# taz.de -- Literatur im Schulunterricht: Mehr Begeisterung, bitte! | |
> Literatur-Lektüre weckt selten Euphorie. Warum ist das so? Und kann man | |
> das ändern? Anmerkungen zu den Ferien, wenn Lesen wieder selbstbestimmt | |
> ist. | |
Eine frustrierende Schullektüre: „‚Emilia Galotti‘ war das absolute Low. | |
Das ist nicht lustig, es ist nicht klug, es ist nicht sprachlich spannend. | |
Es ist, was man seinen Schülerinnen und Schülern gerade mal so zutraut.“ | |
Das sagt [1][Dana Vowinckel], die beim letztjährigen Bachmannwettbewerb den | |
Deutschlandfunkpreis gewann. | |
Für die Schriftstellerin [2][Shida Bazyar] („Nachts ist es leise in | |
Teheran“; „Drei Kameradinnen“) war es „Homo faber“ von Max Frisch: �… | |
liebe Max Frisch, ich habe ihn auch zur Schulzeit geliebt, aber mit diesem | |
Buch konnte ich trotzdem so rein gar nichts anfangen. Es war für mich | |
nichts anderes als eine einzige uninteressante, verstaubte Männlichkeit und | |
ich habe nicht eine Seite lang verstanden, warum ich das lesen soll.“ | |
Für den österreichischen Schriftsteller [3][Reinhard Kaiser-Mühlecker] | |
(„Enteignung“; „Wilderer“) war „von all den frustrierenden Lektüren … | |
frustrierendste: Goethes ‚Faust‘. Sinnlos, das Fünfzehnjährigen zu lesen … | |
geben“. | |
Nun haben diese drei trotzdem zur Literatur gefunden, sogar in einer | |
extremen Form: Sie schreiben selbst welche. Und ihre Schulzeit war nicht | |
nur von widerwilligem Lesen geprägt: Dana Vowinckel hat unter der Schulbank | |
gelesen, für Shida Bazyar war es ein Highlight, einmal die Woche in die | |
Stadtbibliothek zu gehen, Reinhard Kaiser-Mühlecker liebte es im | |
Lateinunterricht Ovid, Vergil und Horaz zu übersetzen. Und doch ist | |
Frustration und Widerwille das, was den meisten Menschen einfällt, wenn man | |
sie auf ihre Schullektüre anspricht. Weit seltener sind | |
Begeisterungsbekundungen und Jubelstürme. | |
## Ein Unterricht, der das Gegenteil des Gewünschten bewirkt | |
Dieses Frustrationsfazit bezüglich Schullektüren steht im starken Kontrast | |
zu der Hoffnung, die man eigentlich in den Deutschunterricht setzt. In | |
einer Zeit, in der es immer weniger selbstverständlich ist, Bücher zu | |
lesen, einhergehend mit einem Unbehagen an diesem Kulturwandel, wird an den | |
Schulunterricht die Erwartung herangetragen gegenzusteuern. | |
Deutschunterricht soll an das Lesen heranführen, von Büchern begeistern und | |
die Lektüre zum festen Teil des Lebens machen. | |
Jedoch hat Schullektüre mitunter den gegenteiligen Effekt, wie es etwa für | |
die Schriftstellerin [4][Isabelle Lehn] („Binde zwei Vögel zusammen“; | |
„Frühlingserwachen“) der Fall war: „Die Schullektüre hat mich eher daran | |
zweifeln lassen, dass Literatur etwas mit meinem Leben zu tun hat. Eher hat | |
sie mir ein abschreckendes Bild von,Literatur' vermittelt, von dem ich | |
dachte, dass es wenig mit meinen Erfahrungen, meiner Perspektive und meiner | |
Sprache zu tun hat. Bücher, die mich verändert, getröstet, begeistert, | |
bewegt und zum Nachdenken gebracht haben, kamen erst später.“ | |
Niemand erwartet vom Mathematikunterricht, dass er so von den Zahlen | |
begeistert, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit Gleichungen | |
lösen. Auch wenn mancher mangelnde naturwissenschaftliche Bildung | |
bemängelt, ist doch nicht die Erwartung, durch MINT-Unterricht lauter | |
Hobbychemiker und Freizeitphysikerinnen heranzuzüchten. Beim | |
Deutschunterricht ist die implizite Erwartung größer: Schülerinnen und | |
Schüler sollen nicht nur dazu gebracht werden, korrekt und verstehend zu | |
lesen, sondern sogar dazu, es über die Unterrichtspflichten hinaus gerne | |
und freiwillig zu tun. | |
Natürlich besteht diese hohe Erwartung nicht ohne Grund: Viel mehr Menschen | |
haben Bücherlesen als Hobby denn Stochastik und Wärmelehre. In Büchern | |
steckt Leben, Weisheit und nicht zuletzt Witz und Unterhaltung. Trotzdem | |
kann die Art, wie Literatur in der Schule vermittelt wird, nämlich vom | |
Lehrplan erzwungen und mit Prüfungen bewehrt, diesen Vorzug verspielen. | |
Eine potenzielle Freizeitbeschäftigung verliert ihren Charakter als | |
Freizeitbeschäftigung, wenn man dazu gezwungen wird. | |
So sagt etwa Reinhard Kaiser-Mühlecker über die Wirkung von Schullektüre | |
auf ihn: „Ich habe immer verstanden, dass man in der Schule gewisse Dinge | |
tun muss, aber als es ums Lesen ging, hatte ich kein Verständnis dafür. | |
Wenn gesagt wurde, man müsse bis zum nächsten Tag irgendetwas rechnen, war | |
das in Ordnung, eine Aufgabe, aber Lesen, das war doch etwas | |
Höchstpersönliches, Intimes, das keinen etwas anging, ob ich es tat oder | |
nicht? Das konnte, durfte einem doch nicht aufgetragen werden? Da verging | |
mir die Lust am Lesen.“ | |
## Lobhudelei? Bloß nicht! | |
Aber nicht bloß der Zwang zum Lesen kann die Lust am Lesen vermiesen, auch | |
jede andere Lobhudelei, die das Lesen von Büchern gemeinhin erfährt, kann | |
die Motivation zerstören, aus eigenem Antrieb zu lesen. [5][Dana von | |
Suffrin], Autorin des vielfach preisgekrönten Romans „Otto“, berichtet vom | |
vergeblichen elterlichen Streben, dem Kind durch Argumente und Pathos die | |
Bücher näherzubringen: „Ich erinnere mich noch an die lustigen Elternsätze: | |
Ein Buch ist ein Wunder! Lesen ist gut für deine Fantasie! Ehrlich gesagt: | |
Ich habe trotzdem 95 Prozent meiner sogenannten Jugend vor der Glotze | |
verbracht. Das Lesen habe ich später nachgeholt, aber dafür kannte ich | |
wirklich jede Folge von Arabella Kiesbauer und Vera am Mittag.“ | |
Zwei psychologische Phänomene kommen hier zum Tragen: Dissonanz und | |
Reaktanz. Dissonanz bezeichnet in der Psychologie ein unangenehmes Gefühl, | |
dass dadurch entsteht, dass man zwei Kognitionen hat, die miteinander | |
inhaltlich unvereinbar sind. Man bemüht sich dann darum diese Dissonanz | |
aufzulösen. Steht Lesen einem zunächst für Freiheit, Freiwilligkeit und | |
Individualität, wird man dann aber schulisch zum Lesen gewisser Bücher | |
gezwungen, muss dieser Widerspruch gelöst werden, etwa indem man die Lust | |
am Lesen aufgibt und es als lästige Pflicht wie die übrigen Hausaufgaben | |
betrachtet. | |
Reaktanz wiederum ließe sich in die Alltagssprache mit „Trotz“ übersetzen. | |
Man wird gezwungen, ein Buch zu lesen? Man sträubt sich. Eltern reden mit | |
Engelszungen auf einen ein, wie erhebend die hohe Literatur ist? Man dreht | |
den Fernseher noch ein bisschen lauter. An dieser Reaktanz gegen Literatur | |
ist besonders interessant, dass viele gute Literatur revolutionär, | |
rebellisch oder zumindest trotzig ist, dass sie also anschlussfähig wäre | |
für jene Affekte, die wohl in Pubertät und Adoleszenz besonders stark | |
ausgeprägt sind. | |
In einigen Fällen kann es dazu kommen, dass der jugendliche Wunsch nach | |
Individualität und Unabhängigkeit mit der Subversion und Widerständigkeit | |
guter Literatur zusammenfindet. So berichtet etwa [6][Roman Ehrlich] („Die | |
fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“; „Malé“) über seine Jug… | |
„Mir hat einmal der sehr viel ältere Bruder eines Schulfreunds das Buch,Der | |
Fänger im Roggen‘ von J. D. Salinger gegeben, mit dem Kommentar, das könnte | |
ein Einstieg sein für mich in die ‚richtige Literatur‘. Wir haben das zum | |
Glück nicht in der Schule behandelt. Durch den Bruder des Freundes wurde | |
das Buch von einer respektablen Instanz empfohlen. | |
Ich hätte wohl jedem Lehrer damals das Prädikat ‚richtige Literatur‘ sehr | |
übelgenommen oder es schlicht abgelehnt, mich mit dem, was da ‚richtig‘ | |
sein sollte, überhaupt zu befassen. Da der Schulfreundbruder aber einer | |
war, zu dem ich aufschaute, weil er cool war, war die,richtige Literatur' | |
plötzlich von einem Geheimnis umgeben, war eine Einladung in eine | |
Parallelwelt, die ich annehmen wollte.“ | |
Hier hat es funktioniert, weil Literatur freiwillig war, individuell und | |
erstrebenswert. Und da war die andere Person, zu der man aufschaute, die | |
einen nicht überzeugen wollte, aber deren Begeisterung ganz von selbst | |
überzeugte. | |
Auch im Leben von [7][Dmitrij Kapitelman] („Das Lächeln meines unsichtbaren | |
Vaters“; „Eine Formalie in Kiew“) gab es diese Schlüsselfigur, die ihre | |
Buchbegeisterung weitergab: „Ich war zwölf und wir lebten in einem | |
monströsen Leipziger Plattenbau voller grimmiger Leute und Nazis. Doch im | |
zweiten Stock wohnte eine wunderbare, warmherzige und so kluge Frau Namens | |
Gisela. Wie wir uns angefreundet haben, weiß ich leider nicht mehr. Aber | |
Gisela begann, mich mit Büchern aus ihrem Schrank zu versorgen. Stefan | |
Zweigs,Schachnovelle‘, der,Reigen' von Arthur Schnitzler. Bald kam ich | |
immer wieder und bat Gisela, ihr Schränkchen zu öffnen. Heute bin ich ihr | |
unendlich dankbar.“ Und auch das Rebellische fand Kapitelman so in der | |
Literatur: „Bald genug habe ich so gern gelesen, dass ich die Schule in der | |
Bibliothek schwänzte. Mir dabei ziemlich gewieft vorkommend, weil, wer | |
würde einen Schwänzer in die Bibliothek suchen? Niemand!“ | |
Aber die Rebellion kann auch mit kleiner Flamme brennen, gerade so, dass | |
man sich von all denen abzukapseln weiß, die einen mit Unverständnis, | |
Miesepetrigkeit oder Missionierungseifer das individuelle Erleben | |
zerstören würden. So hat [8][Anja Kampmann], („Wie hoch die Wasser | |
steigen“; „Der Hund ist immer hungrig“) als Schülerin gern gelesen, aber: | |
„Es gab nicht viele, mit denen ich darüber hätte sprechen können. Trotzdem | |
war das Lesen wie eine Insel und eine eigene Welt, in die ich mich | |
zurückziehen konnte.“ Auch so leise kann man sich behaupten. | |
## Begeisternder Lehrer | |
Die Schlüsselfiguren wiederum, die begeistert sind und ihre Begeisterung | |
weitergeben, müssen natürlich nicht die kluge Nachbarin im grimmigen | |
Plattenbau oder der coole Bruder eines Schulfreunds sein, natürlich können | |
auch Lehrerinnen und Lehrer Begeisterungsträger und Rollenmodell sein, so | |
etwa bei [9][Isabelle Lehn]: „Richtig begeistern konnte ich mich für | |
Shakespeare. Ich mochte seinen Humor, seine Sprachspiele, die,Puns‘. | |
Allerdings hatte ich auch einen tollen Englischlehrer, der uns seine | |
Verehrung für das elisabethanische Zeitalter und dessen Literatur | |
eindrücklich weitergegeben hat.“ | |
Auch bei Dana Vowinckel brauchte es den passionierten Pädagogen, um bei ihr | |
das Interesse für Max Frischs „Andorra“ zu wecken: „Das hat ein junger | |
Vertretungslehrer unterrichtet, danach habe ich,Montauk' gelesen und,Homo | |
Faber‘ und mit ihm darüber gesprochen, ich glaube, ich war ein bisschen | |
verliebt, aber vielleicht hat mir einfach mal jemand zugehört.“ | |
Umgekehrt ist es allzu häufig der Fall, dass im Lehrkörper keine | |
Begeisterung mehr zu finden ist, die weitergegeben werden könnte, wie es, | |
genauso wie viele andere, die Schweizer Autorin Julia Weber („Immer ist | |
alles schön“; „Die Vermengung“) erlebte: „Ich glaube, warum mir die B�… | |
die wir lasen in der Schule immer ein bisschen fremd geblieben sind, war, | |
weil die Lehrerinnen und Lehrer, die sie uns vermittelten, nicht so recht | |
überzeugt waren von ihrer Liste an Büchern. Wenn jemand kam und sagte, das | |
ist ein tolles Buch, ich liebe es, weil … Und lies es doch mal. Dann ist | |
das was anderes, als wenn jemand sagt, ‚Der Besuch der alten Dame‘ lesen | |
wir jetzt auch noch. Ist von Dürrenmatt. Von dem gibt es ein Bild, auf dem | |
hat er einen Papagei auf der Schulter. Und es ist wohl eine | |
Gesellschaftskritik.“ | |
Begeisterung ist also die Ressource, auf die es in der Leseförderung | |
ankommt. Nicht etwa die Begeisterung für ambitionierte Lehrpläne und | |
gewisse Vorschriften, nicht die Begeisterung für Hohelieder auf die | |
Literatur, nicht die Begeisterung für Untergangsszenarien der Lesekultur, | |
sondern einzig die vorgelebte Begeisterung für das Lesen an sich. „Kinder | |
tun nicht, was wir sagen; sie tun, was wir tun“, schreibt die Therapeutin | |
Philippa Perry über die Rolle der Eltern für ihre Kinder. Jugendliche und | |
junge Erwachsene eifern wiederum Vorbildern nach, die sie sich selbst aus | |
guten Gründen gewählt haben. Sofern sie ihnen begegnen. | |
Aber natürlich kann die Begeisterung auch von den Schülerinnen und Schülern | |
selbst kommen, die, auf welchen Wegen auch immer, auf die Literatur stoßen, | |
die ihnen etwas zu sagen hat, die Literatur, in der man die Festigung der | |
eigenen Individualität findet, die Herausforderung eingefahrener | |
Denkweisen, in der man schmerzhafte Gefühle in der Ästhetik der Sprache | |
aufgehoben fühlt, die Literatur, aus der man Empathie lernt, ebenso wie | |
Selbstbeobachtung. | |
Dies würde bedeuten, dass noch so großes Bemühen um die Aktualität, | |
Zugänglichkeit und Jugendgerechtigkeit von Lehrplänen vergebens ist, wenn | |
sie trotzdem so starr und raumgreifend sind, dass kein Raum bleibt für | |
Exploration und Experiment, kein Einfallswinkel für die begeisterten Funde | |
von Lehrkräften und Schülerschaft. Wenn man das Lesen fördern will, muss | |
man es befreien. | |
Leander Steinkopf, Jahrgang 1985, ist Schriftsteller, Essayist und | |
Psychologe. Zuletzt von ihm als Buch erschienen: „Kein Schöner Land: | |
Angriff der Acht auf die deutsche Gegenwart“ (zusammen mit Quynh Tran, | |
Simon Strauß, Katharina Herrmann, Lukas Haffert et al., München 2019) | |
10 Jul 2022 | |
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