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# taz.de -- Sloweniens Bürger ohne Rechte: Gelöschte Existenzen
> Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurden Zehntausende Menschen aus allen
> Registern Sloweniens gestrichen. Viele kämpfen noch heute um ihren
> Status.
Bild: Nicht allein mit ihrem Schicksal: Heute unterstützen sie sich gegenseiti…
Ljubljana taz | Zwei Stunden wartet Irfan Beširević hinter hundert anderen
Menschen vor dem Verwaltungsbüro in Ljubljana. Es ist November 1991,
Beširević will die Staatsbürgerschaft der frisch gegründeten Republik
Slowenien beantragen. Er hat sich hierhergeschleppt, obwohl er Tage zuvor,
nach einem schweren Autounfall, erst aus dem Koma erwacht ist. Aber die
Zeit rennt, wenn das Land, das man sein Zuhause nennt, einem eine Frist
setzt, um Bürger zu werden.
„Mein Antrag wurde abgelehnt und mein Ausweis zerschnitten. Ab da begannen
meine Probleme“, erzählt Beširević heute am Kneipentisch in Ljubljana. Um
vier Uhr nachmittags bestellt er das dritte Bier und raucht eine Zigarette
nach der anderen. Er hat sein Schicksal schon Hunderte Male durch seinen
dichten weißen Schnurrbart erzählt. Seine Hände sprechen an manchen Stellen
immer noch mit, wenn er sich aufregt über diese große Ungerechtigkeit.
Vor 31 Jahren erfuhr Irfan Beširević, dass er in Slowenien nicht mehr
existierte – der jugoslawischen Republik, in der er seit seinem ersten
Lebensjahr aufgewachsen und zur Schule gegangen war, später Arbeit fand und
eine Familie gründete.
Beširević ist damit einer von 25.671 Bürger:innen aus Ländern
Ex-Jugoslawiens, die Slowenien nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 26.
Februar 1992 ohne Information aus seinen Aufenthaltsregistern löschte.
Sechs Monate hatten die Menschen Zeit, einen slowenischen Pass zu
beantragen – wer das nicht schaffte und alle Papiere rechtzeitig beibringen
konnte, hielt sich fortan illegal in Slowenien auf. Die slowenische
Bezeichnung „Izbrisani“ – die Gelöschten – beschreibt ihr Schicksal. N…
die Rückkehr in ihre Geburtsländer wie Bosnien, Serbien oder Kroatien stand
ihnen noch offen.
## Neue Heimat: Keller und Brücken
Der Grund für das harte Vorgehen: Die rechtskonservative Regierung muss die
[1][frisch gewonnene Unabhängigkeit] damals als fragil empfunden haben.
„Die rechten Politiker verdächtigten die nicht in Slowenien Geborenen,
Spione oder Angehörige der Jugoslawischen Armee und somit eine Gefährdung
für die Unabhängigkeit zu sein“, erklärt Maja Ladić, Researcherin des
slowenischen Peace Institute, einer NGO, die sich für die Rechte der
Izbrisani einsetzt.
„Ich wollte hier bleiben, weil Slowenien mein Zuhause ist. Mit Bosnien
hatte ich nichts zu tun – das Land habe ich als Kind verlassen“, erzählt
Irfan Beširević heute über seine Angst vor der Ausweisung. Als Slowenien
die Unabhängigkeit gewann, verlor er alles. Keinen Aufenthaltstitel zu
haben bedeutet auch, keine Rechte als Bürger zu besitzen.
Nachdem er seinen Job in einem der besten Fünfsternehotels Sloweniens und
damit sein Einkommen verlor, mit dem er die Familie ernährt hatte, ließ
seine Frau sich scheiden. Keller und Brücken wurden sein Zuhause. Der
gebürtige Bosnier ist einer von Tausenden Betroffenen. Doch als er 1997 bei
Protesten der „Izbrisani“, die sich inzwischen vernetzt hatten, seine
Geschichte öffentlich zu erzählen begann, schämte sich seine Familie für
ihn, und er sah seine zwei Kinder 17 Jahre lang nicht.
Wenn man nicht existiert, flattert kein Brief mit der Aufforderung, die
neue slowenische Staatsbürgerschaft zu beantragen, in den Briefkasten. Die
meisten Betroffenen erfuhren erst durch Zufall von ihrem Schicksal –
während Routineverkehrskontrollen etwa, bei denen sich ihr Ausweis
plötzlich als ungültig erwies.
## Keine Versicherung, keine Rente, kein Mietvertrag
Die bizarre Szene war nicht selten: von der Polizei wegen zu schnellen
Fahrens angehalten, um danach aus dem Land geworfen zu werden. Manche
wollten aus dem Urlaub im Ausland zurückkehren und durften die slowenische
Grenze nicht mehr passieren, erzählt Ladić die Geschichten Betroffener. Am
26. Februar 1992 verloren sie alle Rechte, die sie noch am Vortag besaßen.
Keine Krankenversicherung, kein Bankkonto, kein Arbeits- oder Mietvertrag
hatte für die Gelöschten in den nächsten Jahren noch Gültigkeit.
Maja Ladić kennt die Geschichten vieler, die aus ihren Wohnungen verdrängt,
deren Konten eingefroren und Renten nicht ausgezahlt wurden. Jahrelang
wussten die wenigsten, dass es noch andere wie sie gab. Die Löschung aus
dem System passierte vor der Zeit des Internets, erinnert Ladić: „Viele der
Betroffenen waren auch einfache Arbeiter, die mit behördlichen
Angelegenheiten nicht vertraut waren und nicht wussten, wohin sie sich
wenden sollten.“
Irfan Beširević erzählt, die Angst vor der Ausweisung in die jugoslawischen
Kriegsgebiete sei so groß gewesen, dass er drei Tage fiebernde Thrombose
ohne Nahrung in einem Keller durchstanden habe. Er habe Angst gehabt, in
eine Notaufnahme zu gehen, weil er formal nicht existierte und die
Ärzt:innen ihn hätten wegschicken können. Seine Beine sind heute noch von
großen Wunden übersäht, die sich entzünden und ihm Probleme beim Laufen
bereiten. Die Thrombose in den Beinen ist inzwischen so fortgeschritten,
dass der 65-Jährige auf eine Amputation wartet.
Erst [2][2010] veröffentlichte die damalige Innenministerin Katarina Kresal
das offizielle Ausmaß der Auslöschung: 25.671 Ausradierte. Das entspricht
knapp 1,3 Prozent der Bevölkerung des Landes. Expert:innen, wie Ladić sowie
der slowenische Schriftsteller Miha Mazzini, der Buch und Film zum Thema
veröffentlichte, gehen jedoch davon aus, dass die Löschung wesentlich mehr
Jugoslaw:innen betroffen haben könnte – die Zahlen könnten um die
100.000 liegen. Denn viele verließen das Land und kämpften nicht um ihre
Rechte – sie waren ja offenbar nicht mehr willkommen.
## Ausländer:innen im eigenen Land
Zum Vergleich: Schätzungen des UNHCR zufolge sind derzeit mehr als eine
halbe Million Menschen in ganz Europa staatenlos oder haben eine
unbestimmte Staatsangehörigkeit. Die Ausgelöschten wurden nicht im formalen
Sinne staatenlos, sondern Bürger:innen anderer jugoslawischer
Nachfolgestaaten.
Bis Juli 2023 haben 12.514 der gelöschten Personen ihren Status mit einer
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft der Republik
Slowenien geregelt, teilt das slowenische Innenministerium auf Anfrage mit.
Viele der Izbrisani konnten jedoch nicht nach Slowenien zurückkehren, weil
sie als Ausländer:innen ohne Asylanspruch abgewiesen wurden.
Sie zogen daher in andere Länder. Familien wurden auseinandergerissen, da
auch Ehepartner:innen von Slowen:innen nicht automatisch den
ständigen Wohnsitz oder gar die Staatsbürgerschaft erhielten. Sie verloren
Jobs und Wohnungen; Asyl wurde ihnen in Slowenien nicht gewährt, der Zugang
zu Bildung und einer geregelten Krankenversorgung erschwert, die Zahlung
von Renten verweigert.
Sie kämpften häufig jahrzehntelang vor Gericht für ihre Rechte – manche von
ihnen kämpfen noch heute. Rechtsbeistand erhielten Hunderte der
Ausradierten von Matevž Krivic. Der heute 80-jährige Jurist war bis 1998
Richter am slowenischen Verfassungsgericht und entschied damals im Sinne
der Izbrisani, die unrechtmäßig ihres Status beraubt worden seien.
## Wegweisende Urteile
„Unsere Nachfolger am Verfassungsgericht stellten jedoch klar, dass die
Entscheidung nur jene betraf, die in den letzten Jahren nicht das Land
verlassen hatten – was paradox und absurd ist, denn für die Izbrisani war
es ja illegal, in Slowenien zu bleiben“, erklärt Krivic. Ein jahrelanges
Leben unter dem Radar war also nötig, um den Status später
wiederzuerlangen.
In den ersten sechs Monaten nach der Unabhängigkeit wurden Tausende Anträge
auf Staatsbürgerschaft abgelehnt, weil Betroffene nicht alle nötigen
Papiere hatten. Die slowenischen Behörden verlangten Originaldokumente aus
den Geburtsländern der Betroffenen, in die sie aufgrund des Krieges nicht
reisen konnten. „Das ist ein krimineller Akt, denn das Gesetz schreibt klar
vor, dass jeder Antrag zunächst akzeptiert werden muss!“, stellt Krivic
klar.
Des Weiteren dürfe niemand gesetzlich gezwungen werden, eine neue
Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sowohl 1999 als auch 2003 stufte das Gericht
die Löschung als verfassungswidrig ein.
2004 trat Slowenien der EU bei. Der Fall ging bis vor den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR), der urteilte, dass Slowenien nicht
nur den Status der gelöschten Personen wiederherzustellen habe, sondern
auch Kompensation für den persönlichen Schaden zu leisten. „Solange
Bewegung in der Sache ist, verliere ich die Hoffnung nicht“, gibt Maja
Ladić zu. Etwa einmal im Monat würden immer noch Personen ohne Status
anrufen.
## Ein Ć als Wiedergutmachung
Das Peace Institute erhält keine Mittel mehr für den Rechtsbeistand. Die
gesamte Arbeit, die Ladić und ihre Kolleg:innen für die Izbrisani
leisten, ist daher ehrenamtlich. Auch im Ruhestand vertritt Krivic noch von
der Auslöschung betroffene Menschen vor Gericht. Seit 25 Jahren kämpft der
betagte Anwalt pro bono für die Rechte seiner Klient:innen: „Das ist solch
eine große Ungerechtigkeit; ich kann zu diesen Fällen nicht Nein sagen. Es
ist meine Rache an der Bürokratie, und ich möchte damit bis zum Ende
weitermachen.“ Denn auch eine einzige ausgelöschte Person sei noch zu viel.
Eine davon ist die gebürtige Bosnierin Elivsa Osmanović, die immer noch mit
ihrer Familie um Anerkennung kämpft. Sie sitzt in der Küche ihrer Wohnung
im Nordosten Ljbuljanas. Die Namen an den Klingelschildern des Mietshauses
sind fast alle bosnisch- oder serbischstämmig – das ist an dem ć erkennbar,
den auch Elivas Nachname trägt. Das von der Regierung in Auftrag gegebene
Denkmal für die Ausgelöschten soll die Form dieses Buchstabens haben. Es
soll beim Center of Alternative Culture Rog entstehen, mitten im
Stadtzentrum.
Es ist mittags um zwölf, die Söhne schlafen noch, die älteste Tochter
bringt immer wieder das jüngste Geschwisterkind zur Mutter. Die Wohnung ist
geräumig, die Einrichtung minimalistisch, ohne Deko und Erinnerungsstücke,
die man über die Jahre so angesammelt haben könnte. Seit acht Jahren wohnen
sie jetzt in der Wohnung, wo sich die fünf Kinder zwei Zimmer mit
Matratzenlager teilen. Sie wollen bleiben, denn das Leben hier ist gut,
wenn es auch nicht so ist, wie sie es sich wünscht, sagt Osmanović.
Auch sie kam als Baby mit ihren Eltern nach Slowenien. Der Vater hatte in
Ljubljana Arbeit gefunden. Doch während des zehntägigen
Unabhängigkeitskrieges gegen Jugoslawien floh die Familie, die der
Roma-Community angehört, aus Angst vor Verfolgung nach Deutschland. „Als
wir Jahre später zurückkehren wollten, hatten wir keine gültigen Papiere
mehr – ich war damals 12 Jahre alt“, erzählt die heute 38-Jährige.
## Doppelte Ablehnung
Die Abschiebung nach Bosnien war somit unausweichlich, doch die Familie
versuchte Asyl in Deutschland zu bekommen – erfolglos. Eine 11-jährige
Irrfahrt durch ganz Europa begann – immer mit dem Ziel, das Leben in
Slowenien fortzusetzen. Diese führte sie über Österreich nach Dänemark und
Schweden, von wo sie mit ihrem Mann und den Kindern zwischenzeitlich immer
wieder nach Bosnien abgeschoben wurde. „Wir konnten in Bosnien nicht
leben. Dort nannten sie uns Zigeuner, und wir waren wie Aussätzige“,
erzählt Osmanović.
In Slowenien hingegen wurden die Izbrisani häufig als Kriminelle
stereotypisiert. Bis heute wird ihnen von rechtskonservativen Parteien und
einem Teil der Slowen:innen nachgesagt, dass sie sich nicht um einen
offiziellen Status in Slowenien bemühten oder ihn gar ablehnten. [3][Ein
Referendum im Jahr 2004] fragte die slowenische Bevölkerung, ob gelöschten
Personen ihre Rechte zurückgegeben werden sollten. 96 Prozent der
Wähler:innen stimmten mit Nein, nachdem eine Kampagne der damaligen
rechtskonservativen Opposition stark in diese Richtung gelenkt hatte.
Elvisa Osmanović erzählt, sie sei mit 25 Jahren am Darmleiden Morbus Crohn
erkrankt und ohne ordentliche Krankenversicherung nur mit finanzieller
Unterstützung ihres Vaters in bosnischen Krankenhäusern behandelt worden.
Nach einigen Jahren als ständige Gäste im kleinen Haus der Tante fand ihr
Ehemann Alaga einen Schmuggler, der ihn über die slowenische Grenze
brachte. Elvisa blieb monatelang mit drei kleinen Kindern alleine in
Bosnien zurück, bis auch sie es 2011 auf dem gleichen Weg wagte. Elf Jahre
nach der Auslöschung hatte es die ganze Familie endlich zurück nach
Ljubljana geschafft und beantragte Asyl.
Nach sechs Monaten Duldungsstatus, zwei Jahren Asylheim und
Gelegenheitsjobs auf dem Schrottplatz erlangten Elvisa und Alaga Osmanović
2014 mit der Hilfe von Anwalt Matevž Krivic ihren Status zurück. Für ihre
ältesten Söhne, die in Bosnien geboren sind, kämpft sie mit Krivic bis
heute für die gleichen Rechte.
## Zahlreiche „Einzelfälle“
Auch beim letzten Gerichtstermin im August wurde die Aufenthaltserlaubnis
wieder nur auf zwei Jahre verlängert. So sei es für ihre Söhne auch schwer,
Arbeit zu finden. Elvisa selbst hat wegen der Auslöschung gerade einmal
sechs Jahre Schulbildung in Deutschland erhalten: „Ich bin jetzt nur
Mutter, dabei würde ich gerne etwas machen, was nicht zu Hause ist. Ich
würde gerne arbeiten. Ich habe einen Führerschein. Ich könnte ja auch
putzen.“ Beschäftigung, mal zu Hause rauskommen, darum geht es ihr. Derzeit
lebt die Familie von Alagas Gehalt und ein wenig Sozialhilfe.
Am meisten wünscht sich Osmanović, deren Leben selbst so aus den Fugen
geriet, den Status für ihre Kinder: „Es war grausam, was ich erlebt habe.
Ich wünsche meinen Kindern dieses ‚von Land zu Land, Stadt zu Stadt und
Schule zu Schule‘ nicht, sondern dass sie sicher an einem Ort aufwachsen
können.“ Durch die Auslöschung bleiben ihr immer noch viele Möglichkeiten
auf Bildung und Beschäftigung verwehrt, die kaum nachgeholt werden können.
Maja Ladić vom Peace Institute lässt auch der tragische Fall von Zoran
Tešanović nicht los: „Er hat 30 Jahre auf seinen Status gewartet und immer
gesagt, er müsse nur noch einen Winter überleben.“ Den Winter 2022
überlebte er nicht. Zoran verbrannte in seinem Wohnwagen im Schlaf. „Seine
Umstände sind direkt mit der Auslöschung verbunden“, erklärt Ladić. Weil …
in Slowenien als illegaler Immigrant galt, konnte er nur Jobs in der
Schattenwirtschaft annehmen.
Seine Freunde brachten ihn erst 2015 in Kontakt mit dem Peace Institute,
das ihm helfen sollte, seinen Status wiederzuerlangen. Doch das Gesetz, das
diesen Prozess ermöglichte, war schon Jahre zuvor ausgelaufen. Über Umwege
dauerte das Verfahren nun mehr als sieben Jahre, die Tešanović letztlich
nicht überlebte.
## Spät und spärlich
Für die Auslöschung zahlt der slowenische Staat den Betroffenen eine
Entschädigung von 50 Euro für jeden Monat, in denen sie keinen Status
hatten. Das ist ein Fünftel dessen, was der ECHR in seinem Urteil als
Kompensation vorgeschlagen hatte. Viele der Izbrisani hatten während der
Jahre ohne Status kein Einkommen und haben wie Irfan Beširević sogar
Schulden angehäuft, um über die Runden zu kommen. „Die Entschädigung
spiegelt nur die Anzahl der Monate wider, für die der Status verloren
wurde, nicht das tatsächliche Leid“, fasst Ladić zusammen.
Sollte die Regierung ein neues Gesetz für die Izbrisani auf den Weg
bringen, würde auch die Diskussion über die Entschädigung wieder entfacht,
meint sie. Ein bei Parteien und Steuerzahler:innen höchst unpopuläres
Thema schon in wirtschaftlich starken Zeiten würde vor allem wenige Monate
nach dem [4][Hochwasser des Sommers 2023] mit dem Argument abgewehrt
werden, man brauche das Geld an anderer Stelle.
Auch Ratko Stojiljković kämpft seit Jahren für die Rechte der Izbrisani. Er
spricht schnell und mit einem Anliegen, als er im Restaurant seine
Familiengeschichte erzählt. Es ist Hochsaison, und die Hauptstadt ist
voller Tourist:innen, die auch einen Tisch mit Blick auf den Fluss
Ljubljanica suchen. Während die Menschen sich langsam durch die heiße
Innenstadt schlängeln, schauen und suchen, holt er etliche Bücher aus
seinem Rucksack. Alle sind von Izbrisani geschrieben; die Schicksale so
verschieden wie die Cover. Sein Fahrrad hat er am Flussgeländer
angeschlossen, die Räder voller Schlamm, denn er hat die Tage zuvor im
Flutgebiet geholfen.
Stojiljković bestellt eine Cola, fragt nach einem Aschenbecher und lehnt
sich zurück. Er nimmt sich Zeit für das Gespräch, aber morgen fährt er mit
seinem Fahrrad wieder durch den Schlamm, zu denen, die noch Hilfe brauchen.
„Wenn man eine Person löscht, dann auch die ganze Familie“, erzählt der
43-Jährige über die Auslöschung seines serbischen Vaters in den neunziger
Jahren. Als Ex-Angehörigem der jugoslawischen Armee wurde dessen Antrag auf
Staatsbürgerschaft trotz seiner slowenischen Ehefrau direkt abgelehnt. Er
wurde nach Serbien ausgewiesen.
## Diskriminiert als „Ćefur“
Etwa ein Jahr später unternahm er den Versuch, nach Slowenien
zurückzukehren und den Status zu beantragen. Die Behörden behandelten den
Antrag, als hätte er nie zuvor hier gelebt und eine Familie gegründet;
sieben Jahre dauerte das Prozedere. Es stürzte die Familie in eine Spirale
der Unsicherheit und führte zu zahlreichen Zusammenstößen mit der Polizei
während Stojiljković’ Jugend.
„Ćefur“ sei er in der Schule genannt worden, eine äußerst herabwürdigen…
Beschimpfung für die Ausgelöschten. Sein Vater bekam Alkoholprobleme,
während er selbst immer schlechter in der Schule wurde, egal wie sehr er
sich anstrengte: „Weil mein Name serbisch war.“
Da der Vater als Ausgelöschter nie die Pension der Armee bekam, übernahm
Ratko Stojiljković mit 14 Jahren Verantwortung und arbeitete als
Zeitungsausträger – „bis drei Uhr nachts und dann direkt in die Schule“.
Den Akt der Auslöschung beschreibt er als „politischen Genozid“. Er sagt,
er brauche kein Monument, wie es die Regierung in Ljubljana errichten
lassen will, vor allem wenn die Statusfrage der Izbrisani noch nicht für
alle gelöst sei. „Die Auslöschung hat mich verändert. Sobald wir wussten,
dass es andere wie uns gab, mussten wir uns gegenseitig helfen“, sagt
Stojiljković.
Er und Irfan Beširević kennen sich gut, sie halten gemeinsam Vorträge über
ihr Schicksal – auch vor Studierenden im Ausland. Während Beširević’
Geschichte den Zuhörer:innen Tränen in die Augen treibe, stellt
Stojiljković Forderungen nach humanen Kompensationen für das Erlebte. Beide
setzen sich heute in Vollzeit für die Anliegen anderer Minderheiten ein und
reisen zu Protesten außerhalb Sloweniens, wenn dort für die Rechte von
Geflüchteten, LGBTQI+ und Roma auf die Straße gegangen wird.
## Ein neues Gesetz? Wahrscheinlich zu spät
Nachdem er 2003 mit 45 Jahren die slowenische Staatsbürgerschaft erhielt,
widmete er sein Leben dem Aktivismus. Er leitete jahrelang ein
Sozialzentrum im ehemaligen Kulturzentrum „Rok“, ein besetztes Haus auf der
früheren Militärbasis Metelkova mitten in Ljubljana.
Die derzeitige slowenische Präsidentin Nataša Pirc Musar hat versprochen,
sich während ihrer Amtszeit den Anliegen der Ausgelöschten zu widmen, und
dafür eine Beauftragte ernannt, um den schwarzen Fleck in der slowenischen
Geschichte endgültig zu beseitigen. Ähnlich dem deutschen Bundespräsidenten
hat jedoch auch die Staatspräsidentin Sloweniens hauptsächlich eine
zeremonielle Funktion und kann maximal Empfehlungen an die Regierung
aussprechen. Auf mehrmalige taz-Anfragen zum aktuellen Stand der Bemühungen
antwortete ihr Büro nicht.
Ob er sich an einem neuen und besseren Gesetz beteiligen wolle, sei er von
der derzeitigen Regierung gefragt worden, erzählt Matevž Krivic: „Es ist
fast zu spät. Die Menschen sind alt oder bereits verstorben und werden ihre
finanzielle Kompensation niemals ausgeben können.“ Tausende Betroffene, die
Slowenien in den frühen Neunzigern verließen, hätten ihr Leben inzwischen
neu ausgerichtet, sagt er. Die 14 slowenischen Regierungen seit 1991 haben
das Problem bis heute hauptsächlich ausgesessen und halten bei jedem Meter
nach vorne die Handbremse angezogen.
Izbrisani oder „gelöscht“ sind alle Betroffenen bis heute, sagt Maja Ladić
vom Peace Institute. Ihr Lebenslauf hat sich durch den Verlust ihrer
Identität radikal verändert. Wenn sich Grenzen verschieben, rutschen
Menschenrechte auf der Prioritätenliste nach unten.
8 Nov 2023
## LINKS
[1] /30-Jahre-nach-dem-Balkankrieg/!5783509
[2] https://www.derstandard.at/story/1267743627660/gesetz-fuer-ausgeloeschte
[3] https://www.dw.com/de/mehrheit-der-slowenen-stimmt-bei-referendum-gegen-ges…
[4] /Hochwasser-in-Slowenien/!5950052
## AUTOREN
Clara Nack
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