# taz.de -- Sloweniens Bürger ohne Rechte: Gelöschte Existenzen | |
> Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurden Zehntausende Menschen aus allen | |
> Registern Sloweniens gestrichen. Viele kämpfen noch heute um ihren | |
> Status. | |
Bild: Nicht allein mit ihrem Schicksal: Heute unterstützen sie sich gegenseiti… | |
LJUBLJANA taz | Zwei Stunden wartet Irfan Beširević hinter hundert anderen | |
Menschen vor dem Verwaltungsbüro in Ljubljana. Es ist November 1991, | |
Beširević will die Staatsbürgerschaft der frisch gegründeten Republik | |
Slowenien beantragen. Er hat sich hierhergeschleppt, obwohl er Tage zuvor, | |
nach einem schweren Autounfall, erst aus dem Koma erwacht ist. Aber die | |
Zeit rennt, wenn das Land, das man sein Zuhause nennt, einem eine Frist | |
setzt, um Bürger zu werden. | |
„Mein Antrag wurde abgelehnt und mein Ausweis zerschnitten. Ab da begannen | |
meine Probleme“, erzählt Beširević heute am Kneipentisch in Ljubljana. Um | |
vier Uhr nachmittags bestellt er das dritte Bier und raucht eine Zigarette | |
nach der anderen. Er hat sein Schicksal schon Hunderte Male durch seinen | |
dichten weißen Schnurrbart erzählt. Seine Hände sprechen an manchen Stellen | |
immer noch mit, wenn er sich aufregt über diese große Ungerechtigkeit. | |
Vor 31 Jahren erfuhr Irfan Beširević, dass er in Slowenien nicht mehr | |
existierte – der jugoslawischen Republik, in der er seit seinem ersten | |
Lebensjahr aufgewachsen und zur Schule gegangen war, später Arbeit fand und | |
eine Familie gründete. | |
Beširević ist damit einer von 25.671 Bürger:innen aus Ländern | |
Ex-Jugoslawiens, die Slowenien nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 26. | |
Februar 1992 ohne Information aus seinen Aufenthaltsregistern löschte. | |
Sechs Monate hatten die Menschen Zeit, einen slowenischen Pass zu | |
beantragen – wer das nicht schaffte und alle Papiere rechtzeitig beibringen | |
konnte, hielt sich fortan illegal in Slowenien auf. Die slowenische | |
Bezeichnung „Izbrisani“ – die Gelöschten – beschreibt ihr Schicksal. N… | |
die Rückkehr in ihre Geburtsländer wie Bosnien, Serbien oder Kroatien stand | |
ihnen noch offen. | |
## Neue Heimat: Keller und Brücken | |
Der Grund für das harte Vorgehen: Die rechtskonservative Regierung muss die | |
[1][frisch gewonnene Unabhängigkeit] damals als fragil empfunden haben. | |
„Die rechten Politiker verdächtigten die nicht in Slowenien Geborenen, | |
Spione oder Angehörige der Jugoslawischen Armee und somit eine Gefährdung | |
für die Unabhängigkeit zu sein“, erklärt Maja Ladić, Researcherin des | |
slowenischen Peace Institute, einer NGO, die sich für die Rechte der | |
Izbrisani einsetzt. | |
„Ich wollte hier bleiben, weil Slowenien mein Zuhause ist. Mit Bosnien | |
hatte ich nichts zu tun – das Land habe ich als Kind verlassen“, erzählt | |
Irfan Beširević heute über seine Angst vor der Ausweisung. Als Slowenien | |
die Unabhängigkeit gewann, verlor er alles. Keinen Aufenthaltstitel zu | |
haben bedeutet auch, keine Rechte als Bürger zu besitzen. | |
Nachdem er seinen Job in einem der besten Fünfsternehotels Sloweniens und | |
damit sein Einkommen verlor, mit dem er die Familie ernährt hatte, ließ | |
seine Frau sich scheiden. Keller und Brücken wurden sein Zuhause. Der | |
gebürtige Bosnier ist einer von Tausenden Betroffenen. Doch als er 1997 bei | |
Protesten der „Izbrisani“, die sich inzwischen vernetzt hatten, seine | |
Geschichte öffentlich zu erzählen begann, schämte sich seine Familie für | |
ihn, und er sah seine zwei Kinder 17 Jahre lang nicht. | |
Wenn man nicht existiert, flattert kein Brief mit der Aufforderung, die | |
neue slowenische Staatsbürgerschaft zu beantragen, in den Briefkasten. Die | |
meisten Betroffenen erfuhren erst durch Zufall von ihrem Schicksal – | |
während Routineverkehrskontrollen etwa, bei denen sich ihr Ausweis | |
plötzlich als ungültig erwies. | |
## Keine Versicherung, keine Rente, kein Mietvertrag | |
Die bizarre Szene war nicht selten: von der Polizei wegen zu schnellen | |
Fahrens angehalten, um danach aus dem Land geworfen zu werden. Manche | |
wollten aus dem Urlaub im Ausland zurückkehren und durften die slowenische | |
Grenze nicht mehr passieren, erzählt Ladić die Geschichten Betroffener. Am | |
26. Februar 1992 verloren sie alle Rechte, die sie noch am Vortag besaßen. | |
Keine Krankenversicherung, kein Bankkonto, kein Arbeits- oder Mietvertrag | |
hatte für die Gelöschten in den nächsten Jahren noch Gültigkeit. | |
Maja Ladić kennt die Geschichten vieler, die aus ihren Wohnungen verdrängt, | |
deren Konten eingefroren und Renten nicht ausgezahlt wurden. Jahrelang | |
wussten die wenigsten, dass es noch andere wie sie gab. Die Löschung aus | |
dem System passierte vor der Zeit des Internets, erinnert Ladić: „Viele der | |
Betroffenen waren auch einfache Arbeiter, die mit behördlichen | |
Angelegenheiten nicht vertraut waren und nicht wussten, wohin sie sich | |
wenden sollten.“ | |
Irfan Beširević erzählt, die Angst vor der Ausweisung in die jugoslawischen | |
Kriegsgebiete sei so groß gewesen, dass er drei Tage fiebernde Thrombose | |
ohne Nahrung in einem Keller durchstanden habe. Er habe Angst gehabt, in | |
eine Notaufnahme zu gehen, weil er formal nicht existierte und die | |
Ärzt:innen ihn hätten wegschicken können. Seine Beine sind heute noch von | |
großen Wunden übersäht, die sich entzünden und ihm Probleme beim Laufen | |
bereiten. Die Thrombose in den Beinen ist inzwischen so fortgeschritten, | |
dass der 65-Jährige auf eine Amputation wartet. | |
Erst [2][2010] veröffentlichte die damalige Innenministerin Katarina Kresal | |
das offizielle Ausmaß der Auslöschung: 25.671 Ausradierte. Das entspricht | |
knapp 1,3 Prozent der Bevölkerung des Landes. Expert:innen, wie Ladić sowie | |
der slowenische Schriftsteller Miha Mazzini, der Buch und Film zum Thema | |
veröffentlichte, gehen jedoch davon aus, dass die Löschung wesentlich mehr | |
Jugoslaw:innen betroffen haben könnte – die Zahlen könnten um die | |
100.000 liegen. Denn viele verließen das Land und kämpften nicht um ihre | |
Rechte – sie waren ja offenbar nicht mehr willkommen. | |
## Ausländer:innen im eigenen Land | |
Zum Vergleich: Schätzungen des UNHCR zufolge sind derzeit mehr als eine | |
halbe Million Menschen in ganz Europa staatenlos oder haben eine | |
unbestimmte Staatsangehörigkeit. Die Ausgelöschten wurden nicht im formalen | |
Sinne staatenlos, sondern Bürger:innen anderer jugoslawischer | |
Nachfolgestaaten. | |
Bis Juli 2023 haben 12.514 der gelöschten Personen ihren Status mit einer | |
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft der Republik | |
Slowenien geregelt, teilt das slowenische Innenministerium auf Anfrage mit. | |
Viele der Izbrisani konnten jedoch nicht nach Slowenien zurückkehren, weil | |
sie als Ausländer:innen ohne Asylanspruch abgewiesen wurden. | |
Sie zogen daher in andere Länder. Familien wurden auseinandergerissen, da | |
auch Ehepartner:innen von Slowen:innen nicht automatisch den | |
ständigen Wohnsitz oder gar die Staatsbürgerschaft erhielten. Sie verloren | |
Jobs und Wohnungen; Asyl wurde ihnen in Slowenien nicht gewährt, der Zugang | |
zu Bildung und einer geregelten Krankenversorgung erschwert, die Zahlung | |
von Renten verweigert. | |
Sie kämpften häufig jahrzehntelang vor Gericht für ihre Rechte – manche von | |
ihnen kämpfen noch heute. Rechtsbeistand erhielten Hunderte der | |
Ausradierten von Matevž Krivic. Der heute 80-jährige Jurist war bis 1998 | |
Richter am slowenischen Verfassungsgericht und entschied damals im Sinne | |
der Izbrisani, die unrechtmäßig ihres Status beraubt worden seien. | |
## Wegweisende Urteile | |
„Unsere Nachfolger am Verfassungsgericht stellten jedoch klar, dass die | |
Entscheidung nur jene betraf, die in den letzten Jahren nicht das Land | |
verlassen hatten – was paradox und absurd ist, denn für die Izbrisani war | |
es ja illegal, in Slowenien zu bleiben“, erklärt Krivic. Ein jahrelanges | |
Leben unter dem Radar war also nötig, um den Status später | |
wiederzuerlangen. | |
In den ersten sechs Monaten nach der Unabhängigkeit wurden Tausende Anträge | |
auf Staatsbürgerschaft abgelehnt, weil Betroffene nicht alle nötigen | |
Papiere hatten. Die slowenischen Behörden verlangten Originaldokumente aus | |
den Geburtsländern der Betroffenen, in die sie aufgrund des Krieges nicht | |
reisen konnten. „Das ist ein krimineller Akt, denn das Gesetz schreibt klar | |
vor, dass jeder Antrag zunächst akzeptiert werden muss!“, stellt Krivic | |
klar. | |
Des Weiteren dürfe niemand gesetzlich gezwungen werden, eine neue | |
Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sowohl 1999 als auch 2003 stufte das Gericht | |
die Löschung als verfassungswidrig ein. | |
2004 trat Slowenien der EU bei. Der Fall ging bis vor den Europäischen | |
Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR), der urteilte, dass Slowenien nicht | |
nur den Status der gelöschten Personen wiederherzustellen habe, sondern | |
auch Kompensation für den persönlichen Schaden zu leisten. „Solange | |
Bewegung in der Sache ist, verliere ich die Hoffnung nicht“, gibt Maja | |
Ladić zu. Etwa einmal im Monat würden immer noch Personen ohne Status | |
anrufen. | |
## Ein Ć als Wiedergutmachung | |
Das Peace Institute erhält keine Mittel mehr für den Rechtsbeistand. Die | |
gesamte Arbeit, die Ladić und ihre Kolleg:innen für die Izbrisani | |
leisten, ist daher ehrenamtlich. Auch im Ruhestand vertritt Krivic noch von | |
der Auslöschung betroffene Menschen vor Gericht. Seit 25 Jahren kämpft der | |
betagte Anwalt pro bono für die Rechte seiner Klient:innen: „Das ist solch | |
eine große Ungerechtigkeit; ich kann zu diesen Fällen nicht Nein sagen. Es | |
ist meine Rache an der Bürokratie, und ich möchte damit bis zum Ende | |
weitermachen.“ Denn auch eine einzige ausgelöschte Person sei noch zu viel. | |
Eine davon ist die gebürtige Bosnierin Elivsa Osmanović, die immer noch mit | |
ihrer Familie um Anerkennung kämpft. Sie sitzt in der Küche ihrer Wohnung | |
im Nordosten Ljbuljanas. Die Namen an den Klingelschildern des Mietshauses | |
sind fast alle bosnisch- oder serbischstämmig – das ist an dem ć erkennbar, | |
den auch Elivas Nachname trägt. Das von der Regierung in Auftrag gegebene | |
Denkmal für die Ausgelöschten soll die Form dieses Buchstabens haben. Es | |
soll beim Center of Alternative Culture Rog entstehen, mitten im | |
Stadtzentrum. | |
Es ist mittags um zwölf, die Söhne schlafen noch, die älteste Tochter | |
bringt immer wieder das jüngste Geschwisterkind zur Mutter. Die Wohnung ist | |
geräumig, die Einrichtung minimalistisch, ohne Deko und Erinnerungsstücke, | |
die man über die Jahre so angesammelt haben könnte. Seit acht Jahren wohnen | |
sie jetzt in der Wohnung, wo sich die fünf Kinder zwei Zimmer mit | |
Matratzenlager teilen. Sie wollen bleiben, denn das Leben hier ist gut, | |
wenn es auch nicht so ist, wie sie es sich wünscht, sagt Osmanović. | |
Auch sie kam als Baby mit ihren Eltern nach Slowenien. Der Vater hatte in | |
Ljubljana Arbeit gefunden. Doch während des zehntägigen | |
Unabhängigkeitskrieges gegen Jugoslawien floh die Familie, die der | |
Roma-Community angehört, aus Angst vor Verfolgung nach Deutschland. „Als | |
wir Jahre später zurückkehren wollten, hatten wir keine gültigen Papiere | |
mehr – ich war damals 12 Jahre alt“, erzählt die heute 38-Jährige. | |
## Doppelte Ablehnung | |
Die Abschiebung nach Bosnien war somit unausweichlich, doch die Familie | |
versuchte Asyl in Deutschland zu bekommen – erfolglos. Eine 11-jährige | |
Irrfahrt durch ganz Europa begann – immer mit dem Ziel, das Leben in | |
Slowenien fortzusetzen. Diese führte sie über Österreich nach Dänemark und | |
Schweden, von wo sie mit ihrem Mann und den Kindern zwischenzeitlich immer | |
wieder nach Bosnien abgeschoben wurde. „Wir konnten in Bosnien nicht | |
leben. Dort nannten sie uns Zigeuner, und wir waren wie Aussätzige“, | |
erzählt Osmanović. | |
In Slowenien hingegen wurden die Izbrisani häufig als Kriminelle | |
stereotypisiert. Bis heute wird ihnen von rechtskonservativen Parteien und | |
einem Teil der Slowen:innen nachgesagt, dass sie sich nicht um einen | |
offiziellen Status in Slowenien bemühten oder ihn gar ablehnten. [3][Ein | |
Referendum im Jahr 2004] fragte die slowenische Bevölkerung, ob gelöschten | |
Personen ihre Rechte zurückgegeben werden sollten. 96 Prozent der | |
Wähler:innen stimmten mit Nein, nachdem eine Kampagne der damaligen | |
rechtskonservativen Opposition stark in diese Richtung gelenkt hatte. | |
Elvisa Osmanović erzählt, sie sei mit 25 Jahren am Darmleiden Morbus Crohn | |
erkrankt und ohne ordentliche Krankenversicherung nur mit finanzieller | |
Unterstützung ihres Vaters in bosnischen Krankenhäusern behandelt worden. | |
Nach einigen Jahren als ständige Gäste im kleinen Haus der Tante fand ihr | |
Ehemann Alaga einen Schmuggler, der ihn über die slowenische Grenze | |
brachte. Elvisa blieb monatelang mit drei kleinen Kindern alleine in | |
Bosnien zurück, bis auch sie es 2011 auf dem gleichen Weg wagte. Elf Jahre | |
nach der Auslöschung hatte es die ganze Familie endlich zurück nach | |
Ljubljana geschafft und beantragte Asyl. | |
Nach sechs Monaten Duldungsstatus, zwei Jahren Asylheim und | |
Gelegenheitsjobs auf dem Schrottplatz erlangten Elvisa und Alaga Osmanović | |
2014 mit der Hilfe von Anwalt Matevž Krivic ihren Status zurück. Für ihre | |
ältesten Söhne, die in Bosnien geboren sind, kämpft sie mit Krivic bis | |
heute für die gleichen Rechte. | |
## Zahlreiche „Einzelfälle“ | |
Auch beim letzten Gerichtstermin im August wurde die Aufenthaltserlaubnis | |
wieder nur auf zwei Jahre verlängert. So sei es für ihre Söhne auch schwer, | |
Arbeit zu finden. Elvisa selbst hat wegen der Auslöschung gerade einmal | |
sechs Jahre Schulbildung in Deutschland erhalten: „Ich bin jetzt nur | |
Mutter, dabei würde ich gerne etwas machen, was nicht zu Hause ist. Ich | |
würde gerne arbeiten. Ich habe einen Führerschein. Ich könnte ja auch | |
putzen.“ Beschäftigung, mal zu Hause rauskommen, darum geht es ihr. Derzeit | |
lebt die Familie von Alagas Gehalt und ein wenig Sozialhilfe. | |
Am meisten wünscht sich Osmanović, deren Leben selbst so aus den Fugen | |
geriet, den Status für ihre Kinder: „Es war grausam, was ich erlebt habe. | |
Ich wünsche meinen Kindern dieses ‚von Land zu Land, Stadt zu Stadt und | |
Schule zu Schule‘ nicht, sondern dass sie sicher an einem Ort aufwachsen | |
können.“ Durch die Auslöschung bleiben ihr immer noch viele Möglichkeiten | |
auf Bildung und Beschäftigung verwehrt, die kaum nachgeholt werden können. | |
Maja Ladić vom Peace Institute lässt auch der tragische Fall von Zoran | |
Tešanović nicht los: „Er hat 30 Jahre auf seinen Status gewartet und immer | |
gesagt, er müsse nur noch einen Winter überleben.“ Den Winter 2022 | |
überlebte er nicht. Zoran verbrannte in seinem Wohnwagen im Schlaf. „Seine | |
Umstände sind direkt mit der Auslöschung verbunden“, erklärt Ladić. Weil … | |
in Slowenien als illegaler Immigrant galt, konnte er nur Jobs in der | |
Schattenwirtschaft annehmen. | |
Seine Freunde brachten ihn erst 2015 in Kontakt mit dem Peace Institute, | |
das ihm helfen sollte, seinen Status wiederzuerlangen. Doch das Gesetz, das | |
diesen Prozess ermöglichte, war schon Jahre zuvor ausgelaufen. Über Umwege | |
dauerte das Verfahren nun mehr als sieben Jahre, die Tešanović letztlich | |
nicht überlebte. | |
## Spät und spärlich | |
Für die Auslöschung zahlt der slowenische Staat den Betroffenen eine | |
Entschädigung von 50 Euro für jeden Monat, in denen sie keinen Status | |
hatten. Das ist ein Fünftel dessen, was der ECHR in seinem Urteil als | |
Kompensation vorgeschlagen hatte. Viele der Izbrisani hatten während der | |
Jahre ohne Status kein Einkommen und haben wie Irfan Beširević sogar | |
Schulden angehäuft, um über die Runden zu kommen. „Die Entschädigung | |
spiegelt nur die Anzahl der Monate wider, für die der Status verloren | |
wurde, nicht das tatsächliche Leid“, fasst Ladić zusammen. | |
Sollte die Regierung ein neues Gesetz für die Izbrisani auf den Weg | |
bringen, würde auch die Diskussion über die Entschädigung wieder entfacht, | |
meint sie. Ein bei Parteien und Steuerzahler:innen höchst unpopuläres | |
Thema schon in wirtschaftlich starken Zeiten würde vor allem wenige Monate | |
nach dem [4][Hochwasser des Sommers 2023] mit dem Argument abgewehrt | |
werden, man brauche das Geld an anderer Stelle. | |
Auch Ratko Stojiljković kämpft seit Jahren für die Rechte der Izbrisani. Er | |
spricht schnell und mit einem Anliegen, als er im Restaurant seine | |
Familiengeschichte erzählt. Es ist Hochsaison, und die Hauptstadt ist | |
voller Tourist:innen, die auch einen Tisch mit Blick auf den Fluss | |
Ljubljanica suchen. Während die Menschen sich langsam durch die heiße | |
Innenstadt schlängeln, schauen und suchen, holt er etliche Bücher aus | |
seinem Rucksack. Alle sind von Izbrisani geschrieben; die Schicksale so | |
verschieden wie die Cover. Sein Fahrrad hat er am Flussgeländer | |
angeschlossen, die Räder voller Schlamm, denn er hat die Tage zuvor im | |
Flutgebiet geholfen. | |
Stojiljković bestellt eine Cola, fragt nach einem Aschenbecher und lehnt | |
sich zurück. Er nimmt sich Zeit für das Gespräch, aber morgen fährt er mit | |
seinem Fahrrad wieder durch den Schlamm, zu denen, die noch Hilfe brauchen. | |
„Wenn man eine Person löscht, dann auch die ganze Familie“, erzählt der | |
43-Jährige über die Auslöschung seines serbischen Vaters in den neunziger | |
Jahren. Als Ex-Angehörigem der jugoslawischen Armee wurde dessen Antrag auf | |
Staatsbürgerschaft trotz seiner slowenischen Ehefrau direkt abgelehnt. Er | |
wurde nach Serbien ausgewiesen. | |
## Diskriminiert als „Ćefur“ | |
Etwa ein Jahr später unternahm er den Versuch, nach Slowenien | |
zurückzukehren und den Status zu beantragen. Die Behörden behandelten den | |
Antrag, als hätte er nie zuvor hier gelebt und eine Familie gegründet; | |
sieben Jahre dauerte das Prozedere. Es stürzte die Familie in eine Spirale | |
der Unsicherheit und führte zu zahlreichen Zusammenstößen mit der Polizei | |
während Stojiljković’ Jugend. | |
„Ćefur“ sei er in der Schule genannt worden, eine äußerst herabwürdigen… | |
Beschimpfung für die Ausgelöschten. Sein Vater bekam Alkoholprobleme, | |
während er selbst immer schlechter in der Schule wurde, egal wie sehr er | |
sich anstrengte: „Weil mein Name serbisch war.“ | |
Da der Vater als Ausgelöschter nie die Pension der Armee bekam, übernahm | |
Ratko Stojiljković mit 14 Jahren Verantwortung und arbeitete als | |
Zeitungsausträger – „bis drei Uhr nachts und dann direkt in die Schule“. | |
Den Akt der Auslöschung beschreibt er als „politischen Genozid“. Er sagt, | |
er brauche kein Monument, wie es die Regierung in Ljubljana errichten | |
lassen will, vor allem wenn die Statusfrage der Izbrisani noch nicht für | |
alle gelöst sei. „Die Auslöschung hat mich verändert. Sobald wir wussten, | |
dass es andere wie uns gab, mussten wir uns gegenseitig helfen“, sagt | |
Stojiljković. | |
Er und Irfan Beširević kennen sich gut, sie halten gemeinsam Vorträge über | |
ihr Schicksal – auch vor Studierenden im Ausland. Während Beširević’ | |
Geschichte den Zuhörer:innen Tränen in die Augen treibe, stellt | |
Stojiljković Forderungen nach humanen Kompensationen für das Erlebte. Beide | |
setzen sich heute in Vollzeit für die Anliegen anderer Minderheiten ein und | |
reisen zu Protesten außerhalb Sloweniens, wenn dort für die Rechte von | |
Geflüchteten, LGBTQI+ und Roma auf die Straße gegangen wird. | |
## Ein neues Gesetz? Wahrscheinlich zu spät | |
Nachdem er 2003 mit 45 Jahren die slowenische Staatsbürgerschaft erhielt, | |
widmete er sein Leben dem Aktivismus. Er leitete jahrelang ein | |
Sozialzentrum im ehemaligen Kulturzentrum „Rok“, ein besetztes Haus auf der | |
früheren Militärbasis Metelkova mitten in Ljubljana. | |
Die derzeitige slowenische Präsidentin Nataša Pirc Musar hat versprochen, | |
sich während ihrer Amtszeit den Anliegen der Ausgelöschten zu widmen, und | |
dafür eine Beauftragte ernannt, um den schwarzen Fleck in der slowenischen | |
Geschichte endgültig zu beseitigen. Ähnlich dem deutschen Bundespräsidenten | |
hat jedoch auch die Staatspräsidentin Sloweniens hauptsächlich eine | |
zeremonielle Funktion und kann maximal Empfehlungen an die Regierung | |
aussprechen. Auf mehrmalige taz-Anfragen zum aktuellen Stand der Bemühungen | |
antwortete ihr Büro nicht. | |
Ob er sich an einem neuen und besseren Gesetz beteiligen wolle, sei er von | |
der derzeitigen Regierung gefragt worden, erzählt Matevž Krivic: „Es ist | |
fast zu spät. Die Menschen sind alt oder bereits verstorben und werden ihre | |
finanzielle Kompensation niemals ausgeben können.“ Tausende Betroffene, die | |
Slowenien in den frühen Neunzigern verließen, hätten ihr Leben inzwischen | |
neu ausgerichtet, sagt er. Die 14 slowenischen Regierungen seit 1991 haben | |
das Problem bis heute hauptsächlich ausgesessen und halten bei jedem Meter | |
nach vorne die Handbremse angezogen. | |
Izbrisani oder „gelöscht“ sind alle Betroffenen bis heute, sagt Maja Ladić | |
vom Peace Institute. Ihr Lebenslauf hat sich durch den Verlust ihrer | |
Identität radikal verändert. Wenn sich Grenzen verschieben, rutschen | |
Menschenrechte auf der Prioritätenliste nach unten. | |
8 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /30-Jahre-nach-dem-Balkankrieg/!5783509 | |
[2] https://www.derstandard.at/story/1267743627660/gesetz-fuer-ausgeloeschte | |
[3] https://www.dw.com/de/mehrheit-der-slowenen-stimmt-bei-referendum-gegen-ges… | |
[4] /Hochwasser-in-Slowenien/!5950052 | |
## AUTOREN | |
Clara Nack | |
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