| # taz.de -- Neuer Roman von Ana Marwan: Wie die Fäden eines Kokons | |
| > Das Schillern, bevor die Ich-Panzerung einsetzt. Ana Marwan hat einen | |
| > überzeugenden Coming-of-Age-Roman geschrieben: „Verpuppt“. | |
| Bild: Ironie und Sprachwitz. Ana Marwan | |
| Glücklich jene, die auf dem Weg zum Erwachsenenstatus nicht verrückt | |
| werden. Rückblickend wundert man sich ja doch, dass man durch diese | |
| Übergangsphase halbwegs heil durchgekommen ist – besteht sie doch aus weit | |
| mehr als Pickel, Stimmbruch, Brüsten. | |
| Es ist die Phase, in der Ich-Sagen zum ersten Mal existenzielle Bedeutung | |
| kriegt, weil man den richtigen Abzweig wählen soll, der nicht in die | |
| Sackgasse oder den Abgrund, sondern auf eine pittoreske Panoramastraße oder | |
| die Überholspur einer Autobahn führt. Doch woher soll man wissen, wer man | |
| ist, was man werden und wie das gehen soll? | |
| Ana Marwans Roman „Verpuppt“ handelt von dieser Phase. Der Buchtitel spielt | |
| auf den Kern der Erzählung an: der Prozess der Häutung, in dem sich die | |
| eher unansehnliche Puppe im Kokon befindet, bevor aus ihr ein Schmetterling | |
| wird. Im Zentrum von Marwans Erzählung steht Rita, eine Teenagerin, deren | |
| Mutter mutmaßlich von der blühenden Fantasie und dem eigenwilligen Wesen | |
| ihrer Tochter überfordert war und sie in die geschlossene Psychiatrie | |
| einweisen ließ. | |
| Als Rita den etwa 30 Jahre älteren Herrn Jež kennenlernt, meint sie, | |
| endlich einen Geistesverwandten gefunden zu haben: Herr Jež sei so wie sie | |
| eher eine Kutsche oder eine Eisenbahn und kein Flugzeug, wie ihre einzige | |
| Freundin Anja. | |
| ## Doppelmoral und Flachzangen | |
| Tatsächlich ist Herr Jež einer, der wie Rita mit seiner Mutter Probleme | |
| hat, der gern mit Sprache spielt, Bücher liest und die Doppelmoral und die | |
| intellektuelle Flachzangenhaftigkeit hinter den Gesten des Bürgertums | |
| durchschaut. Und er ist jemand, der Rita durchschaut. Jedenfalls glaubt das | |
| Rita. Dass Herr Jež der einzige ist, der versteht, was in ihr drinnen los | |
| ist, wahrscheinlich, weil bei ihm drinnen das gleiche los ist. | |
| Manifest wird diese Parallele darin, dass Herr Jež von Rita denkt, sie sei | |
| ein Same, von dem noch nicht klar ist, ob aus ihm eine Primel oder ein | |
| Veilchen wird. Und Rita denkt von sich, dass sie „ein Wesen ist, das sich | |
| im Kreis ihrer Metamorphose im Ruhestadium befindet“, sie sei noch „vor | |
| allen Eigenschaften, vor dem Charakter, die Puppe einer Fliege, der Same | |
| eines Veilchens“. | |
| Was cheesy und schlüpfrig klingt, ist von der Autorin beabsichtigtes | |
| Glatteis. Thematisiert wird das „letztes Tabu“: das ganz normale Verhältnis | |
| zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann. Zwar fragt sich der | |
| Herr Jež, wie er sich verhalten soll, als er Rita in seinem XL-T-Shirt auf | |
| seiner Couch mit gespreizten Beinen sitzen sieht. Aber noch bevor er | |
| entscheiden kann, was jetzt das Richtige ist, steht eine Bekannte im | |
| Türrahmen und verurteilt ihn, das junge Mädchen verführt zu haben. | |
| ## Leichtigkeit und Sprachwitz | |
| Die große Frage des Romans: Wer ist der Herr Jež? Gibt es ihn wirklich, | |
| oder hat sich Rita ihn nur ausgedacht? Ist der Herr Jež das Alter ego von | |
| Rita? Und wer ist überhaupt Rita? Heißt sie eigentlich Julia und sitzt gar | |
| nicht in der Psychiatrie, sondern arbeitet „im Ministerium“, Abteilung | |
| Raumfahrt? Ist der Roman das Ergebnis einer medizinischen Schreibtherapie? | |
| Oder die frivolen Tagebucheinträge eines überdurchschnittlich intelligenten | |
| Teenagers? | |
| Lange Zeit sind die Fäden des Romans so verworren wie die eines Kokons. Die | |
| fortlaufende Erzählung ist durch kursive Passagen mit unklarem Erzähler | |
| unterbrochen. Fast will man den Roman schon als anstrengend zur Seite | |
| legen, aber die Autorin Ana Marwan weiß genau, wie sie mit Erwartungen und | |
| Enttäuschungen spielt, und fängt mit Leichtigkeit, Ironie, und Sprachwitz | |
| die Aufmerksamkeit wieder ein, die sie gerade zu verspielen drohte. | |
| Mit ihren Kokonfäden, die sie um die Puppe Rita windet, bildet die | |
| slowenische Schriftstellerin den verworrenen Prozess des Ich- oder | |
| Überhaupt-wer-Werdens ab. Und das ziemlich eindrucksvoll. Sodass selbst in | |
| der Übersetzung von Klaus Detlef Olof dem Spaß am Jonglieren mit Wörtern | |
| kaum etwas verloren gegangen zu sein scheint. | |
| Jež bedeutet im Slowenischen übrigens Igel. Wenn der Igel Angst hat, rollt | |
| er sich bekanntlich ein und ist von außen nur als Bündel von Stacheln | |
| wahrzunehmen. Sein Inneres hält er bedeckt. So wie die meisten Menschen, | |
| die sich einen Panzer oder eine Schutzhülle umlegen, um von außen nichts an | |
| sich ranzulassen und ihr Inneres nicht preiszugeben. So einen Panzer hat | |
| Rita nicht. Und man kann Ana Marwans Roman so verstehen, dass das | |
| eigentlich ein Zustand ist, den man durchaus mal ausprobieren sollte. | |
| ## Gastland Slowenien | |
| Mit einem anderen Tier, das einen Panzer hat und mit seinem Äußeren spielt, | |
| um das Innere zu schützen, hat Ana Marwan im vergangenen Jahr den | |
| [1][Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewonnen:] „Wechselkröte“ hieß | |
| ihr Text, den sie auf Deutsch schrieb. Die in Ljubljana geborene | |
| Schriftstellerin lebt seit einiger Zeit in Österreich, wo sie kürzlich die | |
| Leitung der Zeitschrift Literatur und Kritik [2][von Karl-Markus Gauß | |
| übernommen] hat. Der nun erstmals auf Deutsch erschienene Roman „Verpuppt“ | |
| wurde 2021 in Slowenien zum Buch des Jahres gekürt. | |
| Im Oktober wird Slowenien Gastland der Frankfurter Buchmesse sein. Noch ist | |
| die slowenische Literatur für viele nur eine Puppe in der europäischen | |
| Romanlandschaft. Dass aus ihr aber keine Eintagsfliege wird, sondern ein | |
| Schmetterling, dafür stehen unter anderem die Texte von Ana Marwan. | |
| 5 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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