachkommen des Tätervolks belehrt werden wollen. Soll
am deutschen Gedenkwesen die gesamte Welt genesen?
„Europäische Erinnerungskultur ist kein Zustand, sondern ein Weg“, sagte
Steinmeier in Minsk. Um diesen Weg für Weißrussland und die Bundesrepublik
zu verstetigen, fasste er die Gründung einer gemeinsamen
Historikerkommission ins Auge. Das wäre in der Tat ein weiterer Fortschritt
nach der Einweihung der würdigen Gedenkstätte von Trostinez.
2 Jul 2018
## LINKS
[1] /NS-Vernichtungslager-bei-Minsk/!5477713
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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