# taz.de -- Roman „18 Kilometer bis Ljubljana“: Ordentlich, sauber und trist | |
> Der Roman von Goran Vojnović erzählt vom Leben in der postjugoslawischen | |
> Metropole Sloweniens. Das Land ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. | |
Bild: Trabantensiedlung in Ljubljana | |
Die Frage, wer dazugehört und wer nicht, ist keine deutsche Spezialität. | |
Janez oder Tschefur, echter Slowene oder Eingewanderter – auch [1][in der | |
nördlichsten und reichsten der ehemaligen Republiken des sozialistischen | |
Jugoslawiens sind Ausgrenzung, Stigmatisierung und Rassismus Teil des | |
Alltags.] | |
Analog zum deutschen „Michel“ werden die Slowenen ironisch-herablassend | |
„Janez“ genannt. Gemeint sind damit jene, die dem Bild entsprechen, das | |
Slowenien gerne selbst von sich hat: ordentlich, sauber, korrekt, | |
zurückhaltend, leise, fleißig. „Tschefur“ hingegen werden die | |
Arbeitsmigranten genannt, die aus den ärmeren Teilen Jugoslawiens ins | |
reichere Slowenien auswanderten. | |
Von diesem Milieu und davon, wie es ist, in ein Zuhause zurückzukehren, was | |
nie ein Zuhause war, handelt „18 Kilometer bis Ljubljana“. [2][Es ist der | |
neue Roman des slowenischen Filmemachers und Autors Goran Vojnović.] Im | |
Mittelpunkt steht Marko Đorđić, Kind von bosnisch-serbischen | |
Arbeitsmigranten in Ljubljana, genauer: Fužine. | |
## Ein Nichts und Niemand | |
Letzteres ist ein Stadtteil der slowenischen Hauptstadt, in dessen | |
Hochhäusern in der Zeit des Sozialismus vor allem Tschefuren wohnten. „Ich | |
bin ein Nichts und ein Niemand. Marko Đorđić. Zwei đ und ein weiches ć. Und | |
Punkt. Ist das klar?“, lässt Vojnović seinen Protagonisten gleich am Anfang | |
des Romans sagen. | |
Und damit sind die Parameter der Erzählung gelegt: Er handelt von der | |
Verlorenheit und Fremdheit von Menschen, die es nicht „geschafft“ haben, | |
[3][immer abhängig vom Wohlwollen anderer Leute und stigmatisiert,] nichts | |
Halbes und nichts Ganzes zu sein. Der Roman ist die Fortsetzung von | |
Vojnovićs Debüt „Tschefuren raus“. Auch in diesem stand Marko Đorđić im | |
Mittelpunkt, allerdings dessen Kindheit und Jugend. Im neuen Roman ist | |
Marko, der als Rausschmeißer im Club „Džungla“ gearbeitet hat, 27 Jahre u… | |
kehrt nach zehnjähriger Abwesenheit nach Fužine zurück. | |
## Facebook-Langeweile | |
Vojnović lässt seinen Antihelden nun davon berichten, wie sich dieses | |
einstige Arbeiterviertel für die Ausländer verändert hat. Im „Billigbau f�… | |
billige Leben“ füllten früher Kinder, Jugendliche, Kleinkriminelle und | |
Arbeiterfamilien die Gegend mit Leben und Graffiti. Heute herrscht dort nur | |
noch Langeweile, weil unter anderem das Beschwerdebuch nicht mehr der Lift | |
ist, den man mit seinen Hassbotschaften vollkritzelt, sondern Facebook. | |
Und, weil es irgendwann als cool galt, dort zu wohnen, was die Mieten in | |
die Höhe und die Ureinwohner anderswohin trieb. Vordergründig kommt Marko | |
zurück nach Fužine, weil sein Vater eine Krebs-OP vor sich hat. Der | |
eigentliche Grund aber ist, dass er aus Bosnien fliehen musste, weil er mit | |
der Frau eines einflussreichen Mafiosos im Bett war. | |
Marko trifft jetzt seine alten Freunde aus dem Viertel, von denen einige | |
Junkies, andere Wahhabiten wurden, wieder andere im Gefängnis leben, weil | |
sie dort nicht kochen und anderen den Arsch abwischen müssen, um Geld für | |
Essen und Miete zu verdienen. | |
Ausnahmslos alles rund um die Figuren des Romans ist trist, unglücklich, | |
kaputt. „Dreißig Jahre lang hat sich Radovan bemüht, in diesem beschissenen | |
Slowenien jemand und etwas zu werden. Und jetzt sitzt er da und wartet wie | |
der größte Looser“, beschreibt Marko seinen Vater, der keine Beziehungen | |
hat, weswegen er im Krankenhaus stundenlang auf einer Bank sitzen und | |
warten muss, bis ihn jemand untersucht. Ein Tschefur ohne Beziehung aber | |
gilt nicht als „richtiger“ Tschefur. | |
## Leitwährung Beziehungen | |
Nicht, wer einen normalen Job hat, sondern wer Beziehungen hat, hat es | |
geschafft, gilt als erfolgreich. Beziehung, das ist auf dem Balkan die | |
wichtigste Währung. Wegen Beziehungen muss Marko im Laufe seines | |
Aufenthalts einen Transporter über die Grenze schmuggeln, von dem er | |
glaubt, dass in seinem Kofferraum gefesselte Afghanen liegen. Und wegen | |
Beziehungen von anderen kann er bis auf Weiteres nicht mehr nach Bosnien | |
zurück. Sein bosnischer Freund Jovan informiert ihn, dass er warten muss, | |
bis die Regierung wechselt. | |
Der Mafiosi Spasić, mit dessen Frau Marko im Bett war, hatte nämlich | |
inzwischen seine Beziehungen spielen lassen und Markos Akte bei der Polizei | |
enthält nun neben Kleindelikten wie Einbrüche und Schlägereien auch noch | |
Verbrechen, die er nie begangen hat. | |
„Er konnte nichts tun“, sagt Marko seinem Informanten Jovan. „Er arbeitet | |
nur bei der Polizei, ihm gehörte die Polizei nicht, geschweige denn der | |
Staat. Der Staat gehörte einem Kumpel von Spasić.“ Allein diese herrlich | |
unverschnörkelte Ironie, mit der Vojnović schreibt und in der nichts als | |
die Wahrheit über die Lage des Rechtsstaats in den Folgerepubliken | |
Jugoslawiens steckt, macht die beschriebene Tristesse und Ausweglosigkeit | |
von Marko, seiner Familie und seinen ehemaligen Kumpels erträglich. | |
## Derbe Sprache | |
Vojnović beweist wie schon in seinem Romandebüt, dass er ein Meister darin | |
ist, dieses spezifische Milieu der Binnenmigranten mit seiner derben | |
Sprache, seinen sozialen Ängsten, Schrullen, Vorurteilen und | |
Perspektivlosigkeiten abzubilden. Das zu übersetzen, ist nicht leicht und | |
der legendäre Übersetzer Klaus Detlef Olov, hat diese Aufgabe großartig | |
besorgt. Slowenien ist Gastland der kommenden Frankfurter Buchmesse. | |
Die größten Momente des Romans folgen auch tatsächlich aus den rasanten | |
Dialogen, in denen junge Männer sich in Provokation, Beschimpfung und Fluch | |
überbieten und das mit der unterhaltsamsten Form der Intelligenz würzen: | |
der Smartness der Straße. Jener Intelligenz, die blitzgescheit und | |
wortgewandt jedes ernsthafte Argument, jeden seriösen Vorwurf zu entkräften | |
weiß. | |
## Erniedrigt, aber schlau | |
Diese aus der Erniedrigung gespeiste Schlauheit ist ständiger Begleiter im | |
Alltag, so wie es der Basketball ist. Warum die hitzigen Debatten unter den | |
Jungs so oft um Team und Trainer geführt werden, erläutert Marko wunderbar | |
so: „Dejan, Aco und ich waren Anzeigetafeln. Auch wir zählen nur unsere | |
Fehlschüsse und Treffer. […] Aber wenn wir keine Anzeigetafeln wären, | |
würden wir kapieren, dass unser Spiel im Arsch ist. Dass wir keine Chance | |
haben, zu gewinnen.“ | |
So straßensmart die Jungs sind, so selbstverständlich sind sie sexistisch. | |
Dank der Gnade ihrer späten Geburt – sie waren zu jung, um in den | |
Unabhängigkeitskrieg der 1990er Jahre involviert gewesen zu sein, – ist | |
ihnen zumindest der Totalausfall jeglicher Mitmenschlichkeit fremd. | |
In einer der stärksten Szenen beschreibt Vojnović eine Kneipenrunde, in der | |
ein Serbe in der Erinnerung an seine Vergewaltigung einer jungen Bosnierin | |
schwelgt. Marko verweigert dem Kriegsverbrecher irgendwann seine Rolle als | |
Zuhörer. Die Jungs sind zwar kaputt, aber so kaputt wie die Generation, die | |
im Krieg war, sind sie noch lange nicht. | |
Das Verhältnis zu Frauen ist bei Marko so neurotisch wie durchschnittlich | |
bei den meisten Männern mit Ego-Problem. Da sich Marko seiner selbst | |
unsicher ist und dazu auch wie sein Vater eher Mitläufer als Neinsager, | |
entflieht er romantischen Beziehungen, bevor es ernst wird – aus Angst, | |
dass es enden könnte. Als ihn Alma, seine Freundin in Bosnien als „Janez“ | |
und „echter Slowene“ beschimpft und verlässt, sinniert er: „Ich bin doch | |
immer das, was die anderen nicht sind. Ein Tschefur hier, ein Serbe dort. | |
Einmal ein Janez, das andere Mal ein Tschetnik, das dritte Mal ein | |
Fickschwanz für kleine Ausländerinnen.“ | |
Trotz der slowenischen Spezifik, schenkt uns Vojnović mit seinem neuen | |
Roman ein Sittengemälde, in dem die Folgen von Arbeitsmigration, | |
Gentrifizierung, Identitätschaos und Entfremdung weltweit einen neuen | |
Rahmen erhalten. Goran Vojnović schreibt damit, wie es immer so schön | |
heißt: Weltliteratur. | |
Allein Marko Đorđićs Selbstbeschreibung kann und sollte sich jede und jeder | |
in die Bio schreiben: „In Wirklichkeit bin ich auch nicht ich selbst. Ich | |
bin die gleiche Scheiße wie Dejan Mirtić, nur etwas schöner verpackt.“ | |
25 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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