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# taz.de -- Bachmannpreis für Ana Marwan: Ist das noch zu fassen?
> 46. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Es ging um
> unwirkliche Welten. Ausgezeichnet wurde die Autorin der Erzählung
> „Wechselkröte“
Bild: Lesung mit Ana Marwan in Klagenfurt am Wörthersee für die Vergabe des 4…
So viel Merkwürdiges war selten beim Bachmannwettbewerb. Es begann damit,
dass sich nach den Eröffnungsreden das Buffet nicht leeren wollte. Waren
die Häppchen in den vergangenen Jahren, also vor den pandemiebedingten
digitalen Sonderausgaben, nach kurzer Zeit verputzt, gab es dieses Mal
schier unermesslichen Nachschub, der vom versammelten Literaturbetrieb auch
spät in der Nacht noch nicht bewältigt war.
Und das, obwohl der Andrang groß war. Bei den gut besuchten Veranstaltungen
fiel kaum auf, dass einige Medien nicht mehr in Klagenfurt vertreten waren.
Das hielt per Live-Übertragung zuschauende Kollegen allerdings nicht davon
ab, so anschaulich zu berichten, als hätten sie stundenlang vor der
Lesebühne gesessen. Was durchaus konsequent war, da alle Leute vor Ort
ebenfalls auf Bildschirme starrten.
Kurioserweise wurden nämlich Jury und Lesende räumlich getrennt. Das
Klagenfurter Tribunal, bekanntermaßen gefährlich und gefährdet, saß gut
geschützt im TV-Studio. Die Autorinnen und Autoren trugen ihre Texte auf
einer Outdoor-Bühne vor, die mit Sträuchern, Blumen und alten Büchern
ausstaffiert war und eine surreale Fernsehgarten-Atmosphäre vermittelte.
Wer draußen hockte, sah also die Jury auf riesigen TV-Screens, die
Kritikerinnen und Kritiker wiederum erlebten die Lesungen medial
vermittelt. Die Verantwortlichen der beteiligten Fernsehsender haben
offensichtlich Gefallen an [1][dem in Lockdown-Zeiten erprobten
Bachmannwettbewerb] als Schaltkonferenz gefunden. Aber nicht nur die
organisatorischen Neuerungen boten allerlei Skurriles. Auch die Texte, die
auf den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur präsentiert wurden,
handelten überwiegend von unheimlichen und verdrehten Welten.
## Ein Pommesverkäufer aus der Wildnis
Leon Engler, der von Bad-Guy-Juror Philipp Tingler nominiert wurde und der
in seiner Autorenvita angab, „Pommesverkäufer, Wildnisführer und Hotelier“
zu sein, ließ in seinem mit dem 3sat-Preis prämierten Beitrag einen
Schauspieler durch ein unwirkliches Deutschland fahren. Zu einem
„Nennen-wir-es mal-Schauspieljob“ nach „Nennen-wir-es-mal-Karlsruhe“.
Das Spiel mit dem Gefühl, in einer großen Simulation, in einer irren Welt
am Abgrund zu leben, wurde auch von dem Wiener Autor, Musiker und
Spoken-Word-Künstler Elias Hirschl aufgegriffen. Der erzählte in einer
plakativ-rasanten (aber etwas zu langen) Erzählung mit dem Titel
„Staublunge“ von einem Start-up-Gründer, dessen Vater vom Kohlenstaub
getötet wurde („Todesursache Wohnort“).
Und der nun – als habe er nichts gelernt – sich und seine kaputte Umwelt
mit einer schlimmen New-Economy-Optimierungslogik malträtiert. Die Fans
jubelten – nicht nur auf Twitter – und gaben ihm den Publikumspreis.
## Wilder Taunus
Den aber vielleicht besten Text in diesem Genre, das von (hyper)realen
Unheimlichkeiten handelt, lieferte der von Mara Delius eingeladene Autor
Juan S. Guse, der gerade im „Bereich der Organisationssoziologie zur formal
organisierten Auf- und Abwertung von Menschen“ promoviert. „Im Falle des
Druckabfalls“ heißt die Geschichte.
Hier sucht ein überfordertes Forscherteam in Hessen gerade erst entdeckte
Menschenwesen auf, die im wilden Taunus, haha, angeblich isoliert und
unbemerkt von der Zivilisation leben. Sie tragen keine Kleidung, aber
„etwas Helmartiges auf ihren Köpfen“. Und haben sich in ihrem
abgeschiedenen Kosmos den Frankfurter Flughafen nachgebaut.
Die verwirrte Expeditionsteilnehmerin Inès betritt das irreale und doch so
bekannte Gebiet, steigt in ein Flugzeug, „das einer 747 nachempfunden“ ist
und in dem es sogar echt-unechte Snacks gibt. „Noch nie hatte sie eine
solche Angst vor einer Stange Toblerone“, denkt Inès. Und der
eindrücklichste Schlusssatz des Wettbewerbs stand fest.
Angesichts so vieler Eigentümlichkeiten am Wörthersee erhielt der Autor
immerhin den Kelag-Preis, was wie ein rätselhaftes Happy End aus einem
Guse-Werk wirkte.
## Shahmani und Bulucz
Es gab auch andere literarische Tonfälle, eher ironiefreie und
melancholische Texte in Klagenfurt, die oft von Autorinnen und Autoren mit
Migrationserfahrungen vorgetragen wurden. „Er klopft an die Tür des Exils“,
heißt es in einem „Portrait des Verschwindens“, das der in Bagdad geborene
Schriftsteller Usama al Shahmani beim Bachmannwettbewerb vorstellte.
Der seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebende Autor erzählt von einer
Großmutter, die zwar Analphabetin war, ihren Enkeln aber spannende
Geschichten zu erzählen wusste. Die ruhige Prosa, die Elemente klassischer
arabischer Literaturtradition aufnimmt und doch einen eigenen Stil zeigt,
enthält berührend allegorische Szenen aus Kinderperspektive, die von großen
Verschiebungen und Verlustanzeigen in der irakischen Gesellschaft vor dem
verheerenden Krieg gegen den Iran erzählt.
Ein schwer zu fassendes, aber beeindruckendes Sprachkunstwerk stellte der
in Rumänien geborene und heute in Berlin lebende Dichter Alexandru Bulucz
vor. Sein Beitrag „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus
gesehen“ handelt von einem Protagonisten auf der Flucht, der in seiner
Halt- und Heimatlosigkeit um eine eigene Geschichtsschreibung ringt.
Die sprachliche Gestaltung ist, wie die Jury anmerkte, dabei schon der
Inhalt, wobei die Szenen und Bilder, die in dieser Suche nach der
verlorenen Zeit auftauchen sowohl erschreckend realistisch als auch
unfassbar grotesk sind. Menschen sterben, weil die Gasheizung einige
Landesgrenzen weiter östlich nicht ordentlich funktioniert. In dieser
Erinnerungswelt sind selbst die schönen Madeleines nur Schlachtabfall aus
Gänsefett.
Diese Erzählung ist ein literarisches Versprechen, aus dem gehörten
Ausschnitt könne ein Großwerk gelingen. Das reichte aus geheimnisvollen
Gründen dennoch nicht für den Hauptpreis, sondern nur den zweiten Platz und
damit den Deutschlandfunk-Preis.
## Marwans Wechselkröte
Die Geschichte der aus Slowenien stammenden und heute in Österreich lebende
Ana Marwan setzte eher auf minimalistische Sprache und eine überschaubare
Konstruktion. In „Wechselkröte“ beschreibt sie eine vereinsamte Frau auf
dem Lande, die auf den Briefträger wartet, weil der ihr neue Blusen bringt.
Ein Gärtner und ein Poolmann tauchen noch auf.
Irgendwann ist die Frau schwanger, während ein nicht näher beschriebener
Gatte durch Abwesenheit glänzt. Ein klassischer Bachmanntext mit schön
schwebenden Sätzen, der Tiermotive, Landschaftsbeschreibungen mit einer
weiblichen Identitätssuche kombiniert. Und da war sie, die überraschende
Siegerin, die Bachmannpreisträgerin 2022!
Bei diesem Wettbewerb konnte man sich [2][auch nicht auf die bekannten
Frontstellungen in der Jury verlassen]. Ausgerechnet Philipp Tingler,
dessen rüpelhaftes Auftreten zuletzt heftig kritisiert wurde, durchbrach
das befremdliche Jury-Wohlwollen bei den mittelmäßigeren Texten. Er bleib
weitgehend sachlich, betrieb Detailkritik, und wurde zur Überraschung der
Twitter-Blase dabei auch von Insa Wilke unterstützt.
## Auftritt Genschel
Die Jury-Präsidentin wiederum unterlief alle Erwartungen, indem sie die
Performerin Mara Genschel einlud: Die hatte sich einen
Schimanski-Schnurrbart auf die Oberlippe geklebt. Sie trug in einem bewusst
dilettierenden Gestus und betont peinlich amerikanisch-niederländischen
Akzent einen eher hilflosen Text über den missglückten Versuch vor, einen
Krimiplot fürs deutsche Fernsehen zu schreiben.
Der Auftritt ermüdete bald, sorgte aber noch für einen ziemlich verrückten
Disput mit Tingler. Der sprach wie alle in der Jury von einer Performance,
wurde aber von der Auftretenden wegen dieser angeblich falschen Einordnung
ihrer Showeinlage angegangen.
Dass Genschel dem Juror zudem den Mittelfinger zeigte, komplettierte den
auf Provokation angelegten Auftritt, der sich auf fast schon konventionelle
Weise in die Liste ähnlicher Bachmannskandälchen eintrug.
So viel Normalität war letzten Endes auch wieder beruhigend, ansonsten
hätte man diese Ausgabe des Klagenfurter Literaturwettstreits gänzlich für
eine Simulation halten können.
26 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Carsten Otte
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