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# taz.de -- Balkan-Korrespondent über den Jugoslawienkrieg: „Aus dem Krieg g…
> Als Jugoslawien zerfiel, war Norbert Mappes-Niediek dort Korrespondent.
> In seinem neuen Buch sortiert er Dynamiken, Kalkulationen und
> Fehlschlüsse.
Bild: Tito, Gründer und Präsident des sozialistischen Jugoslawiens (vorn in w…
taz: Herr Mappes-Niediek, sind die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen
Serbien und dem Kosovo wegen der Autokennzeichen eine weitere Folge von
dem, was Sie in Ihrem neuen Buch „die Dauerserie“ nennen, die den Titel
„Der Balkan brennt – mal wieder“ tragen könnte?
Norbert Mappes-Niediek: Nein. Mit „Dauerserie“ meine ich das
jahrhundertelange mal friedliche, mal konfliktreiche Zusammenleben der
Volksgruppen in verschiedenen Staaten und Reichen. Die letzte Folge dieser
Serie wurde mit dem Kosovokrieg 1999 abgedreht. In der alten Serie gab es
immer Stoff für Entwicklung, zum Guten wie zum Schlechten. In der neuen
Serie entwickelt sich gar nichts mehr. Seit der staatlichen und
gesellschaftlichen Trennung können Kroaten, Albaner, Serben oder Bosnier
ihre schlimmen Erfahrungen mit der je anderen Volksgruppe nicht mehr durch
neue, bessere Erfahrungen relativieren. Das letzte gemeinsame Erlebnis ist
eine Schlachtszene. Sie wurde zum Standbild, zum Screenshot.
Wieso hatte Ihrer Meinung nach [1][Tito, der Gründer und Präsident des
sozialistischen Jugoslawiens], einen Anteil an der Ethnisierung der
Konflikte?
Das alte Königreich Jugoslawien hatte die besonderen Ansprüche der
muslimischen Bosnier, der katholischen Kroaten, der Albaner überhaupt nicht
berücksichtigt. Tito wollte den Fehler nicht wiederholen und hat
stattdessen ein ethnisches Gleichgewicht geschaffen. Am Ende waren alle
Lebensbereiche ethnisch durchquotiert. Das hat die Identitäten verfestigt.
Immer ging es darum, ob dieser oder jener Posten, diese oder jene Ressource
an dieses oder jenes Volk ging. Wer unterdrückt wen, wer kriegt mehr, wer
weniger? Das war stets Thema Nummer eins.
Und Papa entschied, wer gewinnt?
Genau. Aber Tito war, anders als oft behauptet, nicht der Diktator, er war
der Schiedsrichter. Als er starb, blieb diese Rolle unbesetzt. In Bosnien
wurde sie dann nach dem Krieg einem Ausländer übertragen: dem Hohen
Repräsentanten.
Zeigt das Beispiel Jugoslawien, dass die Quote keine Lösung ist?
Die starre ethnische Quote ist es jedenfalls nicht. Über die Berechtigung
etwa einer Frauenquote sagt die jugoslawische Erfahrung aber natürlich
nichts aus.
Sie zitieren einen jugoslawischen Wirtschaftsexperten mit der Aussage, dass
sich in Jugoslawien alle von allen ausgebeutet fühlten, und zwar zu Recht.
Ja. Man kann sich das Verhältnis so ähnlich vorstellen wie in der EU zur
Zeit der griechischen Schuldenkrise. Die einen meinen, sie zahlten in ein
Fass ohne Boden, und die anderen verweisen darauf, dass sich die Schere
zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet.
Droht der EU ein ähnliches Schicksal, also Zerfall?
Sagen wir mal: Es geht so lange gut, wie alle Seiten gewinnen und solange
die Gemeinschaft als Mannschaft betrachtet wird und nicht als eine Liga, wo
einer gegen den anderen spielt. Immerhin hat es die EU geschafft, das
Wohlstandsniveau durch die Osterweiterung tendenziell an den Westen
anzugleichen. Aber diese Entwicklung ist stehen geblieben.
Hätte die EU, wie Joschka Fischer 1999 forderte, die Staaten aus dem
ehemaligen Jugoslawien komplett und sofort in die EU aufnehmen sollen?
Ja. Aber zu keinem Zeitpunkt war die EU bereit, das Versprechen von
Saloniki 2003, alle Staaten aufzunehmen, Wirklichkeit werden zu lassen.
Was würde passieren, wenn nun die Ukraine vor Bosnien in die EU aufgenommen
werden würde?
Wahrscheinlich nicht viel. Die Regierungen der sechs sogenannten West- oder
besser: Restbalkanstaaten haben sich im Wartezimmer der EU ziemlich gut
eingerichtet.
Die Debatte zur Frage, ob die frühe Anerkennung der Republiken durch
Deutschland zur Eskalation des Krieges beitrug, findet zu jedem Jahrestag
wieder statt. Mir ist aber immer noch nicht klar, wie die Deutschen es
damals geschafft haben, die internationale Gemeinschaft auf ihre Seite zu
ziehen.
Im zweiten Halbjahr 1991, als die Debatte um die Anerkennung von Kroatien
und Slowenien geführt wurde, musste jedem klar sein, dass Jugoslawien nicht
zu retten war. Wichtige politische Vermittler wie der europäische
Verhandlungsführer Lord Carrington, der UN-Sonderbeauftragte Cyrus Vance
und der UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar warnten nicht deshalb
vor einer frühzeitigen Anerkennung, weil sie Illusionen über den
Fortbestand Jugoslawiens hatten, sondern weil sie wussten, dass das für
Bosnien nichts Gutes bedeuten würde. Die Deutschen haben die Warnungen vom
Tisch gewischt.
Warum?
Nach Aufhebung der Archivsperre habe ich beim Auswärtigen Amt den
Briefwechsel zwischen der Botschaft in Belgrad, dem Generalkonsulat in
Zagreb und der Zentrale in Bonn gelesen. Bosnien war für Bonn kein Thema.
Sie sind einfach mit dem Tunnelblick des Jägers auf das moralische Ziel
losgegangen: die Anerkennung. Damit auch Frankreich mitzieht, hat man sich
dann auf einen fatalen Kompromiss geeinigt: Alle jugoslawischen Republiken
sollten als unabhängig anerkannt werden, wenn sie Minderheitenrechte in der
Verfassung und eine Volksabstimmung vorwiesen. Bosnien musste sich
innerhalb einer Woche entscheiden, ob es weiter – unter Milošević’ Domina…
– in Jugoslawien bleiben oder unabhängig werden wollte. Eine Wahl zwischen
Pest und Cholera.
Inwiefern?
Auf der einen Seite drohte das Absinken zu einer marginalisierten
Minderheit in einem serbisch dominierten Restjugoslawien, auf der anderen
ein Bürgerkrieg. Schließlich war ein knappes Drittel der Bevölkerung
serbisch. Kohl und Genscher haben das Dilemma überhaupt nicht wahrgenommen
– wenn auch nicht aus bösen Absichten oder dem Wunsch nach Hegemonie im
neuen Europa.
Sondern weil sie glaubten, das würde den Krieg beenden?
Ja. Man wollte dieses Jugoslawiending schnell aus der Welt schaffen. Man
musste sich einig werden, denn exakt als der Konflikt aufflammte,
konzentrierte sich Europa auf den historischen Gipfel von Maastricht, auf
dem alles beschlossen werden sollte, was die EU bis heute ausmacht – unter
anderem die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber die Deutschen
haben sich auch deshalb durchgesetzt, weil niemand eine brauchbare
Alternative hatte.
Hat die internationale Politik aus dem Jugoslawienkrieg gelernt?
Irgendwie ja. Ein Fehler der Diplomatie damals war, dass sie sich nicht
entscheiden konnte zwischen Parteinahme und neutraler Vermittlung. Diesen
Fehler hat die westliche Gemeinschaft in der Ukraine jedenfalls nicht
gemacht.
Ist Putin ein Wiedergänger von Milošević?
Nein. Milošević wurde oft als eine Art Mastermind der Kriege
missverstanden. In Wirklichkeit hat er agiert wie ein Banker – der er im
Übrigen tatsächlich war. Banker haben kein festes Ziel. Sie wollen immer
nur den Kurs ihres Aktienpakets oben halten. Milošević war weder der
teuflische noch der geniale Regisseur des Geschehens. Er war vielmehr sehr
flexibel in seinen Zielen und dabei vor allem eins: skrupellos.
Ethnische Säuberung und Genozid waren Begriffe, die seit dem
Jugoslawienkonflikt in den politischen Wortschatz eingingen. Auch im Krieg
gegen die Ukraine spielen sie wieder eine Rolle. Wie tauglich sind diese
Begriffe?
Was Genozid ist und was nicht, entscheiden internationale Gerichte. Im Fall
Srebrenica war der Tatbestand sicher erfüllt. Dass der Begriff inzwischen –
und nicht nur mit Blick auf Jugoslawien – so häufig fällt, darf man wohl
auch mit dem Wunsch erklären, sich und seiner eigenen Nation eine Art
kollektive Unschuld zuzusprechen. Als Opfer eines Genozids ist man
praktisch für alles entschuldigt.
Ist der Internationale Strafgerichtshof das wichtigste Ergebnis des
Jugoslawienkrieges?
Er hätte es werden können. Aber Russland, China [2][und die USA machen
nicht mit]. Von der Utopie, dass man Verbrechen über alle Grenzen hinweg
verfolgen, dass man mächtige politische Verbrecher bestrafen könnte, ist
damit nicht viel mehr übriggeblieben als ein Rumpfgerichtshof, der
allenfalls Verbrechen in [3][afrikanischen Staaten] verfolgen kann – und
der deswegen auch noch dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt ist. Solange
einer internationalen Gerichtsbarkeit keine Exekutive zur Verfügung steht,
die Urteile vollstrecken und politische Verbrecher verhaften kann, wird man
Recht und Macht nie sauber trennen können.
Einerseits ist Srebrenica auch im Westen ein Begriff für schlimmste
Verbrechen. Andererseits scheint der Jugoslawienkrieg völlig vergessen. Als
hätte er nie stattgefunden, sprach beispielsweise die deutsche
Außenministerin Annalena Baerbock im Februar vom ersten Krieg in Europa
seit 1945.
Ja, das ist schon erstaunlich. Vielleicht liegt es daran, dass man in
Europa das Geschehen in Jugoslawien fälschlich für eine verspätete
Nationenbildung hielt, die der Westen 100 Jahre früher durchgemacht hatte.
Manche mögen auch das irrige Gefühl haben, der Balkan gehöre nicht zu
Europa. Beides hat es erleichtert, die Kriege zu verdrängen.
Die Brutalität des Krieges tat dazu sicher ihr Übriges. Warum er so
blutrünstig war, ist immer noch eine offene Frage, oder?
Viele Täter kamen aus gewaltnahen Milieus: Hooligans, Kriminelle, Söldner,
Glücksritter, die vom Geheimdienst unterstützt wurden, Rückkehrer, die in
der Diaspora ultranationalistische Narrative gepflegt haben und keine
Scham hatten zu plündern, zu morden, zu vertreiben, für die schmutzige
Alltagsarbeit der ethnischen Säuberungen. Aber es gab auch die
Nachbarschaftstäter. Das ist vielleicht das gruseligste Kapitel der Kriege.
Teilweise wurden die brutalen Mörder als Helden gefeiert.
Ja, aber interessanterweise gibt es außer im Kosovo in keinem
Nachfolgestaat heute einen ungebrochenen Veteranenkult. Ob jemand ein Held
war oder ein Verbrecher, werden die Gesellschaften wohl erst entscheiden,
wenn sie sicher wissen, ob der Untergang Jugoslawiens für sie ein Segen
oder ein Fluch war.
8 Dec 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Doris Akrap
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Jugoslawien-Krieg
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Interview
GNS
Slowenien
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Reisen in Europa
Schwerpunkt Völkermord in Ruanda
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